Wen weder die Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) – Mitglieder sind neben Russland China, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan und Indien – noch die Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit (ODKB) – Mitglieder sind die der SOZ, mit Ausnahme Chinas und Indiens, dafür plus Armenien und Weißrussland – bislang davon überzeugen konnten, dass die Russische Föderation eine systematische Ostpolitik betreibt, den sollte der russisch-türkisch-iranische Gipfel, der vergangenen Monat in Sotschi stattgefunden hat, endgültig eines Besseren belehrt haben.
Ultimatives Anliegen dieser erstmals vor genau zehn Jahren von Sergei Lusjanin, dem damaligen Vizedirektor des Moskauer Fernost-Instituts (IDW) beschriebenen Politik ist die Schaffung alternativer – alternativ zum Westen – geopolitischer Realitäten im eurasischen Großraum.
Mindestens drei Ansätze lassen sich diesbezüglich ausmachen: ein eurasistischer, basierend auf Vorstellungen des legendären Nahost-Experten, Diplomaten und späteren russischen Ministerpräidenten Jewgeni Primakow, ein postbyzantinischer, wie er insbesondere vom außenpolitischen Berater der Regierung von Bergkarabach Ruben Sargarjan propagiert wird, sowie ein isolationistischer, umfassend begründet von Wadim Zymburski, der unter anderem am Moskauer Nordamerika-Institut (ISKRAN) wirkte.
Verweilen wir kurz bei den Eurasisten. Nicht nur, weil ihr Ansatz gegenwärtig die russische außen- und sicherheitspolitische Debatte dominiert, sondern auch außerhalb Russlands – von Astana über Ankara bis Seoul – zunehmend Verbreitung findet.
Eine beliebte Denkfigur der Primakow-Adepten ist die einer multipolaren Welt. Voraussetzung dafür: eine alternative eurasische Sicherheitsarchitektur, getragen von einem strategischen Dreieck Moskau-Teheran-Peking. Ein solches sei gegenwärtig im Entstehen begriffen (Natalja Jerjomina), was insbesondere in Ankara mit großem Interesse verfolgt werde.
Der Haken dabei: Russland und China sind alles andere als strategische Partner. Dafür ist die Sogwirkung, die von Pekings transkontinentalem Integrationsprojekt „Neue Seidenstraße“ ausgeht, einfach zu groß. Was Moskau bleibt, ist lediglich die Rolle eines „eurasischen Juniorpartners“. Sie optimal auszufüllen, dafür braucht es Verbündete. Eine Option: Indien und Japan, die wichtigsten regionalen Widersacher Chinas. Die unlängst erfolgte Aufnahme Indiens in die chinesisch dominierte SOZ war insofern eine Sternstunde der russischen Diplomatie. Auch die Verstetigung des sicherheitspolitischen Dialogs mit Tokio ist in diesem Kontext zumindest ein Achtungserfolg. Gleichwohl bleiben beide Länder eng mit Washington verbandelt, was die gemeinsame Suche nach Ansätzen für eine alternative Welt einigermaßen erschwert.
Vor diesem Hintergrund sowie mit Blick auf die syrischen Verhältnisse gewinnt in Moskau das Nachdenken über eine strategische Dreierkonstellation mit dem Iran und der Türkei tatsächlich an Bedeutung. Wobei eurasistische Ideen durchaus ein effektives weltanschauliches Bindemittel sein können. Warum?
Weil entgegen gängiger (westlicher) Vorstellung der Eurasismus keine krude Gedankenfestung faschistoider Großrussen ist, sondern ein heterodoxes Denkmodell, entstanden an Russlands Peripherie, in einem Raum „permanenter kultureller Überschreibungen, anationaler Identitätsfindung und gedanklichen Grenzgängertums“ (Igor Wischnjewjezki).
Mit anderen Worten: Eurasistisches Denken ist, wie Madhavan Palat formuliert, konsequent plurales, polyphones Denken: Es anerkennt progressive und konservative Ansätze, die Notwendigkeit einer Vielzahl von Modellen zwecks maximaler Annäherung an eine komplexe Realität. Ist quasi „integrativer Pluralismus“ (Sandra Mitchell) und eine andere, „evolutionäre“ Art des Philosophierens (Ed Gibney).
Für den internationalen Verkehr bedeutet dies vielfältige Möglichkeiten transkultureller Kommunikation. Insbesondere mit Staaten, in denen ähnliche weltanschauliche Ideen Platz greifen. Etwa der Türkei, wo sich neben Neoosmanismus und Panturkismus inzwischen auch Avrasyacilik (Eurasismus) als wichtiger nationaler Diskursrahmen etabliert hat.
Eurasistische Ansätze finden sich sowohl im Regierungslager (erinnern wir uns an die Vision einer Zentral- und Ostasien zusammenführenden „Eurasischen Union“ des ehemaligen Außenministers und AKP-Chefs Ahmet Davutoglu) als auch in linksnationalistischen Kreisen (etwa der Heimatland-Partei des Politmethusalems Dogu Perincek, wortgewaltiger Befürworter enger Beziehungen zwischen den turksprachigen Staaten Transkaukasiens und Zentralasiens). Sie haben Eingang gefunden in liberale Kreise, die ihr Land als Brücke zwischen Europa und Asien sehen. Und sie erregen die Gemüter diverser kemalistischer Kräfte, die nicht länger vom Westen, sondern einem „Großeurasischen Raum“ träumen, der China, Russland, die Türkei und den Iran umfasst.
Mehr als 40 Bücher haben türkische Autoren in den letzten Jahren dem Eurasismus gewidmet. Eurasien als Marke und Begriff ist allgegenwärtig: Ein 1979 erstmals auf der Istanbul-Brücke ausgetragener Marathon heißt inzwischen Avrasya Maratonu. Seit 2011 exisitiert in Trabzon eine private Avrasya Üniversitesi. 2016 wurde unter dem Bosporus der Avrasya Tüp Tüneli eröffnet. Es gibt eine eurasische Radiostation und einen eurasischen Schriftstellerverband. Und wer zählt noch die Bau- und Textilbetriebe, Hotels, Krankenhäuser und Forschungszentren, die „Eurasien“ in ihrem Namen tragen?
Das Anliegen des türkischen Eurasismus, urteilt US-Analyst Sener Akturk, sei, zwei ehemalige Imperien, das türkische und das russische, miteinander zu versöhnen, wobei antiwestliche Motive eine ganz wesentliche Rolle spielten. Letzlich gehe es darum, ein turk-slawisches Konglomerat zu schaffen, mit dessen Hilfe die globale Dominanz des Westens gebrochen werden solle … Ein sehr klassisches, verkürztes Eurasismus-Verständnis, das moderne Eurasisten insbesondere mit Blick auf den Iran zu überwinden versuchen.
Ohne die Islamische Republik, so Ismagil Gibadullin von der Kasaner Föderalen Universität, bleibe das eurasische Integrationsprojekt ein frommer Wunsch. Die iranische Zivilisation sei ein wichtiges eurasisches Segment, das in seiner Bedeutung dem slawischen und turkischen in Nichts nachstehe. Der gesamte eurasische Integrationsprozess hänge in hohem Maße davon ab, ob es Russland und dem Iran gelinge, mittel- und langfristig eine enge strategische Partnerschaft zu formen. Eine allzu enge Auslegung der eurasischen Idee könne sich dabei als hinderlich erweisen: Für Irans Nationalisten lauere hinter der klassischen eurasischen Idee einer turk-slawischen Symbiose Aniran, das mythische Land der Nicht-Iraner jenseits des Amurdaja, das spätestens mit Ferdosis‘ persischem Nationalepos Schahnameh zum ultimativen Feind Irans mutiert sei. Darüber hinaus sei das dem modernen Iranismus zugrundeliegende Prinzip „positiver Neutralität“ einer engen Partnerschaft zwischen Teheran und Moskau nicht wirklich förderlich. Die komplizierten Verhältnisse innerhalb der iranischen Führung samt permanenter Suche nach Kompromissen zwischen prowestlichen und antiwestlichen Kräften täten ein Übriges. Vom iranischen Islamismus ganz zu schweigen: Teherans Anspruch auf die Führerschaft in der schiitischen Welt beziehe sich auf ein geographisches und geopolitisches Areal, das mit dem eurasischen Raum in seiner klassischen Auslegung sehr wenig gemeinsam habe. Gleichwohl gebe es gerade im iranischen Islam eine Reihe proeurasischer Anknüpfungspunkte. Etwa im hochgradig synkretistischen Werk des Philosophen und Mystikers Suhrawardi. Sein imposanter Ost-West-Brückenschlag könne den laufenden eurasischen Diskurs merklich „internationalisieren“.
Die Schaffung neuer geokultureller Subräume, befördert durch Ereignisse wie den Krieg in Syrien, entspricht nicht nur den Interessen Russlands, sondern auch der Türkei und des Iran. Ein neuer Trilateralismus bricht sich Bahn, der die Verhandlungsposition aller Beteiligten vor allem gegenüber China verbessert. Denn nicht nur Moskau, sondern auch Ankara und Teheran können sich Pekings Integrationstsunami immer weniger entziehen
Jahrelang hatte Recep Tayyip Erdogan Pekings Politik gegenüber den moslemischen Uiguren im Westen Chinas als „Völkermord“ gegeißelt. Seit August ist Ruhe im Schiff, hat Ankara jeder prouigurischer Propaganda offiziell abgeschworen und als Zugabe die Ostturkestanische Islamische Bewegung, eine der wirkmächtigsten uigurischen separatistische Gruppierungen, als „Terrororganisation“ gebrandmarkt. Zu groß ist offenbar die Furcht des türkischen Präsidenten, sein Land könne aus Chinas neuer zentralasiatischer Einflusssphäre verdrängt werden.
Auch der Iran hängt inzwischen fest an Pekings Seidenstrassenhaken: Die zentralasiatische Binnenregion verfügt über drei Zugänge zum Weltmarkt: einen östlichen (über China), einen südlichen (über Iran) und einen westlichen (über Russland). Gute Beziehungen mit Teheran sichern Peking den Zugang zu und damit in bestimmtem Maße die Kontrolle auch über einen der nichtchinesischen Zugänge. Die Luft für Zentralasien wird dementsprechend dünner. Der Iran wird dafür unter anderem mit dringend benötigter Wehrtechnik abgefunden. Spannungsfrei ist das bilaterale Verhältnis jedoch keineswegs: Den Ausbau des einzigen iranischen Tiefseehafens Chabahar besorgen – Inder und Japaner.
In dieser Gesamtgemengelage dürfte auf Moskaus eurasischer To-do-Liste ganz oben stehen, die Türkei und den Iran schnellstmöglich in die SOZ zu schleusen und damit Pekings Druckpotential auf beide Staaten zu „sublimieren“, sowie mit Indien und Japan trilaterale Kooperationsformate auszuloten.