Koloniale Fantasien

Hefteditorial iz3w 375 (November/Dezember 2019)

Wäre der Brexit ein Plot für eine TV-Serie, man würde den DrehbuchautorInnen schlechtes Storytelling vorwerfen – zu viel Drama, zu unrealistisch. Ein elitärer Opportunist, der immer aussieht, als sei er gerade aus dem Bett gefallen, wird Premierminister. Er schert sich nicht um die Realität und suspendiert das Parlament. Bereits das Brexit-Referendum und die Wahl Donald Trumps haben die Koordinaten dessen, was politisch im Globalen Norden möglich ist, weit verschoben. Doch selbst nach diesen Maßstäben war der September ein außerordentlich verrückter Monat. Stets dachte man, noch absurder geht es nicht. Aber es ging.

Die Leittragenden dieser schmierigen Soap Opera sind vor allem all jene Menschen, die nicht als »English« gelten. Rassismus funktionierte in Großbritannien bis vor kurzem unterschwelliger als beispielweise in Deutschland, wo er schon lange offen gezeigt wird, bis hin zum Pogromversuch wie zum Beispiel in Rostock-Lichtenhagen. Doch seit dem Brexit ist die Zahl rassistischer Straftaten auch im Vereinigten Königreich massiv gestiegen. Der Brexit ist ein Katalysator für den latenten Rassismus der weißen Mehrheitsgesellschaft, der sich nun Bahn bricht.

Bezeichnend für die Brutalisierung von Politik und Gesellschaft in Großbritannien ist auch die Auseinandersetzung über Nordirland. An dessen Status hängt nun der gesamte Brexit-Deal: Eine EU-Außengrenze zwischen den beiden Irlands birgt die Gefahr, die Insel direkt in die gewaltvollen 1970er Jahre zurück zu katapultieren. Aus dem Paradebeispiel für die Befriedung eines inneren Konflikts zwischen zwei verfeindeten Bevölkerungsgruppen (ProtestantInnen versus KatholikInnen) könnte wieder ein neuer Bürgerkrieg in Europa entstehen. Diese Gefahr wird auf der größeren britischen Insel derzeit aber kaum ernst genommen. In gewisser Weise sehnt man sich dort sogar nach jener Zeit zurück. Denn Nordirland ist eines der letzten Überbleibsel des britischen Empires.

»Make Britain Great Again« war im Zuge des Brexits immer wieder zu hören. Was nach einer simplen Anlehnung an Trump klingt, ist sehr viel mehr: Der Slogan drückt die Nostalgie aus, mit der die britische Geschichte betrachtet wird, und weckt die Sehnsucht nach jenen Zeiten, als »Britannia« die halbe Welt regierte. Nicht jede/r Brexit-BefürworterIn ist offen rassistisch, aber fast alle können sich darauf einigen, dass Großbritannien seine angeblich verloren gegangene Souveränität zurückbekommen soll. Das ist nationalistisches Denken und gegen die EU gerichtet, insbesondere gegen die deutsche Dominanz.

Hinter dem Wunsch nach wiederhergestellter Souveränität steckt aber noch ein anderer Gedanke: In der EU ist Großbritannien bestenfalls Gleicher unter Gleichen, während es im Empire und auch im postkolonialen Commonwealth der Erste unter Gleichen war und ist. Seine koloniale Vergangenheit hat Großbritannien nie wirklich aufgearbeitet. Bis heute gibt es einen starken Unwillen in der weißen britischen Bevölkerung dagegen, den Rassismus auch als eine Folge kolonialer Herrschaft zu verstehen. Fragen nach der Kolonialvergangenheit werden oft als bloße ‚Migrationsfragen‘ diskutiert und dabei rassistisch gewendet. Im Geschichtsunterricht an den Schulen spielt das Empire kaum eine Rolle, von Kritik an seiner einst weltbeherrschenden Stellung ganz zu schweigen.

Es ist also kein Zufall, dass PolitikerInnen von Nigel Farage bis Theresa May den Brexit immer wieder in Bezug zum Commonwealth setzen können, ohne groß auf Kritik zu stoßen. May sprach davon, dass sich Großbritannien auf seine »einzigartigen globalen Beziehungen« besinnen könne und seine Rolle als »großartige globale Handelsnation« wiederentdecken solle. In den Verhandlungen mit der EU scheint immer wieder durch, wie diese Großartigkeit zurückerlangt werden soll: Großbritannien will Zugang zu Märkten zu seinen eigenen Bedingungen, ohne Rücksicht auf reziproke Abkommen. Das entspricht dem Wunsch, endlich wieder Empire sein zu dürfen. Zumindest in dem Rahmen, wie es 2019 als irgendwie akzeptabel angesehen werden kann.

Auf Twitter machte neulich ein Schild aus einer englischen Buchhandlung die Runde, auf dem in ebenso trockenem wie bitterem Humor zu lesen war: »Please note: The post-apocalyptical fiction section has been moved to Current Affairs«. In dieses Regal einsortieren könnte man auch die DVDs einer noch zu drehenden TV-Serie zum Brexit, die den treffenden Titel trägt: »Back to the Colonial Future«

die redaktion