Wenn ein Verkehrsmittel rollt, muss es auch punktgenau zum Halten gebracht werden können. Bei großen und schweren Fahrzeugen war das technisch schon immer eine Herausforderung gewesen. Für Eisenbahnzüge löste das Problem um 1900 der begabte Berliner Ingenieur und Unternehmer Georg Knorr mittels Erfindung eines Systems, das als „Knorr-Einkammerschnellbremse“ in die Technikgeschichte eingegangen ist. Ab 1905 bei den Güterzügen der deutschen Bahnen eingesetzt, wurden die Knorrschen Bremsen bald zum Standard bei allen europäischen Eisenbahnen. Seit 1904 war die Firma am Berliner Ostkreuz ansässig. Von ihrer wirtschaftlichen Stärke zeugt nicht zuletzt das unter Denkmalschutz stehende Werksgebäude an der Hirschberger Straße im Berliner Bezirk Lichtenberg. 1911 – im Todesjahr des Firmengründers – wurde die Knorr-Bremse GmbH in die Knorr-Bremse AG umgewandelt. Für die weitere Expansion des Unternehmens war frisches Kapital erforderlich.
Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich die AG zum größten europäischen Bremsenhersteller. Neben den vervollkommneten Bremssystemen für die Bahn wurden Druckluftbremssysteme für Nutzfahrzeuge entwickelt – Ende der 1930er Jahre fuhr der größte Teil der in Deutschland zugelassenen LKW-Flotte mit Knorr-Bremssystemen. Der Konzern hatte bis zu 20.000 Beschäftigte – und war bei den Arbeitern berüchtigt wegen seines gnadenlos durchgedrückten Akkordsystems: „In Lichtenberg, da steht’n Haus, / da schinden se dir die Knochen, / und wirste alt, denn fliegste raus, als hättste wat verbrochen.“ So beginnt das Lied von der „Knorr-Bremse“ aus dem Jahre 1926.
Nach 1945 erlebte der Konzern eine wechselvolle Geschichte. Der Firmenhauptsitz war jetzt in München. Mitte der 1980er Jahre schwer angeschlagen, durchlebte das Unternehmen diverse Rekonstruktionsmaßnahmen, Eigentümerwechsel, Umstrukturierungen und so weiter und so fort. Als entscheidend für die Zukunft des Konzerns erwiesen sich sicherlich zwei Faktoren: die Rückbesinnung auf das traditionelle Kerngeschäft – die Herstellung von Bremssystemen für Schienen- und Nutzfahrzeuge – und eine expansive Marktstrategie, die letztendlich dazu führte, dass „Knorr“ wenn nicht komplett so doch in entscheidenden Anteilen die Wettbewerber übernehmen konnte. Und wenn man sich die wichtigen Segmente auf dem Wege eines Joint Ventures sicherte, wie es 2007 mit dem russischen „KAMAZ“ realisiert wurde. „Knorr“ ist inzwischen Weltmarktführer.
Das macht sich auch in den Zahlen sichtbar. Lag der Umsatz für den Gesamtkonzern 1987 noch bei 311 Millionen Euro, stieg er bis 2005 auf 2,7 Milliarden Euro. Die Steigerung hält an: Der Geschäftsbericht 2015 – der für 2016 liegt noch nicht vor – weist einen Anstieg der Umsatzzahlen von 2014 von 4,241 Milliarden Euro auf 5,831 Milliarden aus. Natürlich hat das Folgen für die Gewinne. Der Jahresüberschuss wuchs im genannten Rechnungsjahr von 560,36 Millionen Euro auf 644,762 Millionen im Jahre 2015. Wo fließt das Geld hin? Hier lohnt sich ein Blick auf die Eigentümer.
Das operative Geschäft des Konzerns ist in zwei große Bereiche strukturiert: die Knorr Bremse Systeme für Schienenfahrzeuge GmbH und die Knorr Bremse Systeme für Nutzfahrzeuge GmbH. An ersterer GmbH hält die Knorr-Bremse AG 100 Prozent des Kapitals, an letzterer „nur“ 80 Prozent. Die anderen 20 Prozent fallen an die Robert Bosch GmbH. Die Knorr-Bremse AG ist nicht börsennotiert. 2015 wurden laut Geschäftsbericht 395,969 Millionen Euro Dividende ausgeschüttet. Davon gingen an die „anderen Gesellschafter“ – also die Anteilseigner der Robert Bosch GmbH – 83,968 Millionen Euro. Den „Rest“ von 312 Millionen Euro erhielten die Besitzer der Knorr Bremse AG, das ist die Familie Thiele. Die wird vertreten von Heinz Hermann Thiele (geboren 1941). Thiele war von 1987 bis 2007 Vorstandsvorsitzender des Konzerns und leitete dann bis März 2016 den Aufsichtsrat. Er ist inzwischen nur noch Ehrenvorsitzender… Unter seiner Ägide liefen die erwähnten Umstrukturierungen, aber auch ein rabiater Abbau von Arbeitnehmerrechten.
Es gibt allerdings zwei „gallische“ Dörfer im Konzern, in denen aktuell noch die gewerkschaftlich erkämpfte 35-Stunden-Woche gilt, die beiden Standorte der Knorr-Bremse PowerTech GmbH im bayerischen Holzkirchen und in Berlin-Tegel. Das Unternehmen produziert an fünf Standorten weltweit (die anderen befinden sich in Sydney/Australien, Mount Olive/USA und Wuxi/China) elektrische Energieversorgungssysteme für Bahnen und Industrieanlagen. Mit Wirkung zum 31. Dezember trat PowerTech jetzt aus dem tarifgebundenen Arbeitgeberverband der Metall- und Elektroindustrie Berlin-Brandenburg aus. Ab 1. April gilt an beiden deutschen Standorten die 42-Stunden-Woche, natürlich ohne Lohnausgleich. Die zahmen Proteste der IG Metall – „Die Knorr Bremse zeichnet sich selten durch einen sozialen Umgang mit ihren Beschäftigten aus, im Zweifel geht etwas mehr Profit immer vor.“ – konterte der Konzern mit dem Hinweis, dass es bei Knorr-Bremse seit 2006 keine Tarifbindung mehr gebe und die 42-Stunden-Woche für die rund 5000 Mitarbeiter in Deutschland üblich sei. Begleitet wird dieser Schritt übrigens von Produktionsverlagerungen ins Ausland. „Aufgrund von Kundenwünschen“, heißt es, wird die Herstellung von Drehschwingungsdämpfern für Dieselmotoren der Konzerntochter „Hasse & Wrede“ ins tschechische Liberec verlagert. Am Standort Berlin kostet das 125 Arbeitsplätze.
Der vom Berliner IG-Metall-Chef angekündigte „richtige Ärger“ dürfte sich in Grenzen halten. „Knorr“ arbeitet gern mit individuell „ausgehandelten“ Verträgen. Auch der politische Aufschrei von „richtig Rot“ bleibt bislang aus. Man ist froh, dass die Firma mit dann knapp 900 Arbeitsplätzen in Berlin bleibt (von derzeit 1040). Und das immer noch von den „Wende“-Auswirkungen gebeutelte Marzahn-Hellersdorf freut sich über die Produktionsverlagerung PowerTechs von Berlin-Tegel nach Marzahn.
Natürlich freut sich auch Heinz Hermann Thiele. „Der Unerbittliche“ nannte ihn einmal das manager magazin. 2015 rangierte Thiele noch in der Aufzählung von Forbes Magazine mit einem geschätzten Privatvermögen von 6,4 Milliarden US-Dollar auf Platz 220 der reichsten Menschen der Welt. Per 10. Januar 2017 – wenn man den Zahlen von Forbes trauen darf – verfügt er über 14,1 Milliarden Dollar und belegt Platz 82 auf der weltweiten Reichen-Liste.
Ein Ende dieses Aufstiegs ist schwerlich abzusehen. Wie gesagt, alles was sich bewegt, muss auch angehalten werden können. „Knorr Knorr Knorr / spuck dir in die Hände / Knorr Knorr Knorr / Der Chef braucht Dividende.“ Vom heutigen Management der „Knorr-Bremse“ wird das Lied genau so wenig gemocht wie von seinen Vorgängern in den 1920ern.