Gegen den Faschismus der Herzen

Im Zweiten Weltkrieg starben mehr als 5,5 Millionen deutsche Soldaten. Das sind 5,5 Millionen Wunden, die in die deutschen Familien gerissen wurden. Dazu kommen noch 1,2 Millionen zivile Opfer. Wie gedenkt man ihrer? Die Hilflosigkeit im Umgang mit diesen Toten durchzieht die Geschichte beider deutscher Staaten. Und heute? Mich erschüttern Gedenksteine, in Ostdeutschland zumeist nach 1990 gesetzt, mit der nur auf den ersten Blick dümmlich wirkenden Inschrift „Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft“, manchmal auch nur „Den Opfern. 1939-1945“. Das ist kein Irrsinn, da ist Methode drin, sagt Shakespeare. Von ihrem geschichtsverfälschenden Gift her ist diese Neue deutsche Gedenkkultur gefährlicher als die seinerzeit von links scharf attackierten Aufmärsche der Ritterkreuzträger in der alten Bundesrepublik. Da gaben sich die Nazis immerhin noch als Nazis zu erkennen. Das war eklig, aber offen. Heute werden die Toten gern zu einem schwer erträglichen Opferbrei zusammengerührt, der Mörder im gleichen Trauerakt wie ihrer Opfer gedacht. Charlotte Wiedemann brachte das am 3. Oktober in der taz auf den Punkt: „Alle sind Opfer, so wie die Mehrheit der heutigen Deutschen offenbar die eigenen Vorfahren für Opfer des Nationalsozialismus hält. Opfersein ist wirkmächtige rechte Identitätspolitik – sie rechtfertigt die eigene Verrohung, mehr noch: sie berechtigt dazu.“ Dann zitiert sie den von Volker Heins und Frank Wolff geprägten Begriff des „Faschismus der Herzen“. „Man wollte unsere Wurzeln roden, und mit der 1945 begonnenen Umerziehung hat man das auch fast geschafft“, erklärte Björn Höcke 2017 in Dresden und forderte eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“. Die halbe Bundesrepublik regte sich auf. Wer sich heute die Bierzeltreden von Politikern, die sich zum „demokratischen Spektrum“ zählen, genauer ansieht und dabei den Subtext nicht ausblendet, wird sich über diese Aufgeregtheiten nur wundern. Höckes Denke ist, natürlich feiner ziseliert, gesellschaftsfähig geworden.

Dagegen kann man starke Wortkeulen schwingen – und wird nichts erreichen. Wirksamer ist die Schärfung des Blicks zurück, die jede Generation für sich immer wieder vornehmen muss.

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Till Sailer hat das mit einem Buch über seinen Vater getan. Herbert Sailer, 1912 geboren, war ein begabter Dichter mit einer an der schwäbischen Dichterschule, aber auch an Rilke und George geschulten Sprache, die durchaus einen eigenen Ton zu entwickeln begann. Der kriegsversehrte Wehrmachtsleutnant fiel bei einem Volkssturm-Einsatz am 13. April 1945. Till Sailer war damals drei Jahre alt und dürfte kaum nachhaltigere eigene Erinnerungen an den Vater haben. Er selbst spricht aber von einer Jahrzehnte langen Entfremdung dem Vater gegenüber. Die hat mit dem Jahre später Erfahrenen zu tun: Herbert Sailer war nicht nur überzeugter Nationalsozialist, er gehörte der Reichsjugendführung an und war als Erzieher an Adolf-Hitler-Schulen eingesetzt. Die sollten als „Vorschulen“ für die NS-Ordensburgen dienen und waren reine NSDAP-Elitebildungseinrichtungen. In Bad Berka – dem Standort der AHS-Schule Weimar – vertrat er zeitweilig den Schulleiter. Herbert Sailer selbst schwankte: Einerseits mochte er die Arbeit mit jungen Leuten – seine eigene Ausbildung war reformpädagogisch geprägt gewesen –, andererseits gierte er nach Fronterlebnissen. „Es bleibt die Hoffnung, sich noch einmal als Soldat bewähren zu können“, schreibt er Ende 1941. Und vermerkt im Tagebuch am 15. Februar 1942 geradezu aufjubelnd „Wieder Soldat!“ Er wird an der Ostfront eingesetzt. Dem Sohn ist das ein zusätzlicher Schreibanlass: „Es ist ein grausiger Gedanke, dass in der gleichen Region wieder ‘dumpfer Donner von Geschützen’ erschallt.“ Das Zitat entnimmt er dem Gedicht des Vaters „Das Unkenlied von Seredina Buda“. Obwohl Herbert Sailer die schriftliche Selbstverständigung immer wieder suchte, hat er die Kriegserlebnisse nicht im Tagebuch festgehalten. Hier lässt der Sohn die Gedichte sprechen. So entsteht eine gleichsam tanzartige Annäherung, die Verstehen und Nähe sucht, aber immer wieder abgestoßen wird angesichts des fanatischen Nazitums des Vaters. Till Sailer war sich dieser Schwierigkeit beim Schreiben offensichtlich bewusst. Im Untertitel nennt er sein Buch, auch wenn es sich de facto um eine Biographie des Vaters handelt, mit großer Berechtigung „Eine Annäherung“. Genaugenommen sind es Annäherungsversuche. Er ordnet diese Versuche Jahresscheiben der väterlichen Biographie, auch der Familiengeschichte, zu. Zutiefst Persönliches, ja Intimes, wird nicht ausgespart. Manchmal scheint es, als sei die Sucht des Vaters nach Heldentum, das er zumindest in seinen Gedichten immer wieder mit dem Tod verbindet, auch die Flucht aus persönlichen Dilemmata. Hier scheint tief verinnerlichte NS-Ideologie auf. Man beschwört den Heldentod als „reinigendes“ Erlebnis und findet Vorbilder. Bei Hölderlin zum Beispiel („Der Tod fürs Vaterland“): „Und zähle nicht die Toten! Dir ist, / Liebes! nicht Einer zu viel gefallen.“ Wolf Biermann nannte das ein „scheußliches und schönes Gedicht“. Ihn störte „dieser Gestank der Begeisterung“. Das macht einem auch manche Gedichte Herbert Sailers schwer erträglich. Der Sohn hat eine gute Auswahl in den Anhang gestellt. Da ist das herzzerreißende „Die Witwe“ (1944): „Der Platz am Tisch ist leer, leer, leer. / Ach seht nur immer hin. / Rückt näher, näher um mich her, / da ich verlassen bin.“ Da ist aber auch der Durchhaltetext vom März 1945: „Die Pflicht zu stehn / und noch im Unterliegen / zu glauben, dass die / hellen Götter siegen. / Mehr braucht es nicht.“
Herbert Sailer führte seine Schüler in den Krieg. Er wollte mit diesen Kindern die amerikanischen Panzer in der Nähe des Hermsdorfer Kreuzes aufhalten. Die zogen am selben Tag in Jena ein. „Wenn ihr Tod“, schreibt Till Sailer und meint die deutschen Toten dieses Krieges, „irgendeinen Sinn haben kann, dann den, die Nachgeborenen vor jedem nationalistischen Wahn zu warnen.“

Till Sailer: Der Krieg meines Vaters. Eine Annäherung, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2023, 308 Seiten, 20,00 Euro.

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Eine Annäherung ganz anderer Art sind die Fotos, die Lorenz Kienzle im Auftrag des Historisch-Technischen Museums Peenemünde geschaffen hat. Sie sind Bestandteil der noch bis zum 31. März 2024 laufenden Sonderausstellung „Die Ruinen von Peenemünde“ und im gleichnamigen Begleitband zu finden. Kienzle dokumentiert eine Denkmal-Landschaft, „die ab 1936 aus dem Nichts entstand, als sehr typisch [wirkt] für den Nationalsozialismus und geradezu als eine brennglasartige Verdichtung dieser Gesellschaft“ (Einführung). Die Fotos sind natürlich Dokumentation der noch auffindbaren Artefakte des großen Mord-Laboratoriums, das Peemünde einmal war. Sie haben aber teilweise eine enorme bildästhetische Suggestivkraft, wie etwa das ganzseitig abgedruckte „Hochbunker des Typs ‘T 750’“. Die Herausgeber vermerken, dass beim Bau dieses Bunkers etwa 200 KZ-Häftlinge beteiligt waren, von denen viele starben. Damit seien die Bunkertrümmer ein „Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus“. Das ist sicher gut gemeint, greift aber entschieden zu kurz und ist in der Konsequenz ärgerlich. Es ist an der Zeit, mit aller Deutlichkeit zu sagen, dass der gesamte Inselbereich zwischen Zempin und dem Ruden ein einziges Flächendenkmal für die Opfer des Nationalsozialimus und des deutschen Weltmachtwahns ist. Und ein Mahnmal für die Entwicklung einer Waffe, die wohl entscheidend an der möglichen Selbstauslöschung der Menschheit beteiligt sein wird. Die Versuche, Peenemünde als „Wiege der Raumfahrt“ positiv umzuwerten, sind gescheitert. Natürlich ist das Areal mental hochgradig kontaminiert – und wird es wohl auch bleiben. Lorenz Kienzle deutet das an. Nach jahrelanger Arbeit vor Ort erklärt er: „Was in Peenemünde zur Zeit des Nationalsozialismus tatsächlich passiert ist, ist für mich immer noch nicht richtig zu fassen.“ Die Pläne, aus der riesigen Industrieruine des Sauerstoffwerkes ein Ferien- und Luxuswohnquartier zu machen, erfüllen schon mit Schaudern. Getoppt werden solche Überlegungen eigentlich nur noch von den architektonischen Visionen für den „Gesundheitspark Peenemünde-Karlshagen“, dessen Gebäude „in Abstimmung mit den Denkmalschutzbehörden die charakteristische Hufeisenform des früheren Lagers reproduzieren“ sollen. Hier schließt sich der Kreis. Björn Höckes „erinnerungspolitische Wende“ droht bauliche Gestalt anzunehmen.
Der Band aus dem Quintus-Verlag stürzt einen in tiefe Nachdenklichkeit.

Historisch-Technisches Museum Peenemünde / Lorenz Kienzle: Die Ruinen von Peenemünde. Vom Werden und Vergehen einer Rüstungslandschaft, Quintus-Verlag, Berlin 2023, 168 Seiten, 25,00 Euro.