Gewerkschaften, ArbeiterInnen und der Brexit – von Kim Moody und Sheila Cohen*
Am 23. Juni stimmten die Briten mit ca. 52 zu 48 Prozent dafür, die Europäische Union zu verlassen. Über Jahrzehnte hat Großbritannien sich unentschlossen am Rande der EU bewegt, wie ein Schwimmer, dem vor dem Sprung ins Wasser die Nerven flattern. Als Premier David Cameron das Referendum über die EU-Mitgliedschaft ansetzte, fanden viele politische KommentatorInnen diese Entscheidung bestenfalls rätselhaft. Jetzt, da die WählerInnen sich für den Brexit entschieden haben, haben viele diesen Schritt als Katastrophe verurteilt. Und das ist kein Wunder.
Am Tag nach der Abstimmung fiel das britische Pfund auf den niedrigsten Wechselkurs zum Dollar seit 1985. Die Aktienmärkte brachen ebenfalls ein, wobei einige der führenden Banken des Landes 30 Prozent an Wert verloren. Premierminister David Cameron trat zurück und bescherte seiner konservativen Partei eine Führungskrise. Die Labour Party, die ebenfalls einen Verbleib in der EU favorisierte, schuf sich ihre eigene Krise. Ihre eher neoliberal orientierten Parlamentsabgeordneten versuchten, den linken Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn abzusetzen, der nur neun Monate zuvor von zwei Dritteln der Mitglieder und mit Unterstützung der meisten Gewerkschaftsvorsitzenden gewählt worden war. In der britischen Gesellschaft treten jetzt tiefe politische Gräben zutage, die wenig mit den vorherigen Parteiloyalitäten zu tun haben. Die Frage der schottischen Unabhängigkeit wurde erneut aufgeworfen, weil die Schotten mit 62 Prozent für einen Verbleib in der EU gestimmt hatten. Obendrein sah das Vereinte Königreich einen scharfen Generationenkonflikt auftauchen, da die 18- bis 24-Jährigen zu 75 Prozent und die 25- bis 40-Jährigen mit 56 Prozent für die EU gestimmt hatten, während die Älteren für den Brexit waren.
Einwanderer als Sündenböcke
Die Einzelheiten der Abstimmung haben einen Abgrund politischer Differenzen zwischen der gebildeten Elite, die hauptsächlich in London ansässig ist, und den benachteiligten Gebieten in Mittel- und Nordengland aufgedeckt. In Letzteren haben überwiegend weiße WählerInnen aus der Arbeiterklasse für den Brexit gestimmt, um gegen eine politische Elite einschließlich vieler Labour-PolitikerInnen zu revoltieren, die die Anliegen dieser Klasse für Jahrzehnte ignoriert haben.
Viele dieser ArbeiterInnen haben den Verlust ihres Arbeitsplatzes und die Verwüstung ihrer Gemeinden erlebt, als die Industrie ging, die Reallöhne fielen und die Regierungen beider Parteien auf Austerität setzten. Der Brexit, so scheint es, ist ihre Rache. Das unmittelbare Ziel war für die meisten allerdings nicht so sehr die Austeritätspolitik und die PolitikerInnen, die sie durchgeführt haben, als vielmehr die EinwandererInnen, von denen sie glaubten, sie würden ihnen die Arbeit nehmen sowie Schulen und den National Health Service (die staatlich finanzierte Gesundheitsversorgung) überfluten.
Interviews in Fernsehen und Presse zeigten meist weiße Männer und Frauen aus der Arbeiterklasse, die die Einwanderung als Grund für ihre Zustimmung zu einem Austritt aus einer EU angaben, die für die Bewegungsfreiheit für ArbeiterInnen steht. Die Spaltung zeigte sich auch in Umfragen am Wahltag, bei denen 65 Prozent der AustrittsbefürworterInnen Einwanderung als »schlecht« für das Land bewerteten, während 62 Prozent derjenigen, die für den EU-Verbleib stimmten, Einwanderung als »gut« einschätzten. Umfragen einige Tage vor der Abstimmung zeigten, dass 53 Prozent derjenigen, die der Arbeiterklasse zugerechnet wurden, Einwanderung für »schlecht« hielten, während nur 34 Prozent der Mittel- und Oberklasse das gleiche sagten. Als Nachwirkung der Abstimmung nahm die Zahl dokumentierter Übergriffe auf Menschen, die für EinwandererInnen gehalten wurden, erheblich zu.
Damit soll nicht gesagt werden, dass alle Angehörigen der Arbeiterklasse, oder alle weißen ArbeiterInnen, für den Austritt stimmten – oder dass diejenigen, die das taten, die Mehrheit der Brexit-Stimmen lieferten. Eine andere Umfrage zeigte, dass nur 40 Prozent der AustrittsbefürworterInnen der Arbeiterklasse zugerechnet werden können. Viele junge ArbeiterInnen stimmten für den Verbleib. Einige große Städte mit hohem Arbeiteranteil wie Liverpool und Manchester stimmten für die EU. Ebenso die Mehrheit in Schottland und Nordirland. Zur Ironie des Ganzen gehört, dass die Stimmen für den Austritt oft dort am zahlreichsten waren, wo es nur wenige oder gar keine europäischen EinwandererInnen gibt.
Einwanderungsfeindliche Stimmungen sind nicht neu – und sind sicher nicht auf MigrantInnen aus der EU begrenzt. Tatsächlich übersteigt die Zahl der Nicht-EU-MigrantInnen diejenige der EuropäerInnen.
Die ultrarechte einwanderungsfeindliche United Kingdom Independence Party (UKIP) hat für einige Zeit Zuwächse in der Arbeiterklasse verzeichnen können, indem sie die wirtschaftlichen und sozialen Probleme Großbritanniens den MigrantInnen in die Schuhe schob. Jahrelang haben die Boulevardzeitungen täglich ebenfalls die MigrantInnen für jeden Rückschlag für die bedrängten britischen ArbeiterInnen verantwortlich gemacht. Es war UKIP, gemeinsam mit vielen »europaskeptischen« Konservativen, die die Forderung nach einem EU-Referendum zuerst auf die Tagesordnung setzte. Das Referendum selbst hat rassistische Stimmungen und Angriffe ausufern lassen.
Was ist mit den Gewerkschaften?
Die meisten Gewerkschaften mahnten ihre Mitglieder, für den EU-Verbleib zu stimmen, um Arbeiterrechte wie die Beschränkung der Arbeitszeit auf 48 Stunden pro Woche, die Gleichbehandlung von Vollzeit-, Teilzeit- und Leiharbeitsbeschäftigten, bezahlten Urlaub, bezahlte Mutter- und Vaterschaftszeiten zu sichern, die alle über EU-Verordnungen oder -Gesetze garantiert werden. Die Vorsitzenden der zehn größten britischen Gewerkschaften warnten in einem Offenen Brief: »Wenn Großbritannien die EU verlässt, haben wir keinen Zweifel, dass diese Schutzrechte großer Bedrohung ausgesetzt sind. Nach vielen Debatten und Abstimmungen sind wir der Auffassung, dass die sozialen und kulturellen Vorteile des Verbleibs in der EU die Vorteile des Austritts bei Weitem überwiegen.« Die Bedrohung bestehe darin, dass die konservative Regierung eine Beseitigung dieser und anderer Rechte anstreben werde, wenn die EU-Regelungen keine Gültigkeit mehr besäßen.
In welchem Ausmaß diese Gewerkschaftsvorsitzenden tatsächlich unter ihren Mitgliedern für den Verbleib warben, ist nicht klar, und die Gewerkschaften waren in der landesweiten Debatte nicht tonangebend. Die Diskussion in der Arbeiterbewegung war jedenfalls keine leichte. Drei Gewerkschaften, die üblicherweise der Linken zugerechnet werden, unterstützten den Brexit: zwei Eisenbahnerorganisationen und die Bäcker.
In ihrer gemeinsamen Stellungnahme hieß es: »Die EU ist gegen die ArbeiterInnen gerichtet und kann nicht reformiert werden. Wir unterstützen eine Stimme für den Austritt, weil wir der Meinung sind, dass die EU ganz überwiegend im Interesse der Großunternehmen und gegen die Interessen der ArbeiterInnen handelt.« Gleichzeitig wandten sie sich mit Blick auf die wachsende Flüchtlingskrise an den Außengrenzen der EU gegen die Idee einer »Festung Europa« und stellten fest: »Wir bedauern zutiefst, dass Kinder und Familien, die vor Armut, Verfolgung und Krieg fliehen, nicht nach Europa gelassen werden.«
Solche Äußerungen verfehlten leider die tatsächlichen Bedingungen der Diskussion und gingen in einer Flut ausländerfeindlicher Reaktionen unter. Nach der Abstimmung beklagte David Prentice von UNISON, der Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, dass »die Kampagne von Hass, Bösartigkeiten und Fehlinformationen gekennzeichnet war.«
Rechtes Momentum
Am Tag nach der Abstimmung verwies eine Stellungnahme von zwölf Gewerkschaftsvorsitzenden einschließlich zweier, die für den Brexit waren, auf die politische Krise und die Gefahr einer »stärker vom rechten Flügel geprägten Tory-Regierung«. Sie setzten ihre Hoffnungen auf die Labour-Party und argumentierten: »In Ermangelung einer Regierung, für die die Menschen an erster Stelle stehen, muss Labour sich wieder als Quell nationaler Einheit und Stabilität vereinen. Das Letzte, was Labour braucht, ist ein künstlicher Führungsstreit.«
Ihr Appell, den internen Kampf der Labour Party zu beenden, stieß allerdings auf taube Ohren, da eine Mehrheit der Labour-Abgeordneten die Absetzung von Corbyn betrieb. Diese Abgeordneten nutzten die Brexit-Abstimmung als Rechtfertigung für das, was sie von Anfang an geplant hatten – Corbyn als Parteivorsitzenden zu entfernen –, und behaupteten, er habe nicht entschieden genug für einen anderen Ausgang der Abstimmung gekämpft. Dass dies eine vorgeschobene Begründung ist, lässt sich daran erkennen, dass nur 19 Prozent der Brexit-BefürworterInnen sich laut einer Umfrage als Labour-WählerInnen bezeichneten. Die übergroße Mehrheit bildeten Konservative und UKIP-AnhängerInnen. Dieser Führungsstreit wird sich vermutlich noch eine Weile hinziehen.
Die Brexit-Abstimmung hat die ohnehin aufstrebenden rechten Nationalisten und neofaschistischen Anti-Einwanderungs-Parteien in Kontinentaleuropa gestärkt. Wie UKIP in Großbritannien ziehen diese Parteien wütende Angehörige der Arbeiterklasse auf migrationsfeindlicher Basis an. Große Rechtsaußenparteien in Frankreich, Italien und den Niederlanden verlangen nach ähnlichen Abstimmungen.
Bei dieser schnellen Abfolge der Ereignisse und den Spaltungen, die in Großbritannien – und eben innerhalb der Arbeiterklasse – zutage treten, ist es schwer zu erkennen, in welche Richtung die Dinge sich entwickeln. Klar scheint allerdings, dass die nahe Zukunft düster aussieht, solange die Gewerkschaften ihre Mitglieder nicht zu Aktionen gegen die Aushöhlung der Arbeiterrechte, die bereits jetzt den Kern der konservativen Regierungsagenda bildet, und zur Verteidigung der Rechte von MigrantInnen mobilisieren.
* Sheila Cohen und Kim Moody sind Mitglieder der National Union of Journalists in Großbritannien. Kim Moody ist US-Amerikaner und war von 1979 bis 2001 Mitglied der Redaktion der Labor Notes in Detroit.
Quelle: »Political Crisis and Anti-Immigrant Assaults Follow Britain‘s Vote to Leave the European Union«, Beitrag vom 30. Juni 2016, online unter: http://www.labornotes.org