Realistisch gesehen gibt es keine Chance für eine nachhaltige Entwicklung
Man muss – nach jahrzehntelangen frustrierenden Erfahrungen – das globale ökologische Versagen wohl auch einmal akzeptieren lernen, statt weiter leeren Hoffnungen nachzuhängen und (vermutlich) christlich kulturgeprägt doch noch an einen Ausweg aus der Öko-Krise zu glauben.
Bei den erwähnten, leeren Hoffnungen, an die sich Menschen oft krallen, übersieht man möglicherweise auch neue und härtere Bedrohungen für das humanistische Verständnis, um das es ja in den Öko-Hoffnungen geht: dass der große, kleine Planet für alle tragfähig bleibt.
Manche (wenige) kritische Ökonomen und einige andere Sozial- wie auch Naturwissenschaftler suchen seit vielen Jahren nach Möglichkeiten und Lösungen, Nachhaltigkeit in diese von ungerecht verteilter Verschwendung überlastete Welt zu bringen (z.B. Welzer/Wigandt). Währenddessen ist der Begriff „Nachhaltigkeit“ längst schon kommerziell vereinnahmt worden. Tragfähige, saubere Lösungen werden hingegen immer unwahrscheinlicher, trotzdem haben die meisten kritischen Köpfe ihre Suche noch nicht aufgegeben. Das Prinzip Hoffnung scheint anthropologisch beim Menschen bis zum Letzten zu gehen, und damit bleibt es bei den kritischen, nachhaltigkeitsorientierten Wissenschaftlern sozusagen auch lebenslang aufrecht.
Jedoch: die ökologischen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, psychischen und kulturellen Entwicklungsgänge sind inzwischen so verfahren und verstellt, dass auch mit viel Optimismus menschenwürdige Lösungen, Lösungen zum gesellschaftspolitisch und ökologisch Sinnvollen, zum Guten, unendlich weit entfernt und von der global dominanten kulturellen Struktur umfassend verstellt scheinen.
Im Folgenden sollen einige der heftigeren Sperren von gesellschaftlicher Veränderung skizziert, zuvor jedoch ein Blick auf Begrenzungen geworfen werden, die uns die Natur des Planeten Erde vorgibt.
Ökologische Krise
Wir sind heute nahe am ökologischen Notfallpunkt angelangt (Emmott). Ausgeprägte Suffizienz, also Konsumverzicht wäre in den westlichen Gesellschaften notwendig – tatsächlich findet das Gegenteil statt: trotz mehrjähriger Weltfinanzkrise gab es keine Entlastungen im Ressourcenverbrauch (Emmot; Randers). Mehr Wachstum bleibt auch das Dogma, das Konservative ebenso wie Linke und Grüne stetig wiederholen, so als hätte ein Gedanken-Virus Politiker und Ökonomen jedweder Richtung nachhaltig und unrettbar infiziert.
Es gibt heute keine relevanten gesellschaftlichen Akteure, die eine ökologisch tragfähige Lösung vertreten und eine Menschen selbstermächtigende politische Bildung vorantreiben würden (Kollmann 2012). Die herrschenden politischen Eliten, auch die NGOs, sind zu sehr in der postdemokratischen Struktur des Machterhalts und der Selbstreproduktion im System beschäftigt, um über Alibiaktionen hinaus wirksam in die Wirklichkeit einzugreifen oder ein breites klimapolitisches Anders-Handeln zu fördern.
Natürlich gibt es inzwischen einige ordnungspolitisch durchgesetzte Lösungen, wie etwa das Glühlampenverbot, die Effizienzsteigerung bei Haushaltsgeräten, ein umfassendes Mittun der Bevölkerung bei der Recyclingarbeit, die bekannten Appelle zum Abschalten der Standby-Funktionen und eine umfassende Förderung alternativer Energieproduktion. Aus etwas Distanz besehen sind das allerdings nur Alibi-Aktivitäten, auch die sogenannte „deutsche Energiewende“ bleibt hier eine ziemlich begrenzte, schmalflächige Angelegenheit.
In den Medien und in der großen Politik, seien es die UNO-Gipfelkonferenzen, die EU-Politiksprache oder die nationalen Politikdarstellungen, ist Klimapolitik und insbesondere der Begriff „Nachhaltigkeit“ auf der Agenda; Nachhaltigkeit ist in den letzten Jahren überhaupt zum Kassenschlager der PR-Abteilungen und PR-Agenturen geworden. Ebenso wie Umweltschutz und die Klimafrage in den Einstellungen der Menschen eine durchaus relevante Rolle spielen: die große Mehrheit ist ökoorientiert und klimaverständig, sie macht sich gedanklich durchaus Umweltsorgen. Trotz politischer Rhetorik und umweltfreundlicher Einstellungen der Menschen verändert sich jedoch sehr wenig, von den vorhin erwähnten alibihaften Verzierungen einmal abgesehen.
Dysfunktionalität der Politik
Politik ist heute – gerade auch im Westen – ein selbstreferenzielles System der politischen Eliten und der kapitalistischen Wirtschaft. Die repräsentative Demokratie funktioniert so nicht mehr (Koschnik). Die Verkopplung von politischen und wirtschaftlichen Interessen in einem durch Massenmedien eingerahmten postdemokratischen System (Crouch) ersetzt die verlorene langfristige Perspektive durch Worthülsen und Partikularinteressen, die als allgemeingültig, jedenfalls als legitim angesehen werden.
Sowohl das Rekrutierungssystem der Politik wie auch die Alltagspraxis politischer Auseinandersetzungen (Kollmann 2010 S. 79ff) nivellieren kritische Horizonte hin auf einen pragmatischen „common sense“-Alltag, auf Einfügung in die gegebenen Rahmen. Kritisches Denken wird langsam weggeschliffen. Und außerhalb des Mainstreams tobt derweilen der Kampf von Minderheiten gegen andere Minderheiten, als wäre das ein unabänderliches Schicksal von Außenseitern. (Hingst)
Für die überwiegende Mehrheit in Mitteleuropa ist das Misstrauen gegenüber den politischen Eliten inzwischen eine sozusagen „natürliche“ Einstellung geworden. Diese Aversion wird heute bereits deutlich im Alltag spürbar, im Small Talk, in beiläufigen Gesprächen, auch in Leserbriefen und natürlich in den elektronisch virtuell und scheinbar abgeschirmten Postings und Blogs.
Selbst der ehem. Chef der Eurogruppe, Jean-Claude Juncker, beschrieb in einem raren Moment einmal recht freimütig das Politikverständnis der Eurokraten und generell der Delegierten der repräsentativen Demokratie: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.“ (Ley)
Die nationalstaatlichen Linken (Mehrzahl) zeigen sich zu einer – selbst systemimmanenten – Kritik an den europäischen Zentralinstitutionen unfähig, unwillig oder zu dumm und schalten hier unbesehen mit den Konservativen (und den Industrieinteressen) gleich: Wer dieses Europa kritisiert, ist ein Antieuropäer, eine Art nationalstaatlicher Faschist. So, als wäre diese EU-Europaidee in Anbetracht der menschengemachten und institutionellen Veränderungen auf diesem Planeten langfristig von höchstem essenziellen Belang. Wie jedoch die gegenwärtigen realen Verhältnisse aussehen, das belegen seit mehr als einem dutzend Jahren der NSA-Abhörskandal, die Auslieferung der Daten (Flug, Bank etc.) der europäischen Bürger durch die EU und ihre Unwilligkeit, europäische Bürger zu schützen, sowie die Bemühungen der EU-Kommission, mit Kürzeln wie GATT, MAI, ACTA und TTIP sich selbst zu feiern.
Die Parteien bilden ein intransparentes Machtsystem und einen fügsamen Nachwuchs aus. Wer sich missliebig macht, weil er oder sie „zu kompliziert“ ist, zu viele Fragen stellt oder hartnäckig abweichende Meinungen vertritt, wird gruppendynamisch an den Rand gedrängt oder fliegt raus. Es wird einfach nur die simple Sozialpsychologie des Alltags reproduziert. Das kann allerdings ziemlich schnell tödlich werden, wie das Milgram-Experiment und ähnliche Versuche gezeigt haben. Alltags-Faschismus, Stalinismus und autoritäre Systemformen stecken nach wie vor in den Gesellschaftsstrukturen drinnen.
Kommerzialisierung von Kultur, Bildung, Wissenschaft...
Politik und Wirtschaft haben sich darüber hinaus auch die oft eigensinnige Kunst und Kultur in eine Kulturindustrie und einen Kunstmarkt transformiert. Wer sich in den Nischen von Kunst und Kultur noch frei bewegen will, bewegt sich verstört zwischen Skylla und Charybdis.
Die akademischen Bildungsinstitutionen wurden durch den Politik- und Wirtschafts-Verbund in eine naturwissenschaftlich orientierte Ausbildungs- und staatlich geförderte Forschungsindustrie für die Wirtschaft umgewandelt. Auch über die grundlegende Bildungsform „Schule“ wurde mittlerweile ein zwischennationaler Wettbewerbsschirm (PISA) gespannt, der die kleinen Individuen wie domestizierte Tiere standardisierten Leistungstests unterwirft.
Bildung aber hieße nicht das simple Reproduzieren von Wissen oder sein Anwenden (Kompetenzen heißt das heute) in variierten Situationen (etwa Fabriken oder Büros), sondern das Inbesitznehmen, das subjektive Verstehen der Wirklichkeit, in die man unverschuldet geworfen wurde.
Die Wissenschaften sind substanziell „drittmittel-finanziert“ (Kohlenberg / Musharbash S. 13ff), und ein Großteil der Forschung entstammt der „Dual-Use“-Idee, also militärischer und ziviler Anwendung. Darüberhinaus mehren sich unter der „publish or perish“-Peitsche die Fehler und Fälschungen in den immer punktueller werdenden Studien (Schmitt/Schramm S. 33f).
... und Beratung
Parteipolitische ebenso wie administrative oder NGO- und dergleichen wissenschaftliche Aktivitäten werden mit „Public Relations“ und mit einem industriell formierten Beraterumfeld ummantelt. Politische Absichten in Parteien etwa werden durch eine Beraterarmee selektiert und vorzensiert, die nur solche Dinge realisieren lässt, welche auf politische Korrektheit und Zielgruppengängigkeit orientiert sind; neue, ungewohnte oder schräge Ideen werden damit vorab ausgesondert. Die Wiederholung des Immergleichen setzt sich fort, kommerzielle Werbung und politische Reklame haben sich angeglichen.
Auch in Unternehmen, in der Administration und anderen Organisationen wird nahezu jede Äußerung PR-mäßig begleitet, und ungewohntere Aktivitäten werden zuerst mit zugekaufter rechtsanwaltlicher Expertise abgesichert. Je besser bezahlt handelnde Personen sind, desto aufwendiger stehlen sie sich mit zugekauften Beratungsdienstleistungen aus ihrer persönlichen Verantwortung.
Die Akteure haben keine eigenen, subjektiv entwickelten Zielvorstellungen, sie sind zu Masken geworden, die Stereotypen produzieren, es geht nur mehr um die übliche Zustimmung, den Marktanteil, mehr Macht und mehr Aufmerksamkeit. Drogenabhängige fallen einem dazu ein, Kaufsüchtige, Hardcore-Spieler – ein süchtiges Verhalten von robotergleich agierenden Artgenossen.
Hierzu kann man sich die Programme oder Arbeitsvorstellungen der politischen Parteien ansehen, oder man braucht nur nuancierte Äußerungen dazu rekapitulieren. Wenn Exponenten wie Helmut Schmidt oder Franz Vranitzky den Menschen mit Zukunftszielen einen Gang zum Arzt empfohlen haben, spricht das für den kompletten Verlust von Zukunftsvorstellungen und Gestaltungsfähigkeit in der Landschaft aktueller Politik.
Abschied von „Zukunft“...
Die kulturelle und gesellschaftspolitische „Ressource Zukunft“ (Assmann S. 12) ist weitgehend abhanden gekommen. Langfristige gesellschaftliche Ziele existieren weder in den Programmen der politischen Parteien, Gewerkschaften oder NGOs, noch in Kultur und Kunst. Der Zusammenbruch der als Gegenbild zum Kapitalismus des Westens drohenden kommunistischen Staaten, diese sichtbare ideologische Beschlagnahme der Reste des Kommunismus durch die politischen Kräfte des Westens und der multinationalen Unternehmen mag tatsächlich eine Ursache für diese Entfernung von „Zukunft“ aus der Gesellschaft gewesen sein. Hinzu kommen allerdings die Usurpation der Politik durch simpel-ökonomisches neoliberales Gedankengut (Thatcherismus), der Verlust jeglicher politischer Bildung und vor allem die breite Auffächerung des Konsumraums als wesentliches Lebensziel aller Menschen, der Medien und des Soziallebens.
Wenn das Glück der Menschen in den angebotenen Konsumgütern liegt und der Markt hier kein Ende findet, denn Pseudoinnovationen lassen sich rasch generieren, dann benötigen Gesellschaft und die Einzelnen auch keine anderen Vorstellungen von Zukunft mehr. Insbesondere dann nicht, wenn solche Ideen nur zu einer mühseligen Minderheitsangelegenheit werden. Wer benötigt in einer totalitären Konsumwelt noch humanistische Ideen und ähnliche Vorstellungen, die in dieser materiell orientierten Wirklichkeit ohnedies nur Trübsal bereiten?
... und humanistischen Werten
Die große Mehrheit der Bürger in den westlichen Republiken hat sich offenbar von der Idee und dem genuinen Wert eines privaten Lebens verabschiedet. Dass Gedanken und der ganz persönliche Lebensraum frei und geschützt bleiben sollten, hatte einmal einen engen Bezug zum Verständnis von Menschenwürde und zu humanistischen Werten, die in der Epoche der Aufklärung entwickelt wurden. Denkfähige, aufgeklärte Menschen wollen sich stets fremder, dumpfer Macht entziehen und selbstbestimmt ihr einziges und (subjektiv) einmaliges Leben führen.
Die Wertschätzung des privaten Lebens ist vorbei, bevor sie überhaupt in den Köpfen der Mehrheit umfassend angekommen ist. Dies belegt die matte Resonanz der Medienkonsumenten auf die seit Juni 2013 erfolgten Enthüllungen der NSA-Abhörpraktiken durch Edward Snowden. Während die sogenannten Qualitäts-Medien hier ihrem eigenen Verständnis kritischer Berichterstattung tatsächlich folgten (was sonst nicht der Regelfall ist), blieb hingegen die große Mehrheit der Politik-Eliten und der Bürger bei diesem Thema müde und erschlafft. Gewissermaßen gehorsam, bestenfalls defätistisch.
Das Abhören und Speichern von elektronischer Kommunikation ist nicht neu. „Echelon“, also die umfassende Ausspähung der individuellen Kommunikation durch den Staatenverbund USA, Großbritannien und die Commonwealth-Länder Kanada, Australien, Neuseeland, war seit den 1990er Jahren bekannt. Die Überflutung öffentlicher Plätze mit Videoaufnahmegeräten und die prophylaktische Speicherung privater Daten hat auch seit Jahren Tradition im EU-Europa, ebenso der Datenhunger staatlicher Verwaltungen und der Unternehmen, dort mithilfe von Kundenkarten, Smart Meter und Data Mining.
Die große Mehrheit nimmt der Obrigkeit und den Unternehmen die flächendeckende Spionage nicht übel, da sie denkt, ohnedies nichts verbergen zu müssen, die Datenschutzfrage hatte sich für sie schon in den 1990er Jahren auf unbestellte Werbezusendungen reduziert (Kollmann 1999). Tatsächlich hat diese Mehrheit wenig zu verbergen, es fehlen ihr etwa Utopien, die sich als gefährliches Gedankengut erweisen könnten oder als subversives Denken. Die Wünsche der Mehrheiten bleiben auf das Konsumgüter-Angebot beschränkt, und das ist – solange Armut nicht gänzlich unverrückbar und flächendeckend festgezimmert scheint – für die Wirtschaft und ebenso für die mit ihr konspirierende Politik eine recht beruhigende Tatsache.
Transparenz und Offenheit. Leistung, Gier und Angst
Demokratie wird im Zeitalter der multistaatlichen Überwachung als Transparenz verstanden. Transparenz auch im Privaten ist heute zu einer gesellschaftlich anerkannten Angelegenheit geworden, sozusagen ein Modus des „Wir wollen alles über Dich wissen“, wobei der Einzelne eigentlich nur seine kleine Identität finden will und sich deshalb auf Aufmerksamkeitssuche eingelassen hat (Stampfl S. 24ff). Wenn man von allen (gewöhnlichen Menschen, denn die Eliten werden sich schon zu schützen wissen) alles weiß, bringt das endlich den Weltfrieden, Gerechtigkeit und Toleranz in die Welt?
Da bleibt man nicht nur passiv, man darf sich durchaus auch wünschen, etwas an neuen sozialen Normen zu setzen, aber das war auch im Faschismus nicht anders, repressive Toleranz eben. Egal ob das nun gewohntes „Gendern“ betrifft oder vegetarisches Essen, Rauchverbote, Fahrradfahrzwänge, Sitzpinkeln, eine übervorsichtige Kinderorientierung (Kindern Freunde sein statt sie zu erziehen), Tierrechte einfordern, oder selbst im Privaten das Bemühen stets den „politisch korrekten“ Ausdruck zu finden.
Im Wesentlichen gerät diese Facebook- und Seitenblicke-Transparenz natürlich zu einer gehobenen Form von Selbstdarstellung, Eigenwerbung und Aufmerksamkeitsgenerierung. Allerdings ist, wenn es geltendes soziales Gebot ist, intimeren Einblick in sich zu gewähren, eine im Allgemeininteresse angeordnete Transparenz auch kaum mehr in Frage zu stellen. Alles steht unter dem Gebot, öffentlich zu sein und transparent zu werden.
Die Transparenzgesellschaft ist ebenso eine Lebenslang-lernen- wie eine Leistungs- und Aufmerksamkeitsgesellschaft (Byung-Chul Han), die den Einzelnen / die Einzelne zwingt, sich selbst permanent sozial richtig darzustellen, sich passend zu vermarkten und eben lebenslang für seine / ihre Selbstdarstellungsfähigkeiten zu lernen, in sie eigene Zeit und eigenes am Arbeitsmarkt verdientes Geld zu investieren. „Lebenslanges Lernen“ nicht nur für die soziale Schauspielerei in der Facebook-Atmosphäre, sondern auch für die am Arbeitsmarkt verwertbaren Fertigkeiten und Fähigkeiten, ohne die eine/r sich keinen Lebensunterhalt verdienen kann. Eine neue Form von Sklavenhalter-Gesellschaft mit zwei großen Verpflichtungen: ordentlich zu arbeiten und ordentlich zu konsumieren, damit es allen gut geht.
„Lebenslanges Lernen“ ist anders als in der modernen, expressiven Form zwar eine ohnedies schon immer gelebte Tatsache, denn Menschen lernen mit jedem Lebenstag dazu. Nunmehr aber ist es als Enteignung des Individuums zu verstehen: Nichts ist fix, alles ist im Wandel, die gesellschaftliche Umwelt verändert sich so rasch, dass man dauernd dazulernen bzw. umlernen muss, um nicht den Anschluss zu verlieren, aus dem Spiel zu sein.
Der für die Konstitution des Menschen zu rasche Wandel in Wirtschaft, Technik und Medien ist hoch problematisch. Der Imperativ erzwingt eine bedingungslose und selbstverständliche Anpassung und beraubt den Einzelnen der Freiheit, seine Welt selbst, autonom, eigensinnig zu gestalten – er versklavt. Lebenslanges Lernen steht im Kontext der Leistungsgesellschaft. Diese hatte Herbert Marcuse schon bei der Analyse des Eindimensionalen Menschen im Fokus: die kulturellen Versprechungen der US-amerikanischen Gesellschaft, dass, wer sich in dieser Leistungsgesellschaft im umfassenden sozialen und wirtschaftlichen Wettbewerb bewährt, es auch zu Geld, Sex, Macht und Aufmerksamkeit, jedenfalls zu den geltenden Kategorien des persönlichen und sozialen Erfolgs bringen werde.
So ein Leistungsprinzip ist grundsätzlich zwar demokratisch, nämlich unabhängig von sozialer Herkunft und Rasse, aber es ist nur ökonomisch und an Leistung orientiert: Wer am Gesellschaftsmarkt „performt“ und alles aus sich herausholt, der gewinnt vermutlich auch. Diesem hegemonialen Kulturkern der nordamerikanischen Gesellschaft haben sich die europäischen Nachkriegsgesellschaften freiwillig unterworfen. Dieses Leistungsprinzip kann sich aber wohl nur dort etablieren, wo persönliche Gier eine wesentliche Konstante, ein verbreiteter Antrieb der Menschen ist. Auch die an den Rand Gedrängten möchten mitunter ein Teil haben von dem, was Marketing und Medienindustrie ununterbrochen reproduzieren. Notfalls durch Stehlen, Rauben, Töten, wofür man in den vielen elektronischen Spielen förmlich trainiert wird.
Persönliche Gier ist oft eine gern gesehene und belohnte Antriebsquelle, etwa am Erwerbsarbeitsplatz. Was jedoch als ungezügelter Hunger erscheint, ist häufig angetrieben von der Angst, gute „Gelegenheiten“ zu versäumen, leer auszugehen, nicht dabei zu sein. Dahinter schimmert durch, dass dieses elend kurze Leben, das jederzeit sein Ende finden kann, auch ständig bedroht ist. Keiner hat eine Garantie, morgen die Welt so vorzufinden, wie sie heute war, oder dass der übergeschnappte Nachbar einen nicht erschießt. Die Verdrängung des drohenden Tods, des knappen Lebens, die wir heute mit dem Abschieben der Sterblichkeit an die Spitäler, mit dem alltäglichen Vergessen unserer begrenzten biologischen Verfasstheit geschafft zu haben scheinen, holt uns immer wieder zuverlässig ein: in der Angst, im Leben zu kurz gekommen zu sein, ein Schnäppchen nicht gefasst, die Möglichkeiten nicht ausgeschöpft, sich selbst zu wenig dargestellt und Schwächen anderer nicht zielgerichtet genug ausgenutzt zu haben.
Transparenz und Offenheit scheinen normativ, verbindlich geworden. Das lässt sich aufs Erste sicherlich auch positiv sehen: eine liberale Gesellschaft, die offener geworden ist, in der sich Individuen mit ihren individuellen Vorzügen und Fehlern begegnen, mag ein wohltuender Bruch mit der Verlogenheit und dem schauspielerhaften Verhalten früherer Zeiten sein. Es ähnelt jedoch Benthams Panoptikum, wo nunmehr allerdings alle Aufseher und Gefangene zugleich sind. Wirklich befreiend wären Transparenz und Offenheit nur in einer Sozialstruktur, in der die Subjekte in einer Art interesselosen Wohlgefallens, in Konvivialität (Illich) und damit in umfassendem Vertrauen, miteinander umgehen. Nur dort kann einer Schwäche zeigen, wo diese vom anderen nicht ausgenutzt wird.
Nach wie vor gilt jedoch: Transparenz mag in Erwerbsarbeitssituationen als nettes Additiv dienen, die Machtgefälle bleiben dort jedoch völlig unberührt davon. Für die lernfähigen Menschen, die das begriffen haben, erweist sich dann vermutlich die Konsumwelt als Trost, als Entschädigung für die harsch gebliebenen Strukturen.
Enttäuschende „Linke“
Ernüchternd ist die Entwicklung der früheren alternativen Strömungen in dieser Marktgesellschaft und ebenso die der politisch Linken. Etwa das immer aufs Neue wiederholte Bildungsprogramm der mitteleuropäischen links gefärbten Parteien; es ähnelt nach wie vor der alten real-kommunistischen Erziehungsstruktur: Ganztageskindergarten möglichst früh, Ganztages-Gesamtschule. Lebenslanges Lernen, volle Berufstätigkeit, möglichst schnell nach biographischen Unterbrechungen (Kinder) wieder mit Erwerbsarbeit Geld verdienen. Keinen Bruch in der Erwerbsarbeits-Biographie soll es geben, damit auch keine Individualität, sondern gemeinschaftliche Standards durch die ins Bildungssystem eingeschulten Pädagogen. Mietwohnungen statt Eigentum. Auch kleine Vermögen und Erbschaften (dank der kalten Progression nach kurzer Pause wieder) besteuern, aber nicht Betriebe, denn das wäre wirtschaftsfeindlich, kein Wort von einer Beschneidung aberwitzig hoher Einkommen durch wirklich progressive Steuern. Und das mit Erwerbsarbeit verdiente Geld soll im Konsum versenkt werden, jede Generation soll wieder von vorn anfangen, sich neu bewähren müssen. Und sonst den alten Keynes nachbeten. – Das ist seit fünfzig Jahren Kernstück linker Wirtschaftspolitik.
Lange schon ist keine Rede mehr von Arbeitszeitverkürzung, kürzerer Lebensarbeitszeit oder mehr Urlaub für alle. Und alles, was nach partizipativer Demokratie und Bürgerbeteiligung riecht, ist in dunkle Bunker weggesperrt.
Für den Bankrott der Ideenwelt der linken (und grünen) Parteien in den 1980er und 90er Jahren, standen Lichtgestalten wie Gerhard Schröder, Joschka Fischer oder Franz Vranitzky, die alles Unkonventionelle abzuwürgen wussten und ihr politisches „Standing“ umstandslos und beflissen in Aufsichtsrats- und Beratungshonorare umzusetzen verstanden.
Wenn man sich an die aufkommende Umweltbewegung der 1970er Jahren erinnert, so waren nicht nur die Rechten gegen „Öko“, sondern vor allem auch die „Linken“, da sie sich um das Wirtschaftswachstum Sorgen machten, von dem sich die braven Arbeiter ja auch ein kleines Stückchen abschneiden können sollten. Darüberhinaus wollte man modern sein, und das hieß Technikbegeisterung bis hin zu Technik = Modernität um jeden Preis. Von einer Linken, die einmal eine ganz andere, eine befriedete, tolerante und individuell freizügige Welt realisieren wollte, ist da nicht viel geblieben.
„Transhumanismus“
Seit Jahrzehnten wird in der naturwissenschaftlichen Forschung und Technologieentwicklung an einer Erweiterung bzw. Ablösung bisherigen menschlichen Lebens und des Menschenbegriffs selbst gearbeitet. Biotechnologie, Transplantationsmedizin, Neurowissenschaften, Nanotechnologie, Robotik und Waffentechnik, künstliche Intelligenz, Augmented Reality-Entwicklungen (technisch erweiterte menschliche Wahrnehmung) und vieles andere sind diese neuen Forschungsfelder, die dafür mit Abermilliarden an Forschungsgeldern gefördert werden (Kollmann 2013).
Das Konzept, das hier zugrunde liegt und in Gesellschaft wie Medien wenig intensiv diskutiert wird, heißt „Transhumanismus“ (Benedikter / Fathi). Dieser in einer Art von Geheimgesellschaft organisierten Denkrichtung geht es darum, die menschlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten durch Technikanwendungen, etwa durch Implantation technologischer Strukturen oder Zukopplung technischer Systeme zu steigern und auf eine neue Stufe zu heben. Der von der menschlichen Evolution und seiner Natur durch eigene Kraft freigemachte, technisch auf eine neue Entwicklungsstufe gestellte, gottgleich agierende Über-Mensch ist das Ziel. Das erinnert an Nietzsche und natürlich an faschistisches Denken. Für einen solchen technologisch erweiterten Über-Menschen ist Ökologie nur ein Hindernis auf dem Weg zum Weltenschöpfer, für den sich die transhumanistisch begeisterten Menschen in ihrem Technologiewahn halten.
Die an den vielen Projekten beteiligten Forscher wollen oder können mangels Weitsicht und Bildung vom Gesamtkontext ihrer Arbeit nichts wissen. Ebenso sind die PR-massierten Medien und deren Leser von den wunderbaren Möglichkeiten lebensverlängernder Medizin und Biotechnologie begeistert und sehen auch ihr Steuergeld halbwegs gut angelegt, wenn sie diesen Kontext überhaupt noch zustande bekommen.
Verwendete Technologie verändert die Wahrnehmung der Menschen. Wer z.B. nur mehr dem Navigationsgerät folgend Auto fährt, der verlernt, im Gelände oder mit Karte sich zurechtzufinden. Oder wer meint, mit ein paar Google-Klicks zu einer Frage bereits die ganze Welt in der Tasche zu haben, der kann sehr schnell in die Irre gehen. Und von einem künftigen Internet of Things (Kollmann 2009) werden User mehr gesteuert werden, als ihnen lieb ist, sich dabei allerdings überhaupt nicht auskennen, damit jedoch keinerlei Probleme haben und sich letztendlich der „Matrix“ ausliefern. Aber die große Mehrheit der Naturwissenschaftler wie der Konsumenten freut sich darauf, „welche wunderbaren Entdeckungen uns erwarten“ (Kaku S. 13).
Ein realistischer Schluss
In ein paar Jahren werden unsere ökoorientierten Kolleginnen und Kollegen weitere Beiträge und Bücher zu den Problemen einer Herstellung von Nachhaltigkeit geschrieben haben, und die politologisch orientierten werden ihre Erhebungen zum weiter geschwundenen Interesse an herkömmlicher Politik verfeinert haben. Viele werden weiterhin Hoffnungen in eine für grüne Zwecke nutzbare Technologie setzen, die eine grünere Wirtschaft in Gang bringen könnte. Und die transhumanistischen Projekte werden dann langsam in der Wirklichkeit angekommen sein. Ob Roboter programmgestützt töten dürfen, wird vermutlich diskutiert werden, und vielleicht wird es eine Lösung für zartbesaitete Menschen sein, dass man eben solche maschinelle Intelligenz stichprobenweise behördlich überwachen wird. Im Alltag wird „smarte“ Technik uns Denken und Handeln abnehmen, wir werden den „Apps“ folgen, da das bequemer ist und wir ohnedies keine alternativen Optionen finden (Stampfl S. 88ff), da auch das Gedächtnis und die persönliche Erfahrung an digitale Algorithmen delegiert wurden.
Der mit seinem Fakten-Buch „Zehn Milliarden“ erwähnte Stephen Emmott fragt zum Abschluss einen seiner Mitarbeiter, was er machen würde, wenn er hier und heute nur mehr eine einzige Sache tun könnte. Der junge Kerl antwortet ihm: „Ich würde meinem Sohn beibringen, wie man mit einem Gewehr umgeht“ (Emmott S. 204). Vielleicht damit er sich wehren kann, wenn junge Süd- oder Ost-Länder-Menschen sein teuer – nämlich mit viel Erwerbsarbeitsanpassung und Selbstverleugnung – gekauftes Reihenhaus stürmen, um endlich auch einmal etwas westlichen Luxus zu genießen. Etwa Essen, Duschen, Ausruhen. Er wird sich und seine mühsam geschaffene kleine heile Welt gegen unredliche und destruktive Zugriffe verteidigen und Frau und Kind schützen wollen.
Es könnte ziemlich blutig werden, jenseits der kulturellen Beredsamkeit von gelebter Multikulturalität, der alten Idee von Aufklärung und Humanität und der tatsächlich gelebten Fremdheit gegenüber anderen Menschen, eben Fremden. Und das Gewehr könnte ziemlich nutzlos sein, denn wer Hunger hat, vergisst schnell mögliche Skrupel. Ohne Ausweg versucht man einfach sich durchzuschlagen, schlägt, wenn es notwendig scheint, einfach zu und nimmt sich die benötigten Dinge.
Die neuen, letzten Balkankriege im selbstverliebt sich als so hochzivilisiert empfindenden Europa sind, ein paar hundert Kilometer entfernt etwa vom kontinentaleuropäischen Finanzzentrum Frankfurt, auch erst 15 Jahre her. Ja, es ist erschreckend. Und beschämend.
Literatur
Aleida Assmann: Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013.
Roland Benedikter, Karim Fathi: Der Kampf um das menschliche Ich, in: telepolis 24.2.2013.
Colin Crouch: Post-democracy, Cambridge 2004.
Stephen Emmott: Zehn Milliarden, Berlin 2013.
Wolfgang Hingst: Der alte Streit aller gegen alle, in: Wiener Zeitung 6.12.2013.
Ivan Illich: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, Reinbek 1975.
Michio Kaku: Die Physik der Zukunft. Unser Leben in 100 Jahren, Reinbek 2013.
Kerstin Kohlenberg, Yassin Musharbash: Die gekaufte Wissenschaft, in: Die Zeit, Dossier, 1.8.2013.
Karl Kollmann: Das „Internet of Things“, in: telepolis 27.07.2009.
Karl Kollmann: Benötigt die Verbraucherpolitik eine Verbrauchertheorie? in: Wirtschaft und Gesellschaft 1/2010, S. 79–93.
Karl Kollmann: Welche Akteure gibt es für echte Klimapolitik? in: Hauswirtschaft und Wissenschaft 3/2012.
Karl Kollmann: Der Tod ist ein Meister der Technologie, in: Geolitico, 12.10.2013.
Wolfgang J. Koschnik: Die entwickelten Demokratien der Welt stehen am Abgrund, telepolis 19.12.2013.
Michael Ley: Bis es kein Zurück mehr gibt, in: Die Presse, Spectrum, 03.11.2012.
Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch, Frankfurt am Main 1967.
Jorgen Randers: 2052. Der neue Bericht an den Club of Rome. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre, München 2012.
Stefan Schmitt, Stefanie Schramm: Rettet die Wissenschaft! Im Geschäft der Erkenntnisgewinnung läuft zuviel schief, in: Die Zeit 1/2014, 27.12.2013.
Nora S. Stampfl: Die berechnete Welt. Leben unter dem Einfluss von Algorithmen, Hannover 2013.
Harald Welzer, Klaus Wiegandt (Hg.): Wege aus der Wachstumsgesellschaft, Frankfurt am Main 2013.