20 Jahre Genozid in Ruanda: Eine antimilitaristische Analyse
Die Archive öffnen sich. Bis auf wenige, aber bedeutende Ausnahmen sind Militär- und Geheimdienstberichte zur Rolle der französischen Armee beim Genozid in Ruanda für ForscherInnen zugänglich. Die beteiligten befehlshabenden Militärs veröffentlichen in ihren Memoiren kompromittierende Details. Veröffentlichungen zur Rolle französischer Militärs beim Genozid häufen sich nun in Frankreich. Doch sie haben immer noch den Charakter widerständiger Geschichtsschreibung. Die PS-Regierung Hollande wehrt alles ab – auch um die Schuld des damaligen Präsidenten François Mitterand und seiner Afrikapolitik auszublenden, die wir hier in zwei Artikeln darstellen. (GWR-Red.)
Die nachfolgende Darstellung der Schuld (nicht etwa nur Beihilfe) der französischen (fortan: frz.) Armee am Genozid in Ruanda sollen nicht etwa dazu dienen, die Schuld der Hutu-Mörder vor Ort klein zu reden.
Sie ist angesichts des erdrückenden Materials und Wissens weitgehend bekannt, wenn auch Schuldabwehr, Gehorsamsbereitschaft und ein Narzissmus der Macht bei den Hutu-Tätern noch immer schockieren. (1)
Aus Platzgründen kann auch auf die lange koloniale (bis Juli 1962) und post-koloniale Geschichte europäischer Mächte nur schlagwortartig hingewiesen werden, nach der zunächst deutsche, dann belgische, schließlich ab Mitte der Siebzigerjahre frz. Kolonialisten und Ex-Kolonialisten die Geschicke Ruandas stark beeinflussten. Erwähnt werden muss hier, dass ein ursprünglich aus Ackerbauern und kleinen Viehzüchtern (hier: Hutu; Bahutu in der Landessprache Kinyrwanda) sowie großen Viehzüchtern und dem Königshof (Tutsi; Batutsi) und auch noch aus Pygmäen (Twa) bestehendes Königreich, zwar hierarchisch geordnet, aber noch mit sozialer Durchlässigkeit behaftet war.
Bereits die Deutschen hatten diese Sozialkategorien ethnisiert und rassisch neu definiert. Vor allem Belgien hatte dann 1931 durch Personalausweise mit Vermerken ethnischer Zugehörigkeit (Hutu, Tutsi, Twa) rassistische Zuschreibungen auf Jahrzehnte hinaus bürokratisch festgezurrt. Erst die FPR-Regierung (Front Patriotique du Rwanda) nach dem 21. Juli 1994 schaffte dies ab. Am Ende der Kolonialphase wechselte Belgien seine Unterstützung vom Königtum, das abgeschafft wurde, auf die parlamentarisch bald von Hutu regierte Republik, weil die Kolonialmacht dachte, so die Entkolonialisierungsphase mit womöglich neuen Eliten aus der bisher unterlegenen Bevölkerungsmehrheit besser kontrollieren zu können. In der Tat kam es auch zu einer unter Hutu „Revolution“ genannten Entwicklung von 1959-63, wo es bereits zu schlimmen Massakern an Tutsi und Massenvertreibungen von ca. 300.000 Tutsi ins nördliche Uganda kam, die der englische libertäre Philosoph Bertrand Russell, der damals vor Ort war, als „die schrecklichsten und systematischsten Massaker“ seit der Judenvernichtung durch die Nazis bezeichnete.
Ähnliche Massaker und Fluchtbewegungen wiederholten sich 1973 und 1982. Die Propaganda der Hutu-Regierung baute über Jahrzehnte hinweg eine geradezu phobische Angst vor der Rückkehr der Flüchtlinge aus Uganda auf und große Teile der Bevölkerung waren dann bereit, die noch im Lande befindlichen Tutsi kollektiv in Geiselhaft für den Fall eines Überfalls aus dem Norden zu nehmen. (2)
Es gibt einen konkreten Anteil der FPR an der Entwicklung hin zum Genozid –das ist die Tatsache, diesen Guerillakrieg 1990 begonnen zu haben. Noch nie in der Geschichte ist ein Genozid ohne einen Krieg oder Bürgerkrieg in Gang gesetzt worden. Erst die Brutalisierungsdynamik des Bürgerkrieges 1990-94 schaffte in Ruanda die zuallerletzt noch fehlende Voraussetzung für den Genozid.
Jean Hatzfeld sprach das jüngst in einer Diskussion unter Genozid-Historikern in Le Monde an: „Wenn der Krieg ausbricht, (...) wird es möglich, seinen Nachbarn mit der Machete zu töten. Der Krieg autorisiert dazu.“ (3)
So berichtete der frz. Botschafter in Kigali bis 1993, Georges Martres, von der Freude der Hutu-Militärs über den Beginn des Guerillakrieges der FPR: „Der Oberst Serubuga, stellvertretender Oberbefehlshaber der ruandischen Armee zeigte sich erfreut über den Angriff der FPR, der zur Rechtfertigung der Massaker an den Tutsi dienen werde.“ (4)
Der erste Imperativ zur Verhinderung eines Genozids heißt also immer, die Entstehung einer Kriegs- oder Bürgerkriegssituation zu vermeiden. Das galt damals für Ruanda und gilt heute für die Ukraine.
Phase 1: Die Interessen Frank-reichs, der Bürgerkrieg und die frz. Militärintervention 1990-94
1989 fiel die Berliner Mauer, 1990 trat die DDR der BRD bei. Welche Bedeutung hatte gerade das Ende des Kalten Krieges für die Interessen Frankreichs in Afrika und seinen Militäreinsatz im ruandischen Bürgerkrieg von 1990-94?
Nach dem Auftreten Deutschlands als neue ökonomische Weltmacht entstand in Frankreich die Befürchtung, seine Position als Weltmacht gerade zu verlieren. Nur der ökonomisch-militärische Einfluss auf die frz. Ex-Kolonien konnte diesen Weltmachtstatus erhalten. An die Stelle das Feindbilds Sowjetunion traten schnell politische Befürchtungen, den innerkapitalistischen Kampf gegen das anglophone Einflussgebiet (USA/Großbritannien) in Afrika zu verlieren, das als expansiv wahrgenommen wurde.
Präsident François Mitterand (ein angeblicher Sozialist) machte das in öffentlichen Reden zu Ruanda deutlich: „Wir können unsere Präsenz nicht reduzieren. Wir stehen an der Grenze zur anglophonen Front“ (23. Jan. 1991) oder: „Frankreich ist in den Augen der Welt nicht mehr es selbst, wenn es auf seine Präsenz in Afrika verzichtet“ (8. Nov. 1994, unmittelbar nach dem Genozid). (5) Das nationalstaatliche Geltungsinteresse überragte noch ökonomisch-materielle Interessen. In Ruanda gab es kaum Bodenschätze, die zu verteidigen einen Krieg lohnte. In zweiter Hinsicht jedoch sehr wohl strategisch-wirtschaftliche Interessen, und zwar in der Provinz Kivu (u.a. Coltan, bedeutsam z.B. für Handys) im damaligen Ost-Zaire (heute Demokratische Republik Kongo), das militärisch leichter von Ruanda aus zu kontrollieren war als vom weit entfernten Kinshasa/Zaire.
Mitterand und die frz. Militärs befürchteten einen Domino-Effekt. Diese Furcht war bereits in Mitterands strategische Erklärungen seit Amtsantritt 1981 eingeschrieben: „Ich beanspruche ein strategisches Dreieck, das, wenn es beschädigt wird, wieder hergestellt und Frankreich zurückgegeben werden muss. In diesem Dreieck unterscheide ich in erster Linie unsere Sprache, unsere Industrie und unsere Sicherheitsinteressen. Wenn einer dieser Eckpunkte fällt, dann fällt die ganze Zitadelle.“
Der Domino-Effekt war nach 1989 auch geografisch zu verstehen: Wenn auch nur ein Staat des ex-kolonialen Einflussgebietes fällt, fallen auch die anderen. (6)
Während der Zeit des Bürgerkriegs und des Genozids von 1990-94 hatte die Hutu-Regierung Ruandas einen Sitz im damals installierten erweiterten Sicherheitsrat der UNO, stimmte jeden Einsatz zusammen mit der Veto-Macht Frankreich und anderen Staaten der afrikanischen französischen Währungszone (CFA) ab und organisiere so Mehrheiten zu ihren und Frankreichs Gunsten. Während die UN-Beschlüsse allesamt offiziell als „humanitär“ deklariert wurden, so dominierten real – selbst auf UN-Ebene – die nationalen Interessen Frankreichs und der Genozid-Regierung den wahren Charakter der Militäreinsätze. Marineoberst Tauzin war da deutlich: „Die UN nützt nichts.“
Im Kampfeinsatz „Noroît“ (offiziell vom 14.10.1990 bis 14.12.1993) wurden insgesamt 3500 frz. Soldaten eingesetzt, vor allem in der Hauptstadt Kigali und im Norden, nahe der ugandischen Grenze, von wo aus die FPR (bewaffnete Guerilla, mehrheitlich Tutsi, minderheitlich Hutu-Oppositionelle) den Bürgerkrieg am 1. Okt. 1990 begonnen hatte, mit ugandischer Militärhilfe und Ausbildungshilfe sowie Waffen anglo-amerikanischer Herkunft, deren Ausmaß noch heute sehr unterschiedlich eingeschätzt wird (FPR-Chef Kagame, der heutige Präsident Ruandas, brach eine Militärausbildung in den USA direkt vor Beginn des Guerillakrieges der FPR ab und kehrte nach Uganda zurück).
Nach den Memoiren des frz. Oberstleutnants Hogard bestand die frz. Militärstrategie in einem „sehr klaren politisch-militärischen Engagement auf der Seite der Hutu-Regierung des Präsidenten Habyarimana“.
Marineoberst Tauzin, Befehlshaber des ersten Marinefallschirmjägerregiments (1er RPIMa), bekennt in seinen Memoiren, dass die frz. Armee die Hutu-Staatsarmee FAR (Forces Armées Rwandaises), in den ersten Jahren des Bürgerkriegs noch ein korruptes Torso, das vor den Angriffen der FPR bis vor die Tore Kigalis zurückwich, faktisch kontrollierte: „Ich musste indirekt das Kommando der FAR übernehmen und der ruandischen Hierarchie eine ‚parallele Hierarchie’ hinzufügen.“ Die Hutu-Armee hatte 1990, zu Beginn des Bürgerkrieges, 5000 Soldaten unter Waffen, Ende 1993 durch die französische Militärhilfe 23000. Auf vier Ebenen strukturierte die französische Armee die Hutu-Armee neu: Sie baute eine Präsidentengarde als Eliteeinheit auf; sie rüstete Armee und Gendarmerie mit Waffen aus; ab 1991 schlug Oberst Canovas, frz. Militärberater der ruandischen Armee, Aufbau und Ausbildung von Milizen (die später berüchtigten „Interahamwe“) vor, ausgerüstet mit leichten Waffen und Macheten, verkleidet als Bauern; und noch früher, ab 1990, hatte General Thomann die Bildung von Bürgerwehren mit unausgebildeten Zivilisten vorgeschlagen, die den Zugang zu Dörfern kontrollieren und aus den Bergen kommende Leute durchsuchen sollten. Diese Einheiten auf diesen vier Ebenen führten dann Mitte 1994 den Genozid durch. (7)
Ruanda importierte von 1992 bis Anfang 1994 insgesamt 581 Tonnen Macheten, aus Frankreich, aber auch in großem Umfang aus China. Beim Genozid Mitte 1994 wurden neben Macheten auch Totschlagwerkzeuge wie Äxte, Beile, Bohrmaschinen u.a. eingesetzt.
Darüber sollte aber nie vergessen werden, dass die Hälfte der Tutsi durch Schusswaffen, Sprengstoff, Handgranaten umgebracht wurden, was auf den starken Anteil der ruandischen Armee schließen lässt, die auch die Verteilung der importierten Mordwerkzeuge übernahm. (8)
Im Februar 1993 führten frz. Eliteeinheiten und Fallschirmjäger den Hauptverteidigungskampf um Kigali, vor dessen Toren die FPR bereits stand. Tauzin brüstete sich in einem Bericht aus 1998, er habe mit 69 Marinespezialeinheiten „die völlig aufgelöste ruandische Armee in die Hand genommen“ und die Situation stabilisiert, die „verzweifelt“ war. Der Sieg der frz. Armee und der wie ein Klotz am Bein mitgeschleppten Hutu-Armee vor Kigali gegen die FPR kostete 8000 Tote auf ruandischer Seite, aber nur wenige getötete Fallschirmjäger und einen leicht verletzten Soldaten der frz. Bodentruppen.
Ohne die frz. Armee hätte die FPR bereits damals die Hauptstadt erobert, was bedeutet hätte, dass es zum Genozid nicht gekommen wäre. Eine weitere logistische Hilfe der frz. Armee für die Hutu-Regierung in der Zeit von 1990-93 war die Ausrüstung der Hutu-Bürgermeisterämter sowie der Polizei (Gendarmerie) mit neuester Informationstechnologie.
Die Ämter und die Polizei konnten so aktuelle Dateien zu gesuchten Personen, gestohlenen Objekten, Waffenbesitzern und Führerscheinen erstellen. Nach Berichten des frz. Geheimdienstes vom April 1994 dienten diese „vorgefertigten Listen den Militärs der Präsidentengarde dazu, alle Tutsi sowie alle aus dem Süden kommenden oder oppositionelle Parteien unterstützenden Hutu zu massakrieren.“ (9)
Im Übrigen fanden bereits während der gesamten Zeit des Bürgerkriegs Massaker der Hutu gegen die Tutsi statt. Die frz. Armee nahm dies in Kauf, organisierte in Frankreich verfälschende Medienkampagnen, sprach ausgleichend von Massakern auf beiden Seiten. Der Feind blieb für sie immer die anglophone FPR, identitär ineinsgesetzt mit allen Tutsi, die von frz. Militärs in Berichten wahlweise „manipulatorische Teufel“, einer „satanischen“ Religion anhängend, eine Ideologie „schlimmer als Hitler“ vertretend, „die Preußen Afrikas“, eine „marxistische Guerilla“, aber auch „maoistisch“, „totalitär“, „rote Khmer“, „schwarze Khmer“ (dies alles allein Ausdrücke von Tauzin) genannt wurde. Oder man bediente sich, wie noch in einem Militärbericht vom 16. Juli 1994 (bereits gegen Ende des Genozids), gleich derselben Begriffe wie die Hutu-Regierung und das rassistische Radio „Mille Collines“ und nannte Tutsi auch selbst „Inyenzi“ (Wanzen, Kakerlaken). (10)
Phase 2: Putsch, Genozid (April-Juli ’94) und Rettung der Schlächter durch die frz. Armee (Juni-Aug. ’94)
Der über lange Jahre strategisch und propagandistisch u.a. über die rassistischen Hetzreden des Radios Mille Collines („tausend Hügel“) vorbereitete Genozid begann in der Nacht vom 6. auf den 7. April 1994, unmittelbar nachdem die Maschine abgeschossen wurde, mit der Präsident Habyarimana aus Tansania zurückkam, wo er die sofortige Umsetzung des ein Jahr zuvor beschlossenen Abkommens von Arusha/Tansania versprochen hatte.
Habyarimana galt Extremisten auch aus seiner eigenen Regierungspartei sowie vor allem den eliminatorischen Rassisten der im März 1992 gegründeten Partei CDR (Komitee für die Verteidigung der Republik) als zu nachgeberisch geworden. Das Arusha-Abkommen hatte vorgesehen, dass FPR-Leute in eine Übergangs-Regierung sowie Tutsi aus deren Guerilla in die staatliche Armee FAR aufgenommen werden sollten – während die CDR ausgeschlossen bleiben sollte.
Die CDR popularisierte damals auch den Begriff „Hutu-Power“, der dann von der Genozid-Regierung benutzt wurde und eine Anleihe beim Begriff „Black Power“ darstellt – es war ein Genozid der Bevölkerung einer schwärzeren gegenüber einer etwas helleren Hautfarbe, den die weltweite afrikanisch-amerikanische Bewegung bis heute nicht als solche begriffen, geschweige denn aufgearbeitet hat. (11)
Über Jahrzehnte hinweg, bis ca. 2010, hat seit 1994 die frz. Seite (Regierung und Presse unter Einbeziehung von Le Monde und Libération), die Hutu-Rassisten-These kolportiert, die FPR hätte die Maschine abgeschossen, wofür nichts spricht: Die FPR hatte gerade einen enormen diplomatischen Erfolg errungen und war nicht vor Ort.
Wahrscheinlich ist dagegen, dass die CDR als Attentäter in Frage kommt oder gleich die frz. Armee. Auffallend ist, dass frz. Offiziere sofort an der Absturzstelle waren und ihr Bericht eines der wenigen Dokumente ist, das heute noch unter Geheimverschluss steht.
Zudem konnte nur die frz. Armee auf präzise Boden-Luft-Raketen, die für den Abschuss eingesetzt wurden, zurückgreifen. Die belgische Journalistin Colette Braeckman meinte, ihren Informationen zufolge hätten frz. Soldaten „für die Hutu-Extremisten des CDR“ geschossen, denn kurz nach dem Attentat putschte sich die CDR unter Oberst Bagasora an die Macht. (12)
Noch entscheidender für die Motivlage Frankreichs ist die Tatsache, dass sich die entscheidenden frz. Befehlshaber, General Quesnot, Oberst Rozier und Oberst Tauzin durchweg entschlossen gegen diesen Friedensvertrag aussprachen –im Einklang mit ihrem strategischen Auftrag, die FPR im Bürgerkrieg militärisch zu besiegen. In einer Bürgerkriegssituation konzipieren Militärs die von ihnen zu stützende Regierung als Einheitsfront. Alle frz. Offiziere waren deshalb für eine Hutu-Einheitsfront unter Einbeziehung der CDR und unter Ausschluss der FPR.
Die frz. Militärs hatten also das größte Motiv, den schwach gewordenen bisherigen Präsidenten aus dem Weg zu räumen. Die eingesetzten frz. Offiziere hatten überdies bei zahlreichen Putschversuchen und Präsidentenabsetzungen in afrikanischen Ländern genügend „Know-How“ gesammelt, wie man die ihren Interessen entsprechenden Leute an die Macht bringt. (13)
Die französische Armeeoperation „Amaryllis“ fand offiziell vom 8.-14. April 1994, der mörderischsten Woche des gesamten Genozids der folgenden drei Monate, statt. Offiziell hatte sie die Aufgabe, französische StaatsbürgerInnen auszufliegen. Sie umfasste 464 hochtrainierte Elitekämpfer der frz. Armee und Marine. Daneben gab es weitere 2500 UN-Blauhelmtruppen in Kigali. Die frz. Armee und ihr Geheimdienst waren am besten nachrichtendienstlich darüber informiert, was im Lande passierte, weitaus besser noch als die Regierung der Völkermörder selbst. Sie griff trotzdem während des Genozids nicht ein, ja unterstütze die Völkermord-Regierung durch die gesamte Zeit hinweg durch offizielle und inoffizielle Militärberater (siehe zweiten Artikel).
Die französische Armee stellte ihre Elitetruppen nicht den UN-Truppen zur Seite, nahm aber am 8. April 1994 den Flughafen in Kigali ein. Erst am selben Tag informierte Frankreich die UN vom eigenen Militäreinsatz.
2009 behauptete General Lafoucarde, dass allein 250 bewaffnete und entschlossene Soldaten die schlimmsten Massaker in Kigali hätten verhindern können. Doch der Auftrag der frz. Armee war ein anderer: „in Kigali für Ordnung zu sorgen“, die ruandische Armee zu unterstützen, „die Offensive der Front Patriotique (FPR) zu stoppen“ (General Quesnot). Dafür arbeitete man während des gesamten Militäreinsatzes mit der Putsch-Regierung (GIR; Übergangsregierung Ruandas) zusammen, an einen Einsatz gegen die Völkermörder dachte man nicht. (14) Nach der transafrikanischen Zeitung La Lettre du Continent (Brief aus dem Kontinent) liefen französische Waffenlieferungen über Goma in Ost-Zaire direkt an die Hutu-Regierung während des Völkermords weiter. (15)
Frankreich hatte als einziges westliches Land überhaupt die GIR diplomatisch anerkannt.
Noch am 22. Juni 1994, erklärte François Mitterand, ganz im rassistischen Hutu-Sprachton: „Wenn dieses Land unter die Dominanz der Tutsi geraten sollte, einer Ethnie, die sehr minoritär ist und ihre Basis in Uganda findet, (...) dann ist es gewiss, dass der Demokratisierungsprozess unterbrochen wäre.“ (16) Drei Monate Genozid – ein „Demokratisierungsprozess“? Nur dann, wenn man die Hutu-Einheitsregierung ideologisch als Demokratie einordnen wollte, ganz so wie man es selbst militärstrategisch konzipiert hatte.
Am 17. Juli 1994 eroberte die FPR Kigali und setzte die Hutu-Putschregierung ab.
Auf UN-Ebene war derweilen der dritte frz. Militäreinsatz („Operation Turquoise“) eingeleitet worden, offiziell vom 22. Juni bis 21. August ’94 – noch immer mit der gültigen Stimme der Hutu-Völkermord-Vertreter Ruandas im erweiterten UN-Sicherheitsrat (darin liegt die tiefe Schuld der UN, die diese Vertretung hätte schon längst rausschmeißen müssen!). In Frankreich wurde der Einsatz öffentlich großsprecherisch als „humanitärer Einsatz“ verkündet, doch real war der Auftrag noch immer die Unterstützung der Völkermörder und die frz. Truppen von Turquoise, immerhin 2500 Soldaten, versuchten auch tatsächlich, sofort zur Front kurz vor Kigali vorzurücken und zusammen mit der FAR die FPR zurückzudrängen.
Nur durch die Drohung des kanadischen UN-Truppenchefs, General Roméo Dallaire, in einem solchen Fall auf die frz. Armee schießen zu lassen, konnte dieser Vorstoß unterbunden werden. (17)
Schließlich begnügte sich die frz. Armee mit der Verwaltung eines südwestlichen Viertels des ruandischen Territoriums und der dortigen Flüchtlingslager. Trotzdem gab es noch am 17. Juli bei Kibuye einen frz. Angriff auf die FPR, bei dem 19 FPR-Kämpfer getötet wurden, während es die gesamte Operation Turquoise hindurch nie einen einzigen Angriff auf die Hutu-Mörder und ihre Ex-Regierung gegeben hatte. Im Gegenteil: Deren Abzug über das frz. besetzte Territorium nach Zaire, wo sie im dortigen Bürgerkrieg noch Jahre lang weiter wüten konnten, wurde durch die frz. Armee gedeckt und logistisch organisiert. Die GIR-Truppen wurden nie entwaffnet, wie es der Einsatz vorgesehen hatte; die Ausstrahlungen des Hasssenders Mille Collines wurde in diesem Gebiet nicht unterbunden und die frz. Armee verhinderte nicht einmal das Massaker von Hutu an 60.000 Tutsi in den Hügeln von Besesero auf ihrem Hoheitsterritorium Ende Juni 1994.
Als frz. Soldaten bei einer Erkundung nur noch 2000 todesverängstigte Tutsi vorfanden und leicht und schnell die frz. Armee hätten heranführen können, brauchten sie noch einmal drei Tage und retteten ganze 800 – was dann auch noch propagandistisch als humanitärer Erfolg verbraten wurde. Dagegen sind Vergewaltigungen von Tutsi in den Flüchtlingslagern dieser Zone durch frz. Soldaten belegt. (18)
Snowman
Anmerkungen:
(1): Vgl. die dt. Übersetzungen der Intensivinterviews von Jean Hatzfeld, mit den Hutu-Tätern: Zeit der Macheten. Gespräche mit den Tätern des Völkermords in Ruanda, mit überlebenden Opfern: Nur das nackte Leben. Berichte aus den Sümpfen Ruandas, beide Psychosozial-Verlag, Gießen 2004.
(2): Bernhard Schmid: Frankreich in Afrika. Eine (Neo-)Kolonialmacht in der Europäischen Union zu Anfang des 21. Jahrhunderts, Unrast-Verlag, Münster 2011, S. 105ff., 107 (Pässe 1931) und 115 (Russell).
(3): Jean Hatzfeld im Gespräch mit Rithy Panh und Jacques Sémelin: „Comment devient-on un bourreau?“ (Wie wird man zu einem Henker?), in: Le Monde, 4. April 2014, S. 18.
(4): George Martres zit. nach Jean-Paul Gouteux: La Nuit rwandaise. L’implication française dans le dernier génocide du siècle (Die ruandische Nacht. Die französische Beteiligung am letzten Genozid des Jahrhunderts), L’Esprit frappeur, Paris 2002, S. 214.
(5): Mitterand, zit. nach François Graner: Le Sabre et la machette. Officiers français et génocide tutsi (Säbel und Machete. Französische Offiziere und der Genozid an den Tutsi), Éditions Tribord, Mons/Belgien 2014, S. 14.
(6): Mitterand, zit. nach Graner, a.a.O., S. 22.
(7): Alle Angaben und Zitate französischer Offiziere aus dem Buch von Graner, S. 45-75, besonders S. 51 (Hogard), 63f. (Tauzin, vier Ebenen, Canovas, Thomann), S. 171 (Tauzin zur UN).
(8): Bernhard Schmid: Frankreich in Afrika. Eine (Neo-)Kolonialmacht in der Europäischen Union zu Anfang des 21. Jahrhunderts, Unrast-Verlag, Münster 2011, S. 103f.
(9): François Graner: Le Sabre et la machette, a.a.O., S. 58f (Tauzin), S. 71 (Informatik-Ausrüstung).
(10): Ebenda, S. 183, 185.
(11): Bernhard Schmid, a.a.O., S. 122ff.
(12): Ebenda, S. 125.
(13): François Graner, a.a.O., S. 77- 151, besonders S. 89. Siehe dazu auch zweiten Artikel zu Ruanda: „Militärberater als Massenmörder“.
(14): Ebenda, S. 94, 96.
(15): Ebenda, S. 101.
(16): Mitterand, zit. nach: Bernhard Schmid, a.a.O., S. 120, davor zur Anerkennungspolitik Frankreichs S. 127.
(17): Graner, S. 105ff.; Schmid, S. 130.
(18): Schmid, S. 95ff.; Graner, S. 102-151, zu den Vergewaltigungen insbesondere S. 123ff.
Zum Thema siehe auch: Ruanda: Militärberater als Massenmörder, Artikel in dieser Graswurzelrevolution.
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 390, Sommer 2014, www.graswurzel.net