Ingo Lauggas’ neues Buch erzählt vom Zusammenhang von Ästhetik und Politik, Antonio Gramscis Verhältnis zu literarischen „Schmierfinken“ und Leerstellen in den Cultural Studies.
Der italienische Denker Antonio Gramsci (1891 – 1937) ist vor allem für die Erkenntnis bekannt, dass vor der Erlangung nachhaltig wirksamer politischer Herrschaft zuerst mit der jeweils herrschenden kulturellen Hegemonie, in seinem Fall der (geistigen) Macht von Kirche und Adel, klar Schiff gemacht werden müsse. In den „Gefängnisheften“ schrieb er zu strategischen und organisatorischen Fragen, in erster Linie bezogen auf die Kommunistische Partei im Italien der 1920er Jahre. „Stellungskrieg“, so etwa seine Metapher für langwieriges umstürzlerisches Handeln im (immer kulturellen) Kampf um das, was Gesellschaften im innersten zusammenhält, nämlich die scheinbar natürliche Beschaffenheit und die Vermittlung ihrer Normalitäten. Vor allem die (britischen) Cultural Studies bezogen sich im 20. Jahrhundert auf den italienischen Denker und seine Hegemonietheorie.
Im Zentrum von Ingo Lauggas’ Buch steht nun der Plan, die Überlegungen Gramscis zu Kunst und Ästhetik herauszuarbeiten – vor allem anhand dessen Schriften zu Literatur (etwa Dante Alighieris „Göttlicher Komödie“) und mit seiner Rezeption in den Cultural Studies zusammenzudenken.
HEGEMONIE, SAGT DER HAUSVERSTAND. KUNST, SAGT DER PHILOSOPH.
Interessant an Gramscis ästhetischer Theorie: er spricht von einer „Autonomie des Kunstwerks“. Dieser (bürgerliche) Kunstbegriff widerspricht dem Kulturbegriff der Cultural Studies, so Lauggas. Messe doch die bürgerliche Ästhetik der „Autonomie des Kunstwerks“ nicht zuletzt deshalb soviel bei, weil die Vorstellung von Autonomie genau zur Subjektivität der Mittelklasse passe - während diese letztlich doch nur den Verhältnissen zustimme.
In der Autonomie stecke jedoch auch ein emanzipatorisches Potential der Selbstbestimmung des Menschen durch seine Fähigkeit, etwas zu wollen oder zu verändern. Also müsse, so Lauggas, das „Anliegen einer marxistisch motivierten Kritik“ sein, das Ästhetische unter der Last des Idealismus wieder herauszuholen und zu einer materiellen zu machen.
Gramsci wende sich weiters – scheinbar ganz unmarxistisch – gegen den Versuch, Politisches in die Kunst zu tragen, was diese zu reinem „Rednertum mit praktischen Zielen“ (Gramsci) mache. Er nehme außerdem eine Trennung zwischen Kunst und Kultur vor. So weit, so unorthodox – im Sinne dessen, wohin die Cultural Studies mit ihrem erweiterten Kulturbegriff woll(t)en – und zurück zur Frage, warum Kunst als autonome Sphäre gesehen und praktiziert werden müsse: Dazu erzählt das Buch die Rezeptionsgeschichte von Gramscis Gedanken zu Kunst und Ästhetik im engeren Sinn.
GRAMSCI GEGEN SEINE LIEBHABER_INNEN VERTEIDIGT
Vor allem für jene gut geeignet, die sich schon immer gerne mit dem Philosophen beschäftigt haben, wird Gramsci hier sozusagen historiographisch und nicht ohne gewisse Spannungsmomente sozusagen gegen seine Liebhaber_innen verteidigt. Die Frage des Geschmacks interessiere die Kulturwissenschaften in dogmatischer Lesart nämlich nur als Beweis der Klassenverhältnisse. Die Werturteile selber, zumal die „popularen“, blieben in den Kulturwissenschaften außen vor und uninteressant, so Lauggas. Nicht so für Gramsci, der sowohl die Frage der künstlerischen Haltung als auch die Haltung der Beurteilenden von Kunst zum Thema macht. Gute Frage eigentlich, wie jugendliche FPÖ-Wählerinnen die Comics der Freiheitlichen im einzelnen beurteilen. Steckt in der Abwehr dieser Frage nicht allzu oft ein arroganter Blick, der wiederum von bürgerlicher Moral verstellt ist? Fehlt deshalb in der Debatte um Künstler_innen wie Jonathan Meese angesichts dessen Hakenkreuzzitaten eine angemessene Urteilskraft, die den Hitlergruß als ernstzunehmende ästhetische Politik liest und eben nicht dabei stehen bleibt, beim besten Willen nur „Provokation“ erkennen zu können? Und liegt in der breiten Ästhetisierung von „Aktivismus“ nicht der tatsächliche strategische Fehler emanzipatorisch gedachter künstlerischer Politik? Hier liegt möglicherweise der politisch brisanteste Punkt des Buchs: Angesichts einer Fixierung auf kulturpolitische Momente werde der Blick auf ästhetische Entscheidungen und die damit verbundenen Haltungen der Künstler_innen verstellt. Es sei eine politische Handlung und nicht nur Aufgabe der professionellen Kunstkritik, künstlerische Inhalte (kritisch) zu beurteilen. Besonders in Museen wäre eine solche politisch gedachte Popularisierung des Geschmacks relevant.
KULTURELLER MATERIALISMUS STATT SOZIALISTISCHER REALISMUS
Das Buch liefert auch Begegnungen mit zentralen Bezugsfiguren Gramscis: Der Literaturwissenschaftler Gianni Scalia interpretiert etwa dessen Zurückhaltung bei der Abwehr des politischen Zugriffs auf Kunst als Abgrenzung gegen den Faschismus (der Gramsci erst ins Gefängnis brachte) und in Bezug auf seine Politisierung des kulturellen Lebens. An anderer Stelle wird der Begriff der „critica militante“ (kämpferische Kritik) von Francesco De Santis erläutert: als „ein Modell für ein Verhältnis von Intellektuellen und Wirklichkeit, das von einem profunden ethischen Engagement getragen und einem aufrichtigen demokratischen Bekenntnis verpflichtet ist.“ An diesem Begriff wird auch klar, was Gramsci am Kulturverständnis der kommunistischen Parteien seiner Zeit genervt haben mochte: das Potential politischer Kunst lediglich als „sozialistischen Realismus“ zu denken.
Angesichts der heutigen Kulturalisierung vieler gesellschaftlicher Fragen (Migration, Bildung, etc.) ist das Buch eine inspirierende Lektüre. Und um ein allerletztes Bild von bürgerlichem Geschmack anzubringen: zu geniessen wie Bitterschokolade. Langsam auf der Zunge zergehen lassen, trotz der anfänglich herben Dichte der Materie.