Die Selbstkonstituierung der Flücht­lingsbewegung …

… als politisches Subjekt: Forderungen und Handlungen der Bewegung im Kontext österreichischer und europäischer Migrationsregime

in (25.03.2013)

„We demand our rights – we need our rights“ ist der Slogan der Bewegung um und in der Votivkirche. Asylsuchende als AktivistInnen fordern Rechte unter Bedingungen ein, die von ihrem prekären Rechtsstatus geprägt sind: In der ersten Februarwoche wurden zwei Refugee-Aktivisten abgeschoben.

Es gibt zwei zentrale Merkmale der Bewegung, durch die die Konstituierung der Bewegung als politisches Subjekt stattfindet. Erstens sind es die Forderungen, die dazu dienen, auf Probleme und Widersprüche im österreichischen Asylverfahren und europäischen Asylregime aufmerksam zu machen. Zweitens sind es die Protestaktionen und Handlungen, mittels derer sich die Flüchtlinge vom Rand der Gesellschaft, von einer prekären, mit wenig Rechten ausgestatteten Position, ins Zentrum bewegen. Flüchtlinge als TrägerInnen dieser Bewegung sprechen für sich selbst, vermitteln ihre Forderungen, ermächtigen sich zu politischen Subjekten und ändern dadurch die dominanten Diskurse und Politikformen. 

Bevor ich die Forderungen und Handlungen der Bewegung und damit die Konstituierung der Bewegung als politisches Subjekt näher darstelle, möchte ich zunächst eine Beschreibung der europäischen und österreichischen Politik voranstellen, um die Proteste zu kontextualisieren. 

Österreichische und europäische Asylpolitiken 

Maßnahmen wie Visapflicht, Sichere-Drittstaaten-Regelung, Bekämpfung irregulärer Migration durch bilaterale Abkommen, Verlagerung der Grenzpolitiken auf die Transitstaaten und Steigerung der Grenzkontrollen machen es Asylsuchenden zunehmend schwerer, in den westlichen Staaten Schutz zu finden. Diese Maßnahmen führen dazu, dass es für Personen, die Schutz suchen, kaum möglich ist, die Reise in die Länder des Westens legal zu gestalten. Um es bis zum Asylverfahren zu schaffen, werden Asylsuchende oft in die Irregularität gezwungen und nehmen Dienstleistungen von FluchthelferInnen bzw. SchlepperInnen in Anspruch. 

Während Asylsuchende in ihrem Heimatland verfolgt werden oder aus Krisen- und Kriegsregionen fliehen und in anderen Staaten Schutz suchen, versuchen nationalstaatliche Regulierungen Kontrolle darüber zu erhalten, wer und wie viele Menschen in das Hoheitsgebiet des Nationalstaates einreisen. Asylsuchende fordern das System der nationalstaatlichen Einwanderungskontrolle heraus, weil sie u. a. über informelle Wege in ein Land einreisen. Der Flüchtling tritt hier als Subjekt auf, das die territoriale Ordnung des souveränen Staates provoziert. 

Seit Ende der 1980er-Jahre werden Flüchtlinge vermehrt als Bedrohung der nationalen Sicherheit betrachtet, die die Basis der Wohlfahrtsstaaten untergräbt. In der Folge wurde der Schutz des individuellen Asylrechts, der der Genfer Flüchtlingskonvention zugrunde liegt, in vielen europäischen Ländern eingeschränkt. Seit Anfang der 1990er-Jahre wurden in Österreich eine Reihe von restriktiven Maßnahmen verabschiedet. Asylsuchende, die Missbrauch betreiben, wurden zur diskursiven Schlüsselfigur in den Regierungsdebatten und offiziellen Dokumenten. 

In Stellungnahmen zu den Fremdenrechtspaketen 2005 und 2009 bezeichneten VertreterInnen der FPÖ, ÖVP und SPÖ die Reformen als einen „Meilenstein gegen den Missbrauch im Asylbereich“. Im Programm der Regierung Schüssel II hieß es: „Durch ein klar geregeltes Asylverfahren ist es beabsichtigt, diese Form der Einwanderung durch die Hintertür, durch illegale Migration und folgende Asylantragstellung zu verhindern.“ Elemente dieses Asylmissbrauchsdiskurses sind auch in Gesetzestexten zu finden. In den erläuternden Bemerkungen zum Asyl- und Fremdenpolizeigesetz von 2005 etwa finden sich Ausdrücke wie „sich dem Verfahren entziehen“, „oft behauptet, sie seien traumatisiert“ und „Asyltourismus“. 

Dieser Diskurs steht in engem Zusammenhang mit der Verschärfung der asylpolitischen Regelungen, insbesondere in den Bereichen, die für die Asylsuchenden Rechtssicherheit im Asylverfahren gewährleisten. In den letzten zehn Jahren ist der Zugang zu den Rechtsinstrumenten im Asylverfahren zunehmend erschwert worden, z. B. ist es schwieriger geworden, Folgeanträge zu stellen, die Klagemöglichkeiten bei höheren Instanzen wurden eingeschränkt. Auch der Zugang zu einer unabhängigen Rechtsberatung wurde in diesem Prozess schwieriger. Darüber hinaus kam es zu Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch Gebietsbeschränkungen, zur Ausweitung der Schubhaftpraxis und zu einer Mobilitätssperre in der ersten Woche in Erstaufnahmezentren. Insgesamt führten die Veränderungen in dieser Phase zu einer Aushöhlung der rechtlichen Grundlagen beim Zugang zum Asylverfahren, im Asylverfahren und im Grundversorgungssystem. 

Die Bewegung 

Die Figur des Flüchtlings ist historisch gesehen eng mit der Idee des Widerstands verbunden. Die Handlung, das eigene Land zu verlassen, weil die sozialen und politischen Umstände unerträglich sind, ist an sich bereits ein politischer Akt. In den letzten zehn Jahren fanden – parallel zur Verschärfung des europäischen Migrationsregimes – vermehrt selbstorganisierte Proteste von Flüchtlingen statt. Der Ansturm von MigrantInnen und deren Selbstorganisation in Marokko um die spanische Exklave Melilla (2005) ist ein Beispiel dafür: In den Gettos vor Melilla wurden Leitern gebaut, Tausende versuchten, die Grenzzäune zu überwinden. Die Antwort auf diese Bewegung war Repression gegen MigrantInnen und Asylsuchende in Marokko und die Verschärfung der europäischen Grenzpolitiken. 

Vielfältige Strategien, Solidarität zwischen Einzelnen und die entstehenden Freundschaften bilden Formen der Politisierung gegen die herrschenden Gewaltverhältnisse. Auch die Flüchtlinge auf Lesbos (GR) kämpften 2009 für Bewegungsfreiheit, gegen die Bedingungen im Lager Pagani und für dessen Schließung. 

Die aktuellen Kämpfe in Amsterdam, Berlin, Budapest, Den Haag, Lille sowie an den Außengrenzen der EU beruhen auf ähnlichen Erfahrungen und Praxen. Flüchtlinge ziehen in organisierten Märschen von der räumlichen Peripherie in die Städte, protestieren vor nationalen Parlamenten und bauen im Zentrum der Städte Protest-Camps auf. In Berlin zelteten sie vor dem Brandenburger Tor. In Den Haag und Amsterdam wurde, wie in Wien, Kirchenasyl gesucht, Hungerstreik kommt in vielen Städten als politisches Mittel zum Einsatz. Gemeinsame Forderungen der Flüchtlingsbewegung auf europäischer Ebene gibt es nicht, aber eine widersprüchliche Asylpolitik auf der europäischen Ebene führt zu identischen oder ähnlichen Forderungen. 

Widerstand von Asylsuchenden in Österreich 

Die Protestaktion der somalischen Flüchtlinge und das Refugee Protest Camp Vienna stellen eine neue Qualität des selbstorganisierten Widerstands von Asylsuchenden in Österreich dar, um die Isolation zu durchbrechen. Die Forderungen stehen dabei im Zentrum der Bewegung, womit der Kampf um die Konstituierung des politischen Subjekts einhergeht. In diesem ersten Schritt melden sich Flüchtlinge selbst, als AkteurInnen, zu Wort. Was die Stärke der Forderungen ausmacht, ist schon der Umstand, dass Flüchtlinge, die aufgrund des fehlenden rechtlichen Status keine politischen Forderungen stellen dürfen, nicht Teil der souveränen Macht und nicht inkludiert sind, diese jetzt stellen. Eine solche Politisierung ist aber auch mit vielen Risiken verbunden. Asylsuchende können abgeschoben werden, wenn sie Widerstandspraxen individuell tätigen. Die Forderungen in organisierter Form in die Öffentlichkeit zu tragen, bildet die Stärke der Bewegung. 

Die Aktionstage der somalischen Flüchtlinge von 10. bis 12. Oktober war die erste von Asylsuchenden und Flüchtlingen organisierte Protestbewegung in Österreich, die Forderungen stellte, eine Demonstration organisierte und Kommunikation mit der Öffentlichkeit und EntscheidungsträgerInnen suchte. Ein zentrales Thema bildete der subsidiäre Schutz, der in vielen Fällen anstelle einer Anerkennung des Flüchtlingsstatus vergeben wird. Der subsidiäre Schutz ist in der Regel auf ein Jahr beschränkt und erschwert Arbeits- und Wohnungsfindung sowie Familienzusammenführungen, womit er zu einer anhaltenden Unsicherheit führt. 

Weitere Kritikpunkte betrafen willkürliche und intransparente Asylentscheidungen ohne entsprechende Berücksichtigung von Fluchtgründen und undurchschaubare Sprachidentifizierungsverfahren, die von GutachterInnen per Telefon durchgeführt werden. „In völliger Verkennung der Realität behaupten österreichische Behörden, die Lage in Somalia habe sich stabilisiert und es sei möglich, dorthin zurückzukehren. Aber im Land herrscht nach wie vor Krieg.“ 

Forderungen des Refugee Camp Vienna 

Ähnliche Forderungen, die die Verbesserung des Grundversorgungssystems und des Asylverfahrens betreffen, standen prominent auf der ersten Liste der Forderungen der Flüchtlinge im Sigmund-Freud-Park. Die Asylsuchenden forderten besseren Zugang zur Gesundheitsversorgung, die Begleitung durch DolmetscherInnen bei Arztbesuchen, ausreichendes und gesundes Essen, bessere Arbeitsbedingungen in Traiskirchen, den Schulbesuch für Kinder in regulären, österreichischen Schulen und Zugang zu modernen Kommunikationsmitteln (Internet, internationale Fernsehsender). Sie beklagten fehlende Winterkleidung, unzureichendes Taschengeld und schlechte Qualität der Wohnmöglichkeiten. Sie wünschten mehr Angebote an Deutschkursen sowie berufliche Ausbildung. 

Bezüglich des Asylverfahrens forderten die Asylsuchenden eine bessere Qualifikation der ÜbersetzerInnen, weil sie u. a. fehlerhafte Übersetzungen machen, und Rechtsberatung in ihrer eigenen Sprache. Sie stellten sich gegen die Überstellungen in isolierte Unterkünfte fernab der Städte. Damit forderten sie Bewegungsfreiheit, und dass die Wünsche und Bedürfnisse der Flüchtlinge bei der Wahlmöglichkeit des Wohnorts berücksichtigt werden. 

Vier Tage nach diesen ersten Forderungen haben die Flüchtlinge eine Liste unter dem Titel „dringende Forderungen“ erstellt, die auf zwei Kernforderungen beruhte: Erstens die Forderung nach einem legalen Aufenthalt bzw. Bewegungsfreiheit: „Löscht unsere Fingerabdrücke, sodass wir in einem anderen Land um Asyl ansuchen können und nicht abgeschoben werden“. Die Dublin II-Regelung steht damit im Zentrum der Kritik, eine Regelung, die u. a. bedeutet, dass in Länder wie Ungarn, Italien, Malta oder die Slowakei abgeschoben werden kann, „wo Flüchtlinge über Monate eingesperrt oder ohne jegliche Unterstützung auf die Straße geworfen werden“. Die zweite Forderung ist die nach dem Zugang zum Arbeitsmarkt. „We don’t want charity, we want to work and pay our taxes”, stellte ein Flüchtling fest. 

Die Flüchtlinge als politische AkteurInnen 

Im Zuge der Proteste kam es zu einem zweiten Schritt: Die Flüchtlinge traten vermehrt als politische AgentInnen und AkteurInnen auf und beschleunigten durch konkrete politische Aktionen die Formation der politischen Bewegung. Handlungen wie Schutzsuche in der Kirche (Kirchenasyl) und Hungerstreik bilden wichtige Momente, um die Forderungen der Öffentlichkeit zu kommunizieren und mit EntscheidungsträgerInnen zu verhandeln. Den Anfang dieses Prozesses machte die Schutzsuche der Flüchtlinge in der Votivkirche. Dies beruht auf der Tradition des Kirchenasyls in mehreren europäischen Ländern, wie in Frankreich oder in der Schweiz und aktuell in den Niederlanden. Am 22. Dezember gingen die Flüchtlinge in den Hungerstreik, der mit einer Unterbrechung Ende Jänner bis zum 18. Februar anhielt. 

In diesem zweiten Schritt wurden die konkreten Forderungen von einer Mischung aus konkreten und strategischen Forderungen abgelöst, die eine universalistische und vermehrt politische Sprache benutzt: Die Anerkennung von sozioökonomischen Fluchtmotiven neben den bisher anerkannten Fluchtgründen bildet so ein Beispiel. Diese Phase bildet den nächsten Schritt für die Konstituierung der Bewegung als politisches Subjekt, das die Widersprüche der österreichischen und europäischen Asylpolitik hervorhebt. Die Radikalisierung der Politik hat aber auch Konsequenzen: Die Kräfte gegen die Bewegung agieren zunehmend repressiver. Umso bedeutender ist es, dass die Bewegung neue Felder öffnet und andere Kräfte miteinschließt. 


Anmerkung 
Die Langversion dieses Texts unter: http://transversal.eipcp.net