Deutsche Lebensläufe

Wie NS-Rechtswissenschaftler nach 1945 weiter lehrten und schrieben

Wir befinden uns in Berlin, im Amtsgericht Schöneberg. An diesem Tag, dem 16. September 1938, geht es um die Kündigung einer kleinen Zweizimmerwohnung.

Die Mieterin, eine Jüdin, lebte in dieser Wohnung seit 1927, ohne dass sie dem Vermieter Anlass zur Klage gegeben hätte. Nun wird die Kündigung durch den Richter bestätigt, da die Frau sich, wie es in § 2 des vom Gericht angewandten Mieterschutzgesetzes heißt, einer "erheblichen Belästigung des Vermieters schuldig" gemacht habe.1 Das Gericht verkündet: Das Mieterschutzgesetz setze die Zugehörigkeit zur "Hausgemeinschaft" voraus. Die Hausgemeinschaft sei ein Teil der Volksgemeinschaft. Juden gehörten wegen des Rassenunterschiedes jedoch nicht der Volksgemeinschaft, ergo auch nicht der Hausgemeinschaft an. Wenn die Frau ihre Wohnung auf Wunsch des Vermieters nicht räume, verkündet der Richter, so störe sie die arische Hausgemeinschaft im Sinne einer "erheblichen Belästigung". Urteile wie dieses fanden ihre juristische Vorbereitung in der Konstruktion der rassistisch gestuften Rechtsfähigkeit durch den von Carl Schmitt und Karl Larenz geprägten Begriff der Rechtsperson, der bedeutet: "Entscheidend für die Rechtsstellung des Einzelnen ist nicht mehr sein Personsein überhaupt, sondern sein konkretes Gliedsein."2 Diese Kategorien wurden im juristischen Schrifttum weiter konkretisiert ("Wir kennen dann keine Rechtsperson an sich und auch keine Rechte an sich mehr, wir kennen nur noch Volksgenossen und volksgenössische Berechtigungen. (Â…) Jedenfalls ist der abstrakte Begriff ‚MenschÂ’ oder ‚RechtspersonÂ’ für uns wertlos geworden."3) und von der Rechtssprechung umgesetzt, wie im Amtsgericht Schöneberg geschehen.

Fahnen im Wind

So hat die Rechtswissenschaft ihren Teil zur Entrechtung der Jüdinnen und Juden beigetragen. 1939 hatte der "Nationalsozialistische Rechtswahrerbund" kundgetan, der "nationalsozialistische rechtswissenschaftliche Hochschullehrer" sei "heute ein festes Glied des deutschen Rechtswahrerstandes, in dem er seine ständische Heimat gefunden hat."4 Viele dieser "Rechtswahrer" sind auch heute jeder Juristin und jedem Juristen ein Begriff, etwa Otto Palandt, Edmund Mezger, Theodor Maunz und Karl Larenz.5 Der Grund hierfür ist, dass diese Hochschullehrer6 auch über das Jahr 1945 hinaus lehrten, Bücher veröffentlichten, und das heutige Rechtssystem mit aufgebaut haben, als hätte das "Dritte Reich" nie bestanden. Beispielhaft für die Karrieren vieler dieser deutschen Hochschullehrer, die sowohl vor, als auch nach 1945 an deutschen Universitäten zu Ansehen gelangten, sind die Werdegänge der Staatsrechtler Ernst Forsthoff und Günther Küchenhoff.

Ernst Forsthoff

Ernst Forsthoff, geboren 1902, veröffentlichte 1933 seine Abhandlung "Der totale Staat", wofür er mit einer Professur in Frankfurt belohnt wurde. In seinem Werk widmet er sich dem Führerprinzip, welches eigentlich nicht formuliert, sondern nur "metaphysisch" nachvollzogen werden könne, und dies auch nur von Menschen deutschen Blutes: "Es ist ein der politischen Erlebniswelt verhafteter Vorgang. Man kann ihn Ausländern nur schwer verdeutlichen. Führung ist Einheit, zu der Führer und Gefolgschaft verschmolzen ist."7 Was folgt daraus? "Das bürgerliche Zeitalter wird liquidiert, und es ist die Verheißung einer besseren Zukunft, dass dies mit rücksichtsloser Entschlossenheit geschieht."8 Nach Kriegsende wurde er auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung aus dem Dienst entlassen, kehrte aber 1952 wieder auf seinen Universitätssessel zurück und lehrte dort bis 1967 seine StudentInnen Verwaltungsrecht. 1950 erschien sein Lehrbuch in erster, 1976 bereits in zehnter Auflage. 1960 wurde er zum Präsidenten des zypriotischen Verfassungsgerichts berufen. Auch in Deutschland wusste man seine Person zu schätzen, kurz darauf erhielt Forsthoff den Konrad-Adenauer-Preis der Deutschland-Stiftung. Allein, als die Universität Wien ihn anlässlich ihrer 600-Jahr-Feier zum Ehrendoktor ernennen wollte, wurde protestiert, Forsthoff verzichtete. 1974 wurde er mit allseitigem Ruhmeswort zu Grabe getragen.

Günther Küchenhoff

40 Jahre zuvor verfasste Günther Küchenhoff, 1934 noch Fakultätsassistent an der Breslauer Universität, die Broschüre "Nationaler Gemeinschaftsstaat - Volksrecht und Volksrechtsprechung", in der er den Grundstein der von ihm vertretenen "neuen Staatsrechtslehre" legte. Grundlage für diese Lehre als auch für Küchenhoffs nicht enden wollende Karriere war die "Erkenntnis von der Scheidung der Völker und Menschen nach Rassen" und die "Erkenntnis, dass die Rasse der Ursprung jeder geistigen Äußerung ist. Aus rassemäßiger Verwandtschaft - insbesondere durch das Bindemittel des nordischen Blutes - bildet sich die Volksgemeinschaft, deren Erhaltung und Förderung der Staat zu dienen hat."9 Hieraus folgert Küchenhoff: "Der rassischen Höherbegabung des Führers muss ferner die ihr gebührende entscheidende Stellung in der Mitbildung von Rechtsgewissen des Volkes, und sei es auch eine erzieherische Mitbildung dieses Rechtsgewissens, zugewiesen werden."10 Auch Günther Küchenhoff durfte nach 1945 die deutschen StudentInnen weiterhin an seiner Weisheit teilhaben lassen. In der Einleitung der Gedächtnisschrift zum Tode Küchenhoffs im Jahre 1983, die auch einen Beitrag von Theodor Maunz enthält, findet sich zu seinem Beitrag zur Ideologie des "Dritten Reiches" kein Wort.

Null "Stunde Null"

Wie nun konnte es zu diesen Kontinuitäten kommen? Warum wurden diese furchtbaren Juristen nicht mit Schimpf und Schande von ihren Lehrstühlen gefegt? Ironischerweise wehrte sich die Professorenschaft gegen jeden Eingriff in die Universitäten mit dem Argument, eine Entwicklung wie nach 1933 sei allein durch die Eindämmung des Staatseinflusses und gleichzeitiger Stärkung der Hochschulautonomie zu vermeiden. Dies ist an sich schon richtig, wurde zuvor aber ganz anders gehandhabt. Bereits 1936, also fünf Jahre vor der gesetzesförmigen Pflicht aller Jüdinnen und Juden, einen gelben Stern auf der Kleidung zu tragen, beschlossen 100 teils namhafte, allesamt jedenfalls sehr staatstreue Hochschullehrer auf der Tagung "wider den jüdischen Geist" in Berlin, dass künftig bei wissenschaftlichen Arbeiten jedeR zitierte jüdische AutorIn als solcher durch den Zusatz ("Jude") kenntlich zu machen sei.11 Ab 1933 wurden Liberale und Demokraten, vor allem aber Wissenschaftler jüdischer Herkunft aus den Universitäten verbannt. Fast ein Drittel der Professoren verloren so ihren Posten, bis 1939 wurden in der Rechtswissenschaft sogar 60 Prozent der Lehrstühle neu besetzt.12 Wer also berief sich auf die Hochschulautonomie? Solche Professoren, die im "Dritten Reich" Karriere gemacht hatten einerseits, eine Gruppe konservativer Opportunisten andererseits. Diese Professorenschaft kümmerte sich in den Folgejahren um die Wiederaufnahme der entfernten Kollegen. Anstatt jedoch die Lehrstühle mit von den Nazis vertriebenen Hochschullehrern zu besetzen, kamen andere in den Genuss: Nur 17 Prozent der von den Nazis vertriebenen Ordinarien wurden wieder in ihre Ämter berufen.13 Karl Larenz, Ernst Forsthoff, Günther Küchenhoff, Theodor Maunz, Hans-Peter Ipsen, Erich Schwinge und Hans Welzel, um nur einige zu nennen, welche alle die nationalsozialistische Rechtsordnung geformt hatten und von den Alliierten zunächst suspendiert worden waren, sie alle wurden wieder von den Fakultäten aufgenommen und prägten weiter die herrschende juristische Meinung. Entgegen den ersten Plänen kam es nicht zu einem völligen Neubau des positiven Rechts, sondern nur zu einer punktuellen Entnazifizierung. So manches Buch und Vorlesungsskript erwies sich jenseits der "Rechtsperversion" nach einigen Retuschen und Änderungen als weiter verwendbar.14 Die für das juristische Studium wie auch für die Praxis so wichtigen Gesetzeskommentare erschienen, als habe sich nichts geändert, von denselben Autoren bearbeitet in Neuauflage - allen voran der "Palandt".

Pharisäische Selbstgerechtigkeit

Von schlechtem Gewissen war dabei wenig zu spüren. Vielmehr durften sich die Akteure von vor und nach 1945 zu Richtern über das Verhalten der Juristen im "Dritten Reich" aufschwingen. Die Verantwortung für das Terrorregime sahen die Rechtsgelehrten dabei allein bei der politischen Führung. Beim Juristentag 1947 verkündete der Strafrechtsprofessor Eberhard Schmidt: "Nicht die Justiz, sondern ganz allein der Gesetzgeber hat die Fahne des Rechts verlassen. Und mit der Verantwortung für die Folgen dürfen heute weder Rechtslehre noch Justiz beladen werden, da diese ganz allein den um jeden rechtlichen Halt gekommenen Gesetzgeber trifft."15 Klare Worte also. Ähnlich klar äußerte sich Jahre später der erste Bundesgerichtshofspräsident und frühere Reichsgerichtsrat Hermann Weinkauff, der der Nachkriegsgeneration geradezu ein Denkverbot auflegte. Er wandte sich gegen die "moralische Abwertung (Â…) der Generation, die den Nationalsozialismus nicht gestaltet, sondern erlitten hat, eine Haltung, in der sich pharisäische Selbstgerechtigkeit mit einer oft kindlichen Unkenntnis der beurteilten Verhältnisse paart", sprich: eine "rechtsfremde Kritik" und "bösartige Justizhetze."16 Das darf dann wohl als Aufforderung verstanden werden. Schließlich gilt: Wer das Glück wissenschaftlicher Bildung hat, ist der Politik, der er dient, zuzurechnen.17 Moritz Assall studiert Jura in Hamburg. 1 Das Urteil ist nachzulesen in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1938, 3045. 2 Karl Larenz, Deutsche Rechtserneuerung und Rechtsphilosophie, 1934, 40. 3 Siebert, DRW I, 1936, 28. 4 Von Schwerin, in: Der deutsche Rechtsstand, 1939, 279. 5 Zu letzteren Dreien: Tobias Lieber, Biographien ohne Brüche, in: Forum Recht, Wozu Jura studieren?, 12. 6 Angesichts der damaligen Gegebenheiten wird z.T. allein die männliche Form benutzt. 7 Ernst Forsthoff, Der totale Staat, Hamburg 1933, 30. 8 Ebenda, 17. 9 Günther Küchenhoff, Nationaler Gemeinschaftsstaat - Volksrecht und Volksrechtsprechung, Berlin/Leipzig 1934, 9. 10 Ebenda, 27. 11 Bernd Rüthers, Recht als Waffe des Unrechts, NJW 1988, 2836. 12 Ingo Müller, Furchtbare Juristen, 237. 13 Ingo Müller, Furchtbare Juristen, 238. 14 Joachim Rückert, Abbau und Aufbau der Rechtswissenschaft nach 1945, NJW 1995, 1253. 15 Tagung deutscher Juristen Bad Godesberg 1947, Reden und Vorträge, Hamburg 1947, 231. 16 Helmut Fangmann, Norman Paech (Hrsg.), Recht, Justiz und Faschismus, Köln 1984, 88. 17 So Horst Heinrich Jakobs, Karl Larenz und der Nationalsozialismus, Juristenzeitung 1993, 815.