Waffenwahnsinn

USA – das Geschäft nach dem Massenmord

»Jeder US-Bürger hat das Recht, eine Schusswaffe zu besitzen!« So interpretieren US-amerikanische Waffenfanatiker den zweiten Verfassungszusatz. Dabei war es, wie Augenzeugen berichten, wie im Krieg, als Stephen Paddock aus dem 32. Stock des Mandalay Bay Hotels einen Kugelhagel auf die Besucher eines Country-Konzerts in Las Vegas niederprasseln ließ. Der super-owner, einer der schätzungsweise 7,7 Millionen US-Bürger, die zwischen acht und 140 Schusswaffen besitzen, ermordete 58 Menschen und verletzte 527.

Geschehen konnte dies u.a. auch deshalb, weil der US-Bundesstaat Nevada eines der lockersten Waffengesetze hat. Die Verfassung gibt jedem Bürger das Recht, auf der Straße ganz offen eine Waffe zu tragen. Mehr als 300 Millionen Schusswaffen hat das Genfer Forschungsinstitut Small Arms Survey in den Vereinigten Staaten gezählt, davon 110 Millionen Gewehre. 3,7 Millionen Maschinengewehre des Typs AR-15, laut der Waffenlobby National Rifle Assoziation (NRA) das »beliebteste Gewehr« in den USA, sind legal im Umlauf – Paddock hatte sie mit einem »bump stock« für Dauerfeuer nachgerüstet. Exakte Zahlen existieren nicht, da es kein nationales Waffenregister gibt. In keinem anderen Staat der Welt sind so viele Waffen in Privatbesitz.

Längst gehören Massenschießereien zum US-Alltag. Für 2016 hat die Online-Datenbank Gun Violence Archive 383 Fälle von »mass shooting« erfasst und für 2017 haben die Statistiker bereits 273 Fälle gezählt. [1] Ein »mass shooting« liegt vor, wenn vier oder mehr Menschen durch Waffeneinsatz getötet werden – die Schützen nicht mit eingerechnet. Die vorläufige Bilanz für das laufende Jahr lautet: Durch Schusswaffen wurden 11.652 Menschen getötet und 23.512 verletzt. Der Waffenwahnsinn wird an folgenden Zahlen deutlich: In den vergangenen fünf Jahrzehnten wurden in den USA mehr Zivilisten (1,6 Millionen) durch Waffengewalt getötet als US-Soldaten (1,4 Millionen) in allen Kriegen der vergangenen 230 Jahre. [2]

 

Trump als Anwalt der Waffenlobby

US-Präsident Donald Trump, der seinen Wahlkampf auch zu einem Feldzug für das Recht auf Waffenbesitz gemacht hatte, nannte in seiner ersten Erklärung nach den tödlichen Schüssen weder die Tat beim Namen, noch machte er den legalen und unkontrollierten Zugang zu Waffen dafür verantwortlich. Stattdessen versteckte er sich hinter Phrasen über das »absolute Böse«, als habe nicht ein Mensch, dem der Staat es erlaubt hatte, sich bis an die Zähne zu bewaffnen, sondern eine überirdische Macht geschossen.

»The Show must go on«, zu keiner Stadt passt der Satz besser als zu der »Stadt des Amüsements«, er passt aber auch zum politischen Establishment in Washington. Auf jedes blutige Attentat folgt dasselbe Ritual: Trauer und Abscheu über die Tat, Flaggen werden auf halbmast gesetzt. Politiker twittern ihren Schock über den barbarischen Blutzoll und senden den Familien der Opfer ihre »Gedanken und Gebete«. Gleichzeitig werden Rufe nach strengeren Waffengesetzen laut, woraufhin die NRA sofort ihre Lobbyisten in Washington in Bewegung setzt, um solche Forderungen im Keim zu ersticken. So erklärte Matt Bevin, der Gouverneur von Kentucky, an »die Adresse aller Opportunisten«, die nun »die Tragödie von Las Vegas für den Ruf nach schärferen Waffengesetzen« missbrauchen, »man kann das Böse nicht regulieren«.

Die nationale Mythologie, die sich um Waffen rankt, trägt dazu bei, dass 74% der Waffenbesitzer der Ansicht sind, das Recht, eine Waffe zu besitzen, sei »wesentlich« für ihre Freiheit, so das Ergebnis einer Umfrage des Wirtschaftsberatungsinstituts Pew Research. Waffen seien Teil des »amerikanischen Gründungsmythos« und ein »Kernbestandteil des amerikanischen Lebens«, schreib die Historikerin Cari Babitzke in der Washington Post.

In der immer wieder aufflammenden politischen und juristischen Debatte berufen sich die Waffenfreunde auf den Zusatzartikel zur Bill of Rights: »Da eine wohlgeordnete Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.« Der zweite Verfassungszusatz aus dem Jahr 1791 bezog sich allerdings auf Gewehre, die mühselig mit Schwarzpulver geladen werden mussten, um einen Schuss abzugeben, und nicht auf Maschinengewehre, wie sie Stephen Paddock für seine mörderische Tat benutzte.

Die Waffenkäufe werden auch nach dem Gemetzel von Las Vegas weiter zunehmen, so wie nach 2007, als an der Technischen Universität des Staats Virginia 32 Menschen erschossen wurden, oder wie nach 2012, als an der Elementarschule in Sandy Hook im Staat Connecticut 20 Kinder und sieben Lehrerinnen starben, bzw. wie nach 2016, als im Latino-Nachtklub »Pulse« in Orlando 49 DiscobesucherInnen, unter ihnen viele Homosexuelle, erschossen wurden. Dahinter verbirgt sich die zynische Logik: Bevor die Regierung und der Kongress in Washington eventuell ernst machen und die Waffengesetze verschärfen – jetzt Waffen kaufen.

Andererseits zeigen Umfragen auch, dass Teile der US-amerikanischen Bevölkerung für mehr Regulierungen offen sind, zum Beispiel für sogenannte »Background checks«, also Informationen über die Käufer, und für Verkaufsverbote an Personen, die sich in psychologischer Behandlung befinden. Immer wieder wird auch diskutiert, ob die Zahl der Waffen, die ein Einzelner kaufen kann, limitiert werden soll. Gemäß Vergleichsstudien mit anderen Ländern würden diese Maßnahmen die Anzahl der Schießereien und Todesopfer reduzieren. Verwiesen wird auf Australien, das 1996 nach einem Amoklauf ein Verbot von halbautomatischen Gewehren und Pumpguns erließ und verfügte, dass über 600.000 Waffen zurückgekauft werden. Die Zahl der Menschen, die durch Schusswaffen ums Leben kommen, konnte auf diesem Kontinent halbiert werden.

Die Verantwortlichen dafür, dass der Waffenwahnsinn in den USA nicht gestoppt wird, haben Namen und Adressen. Zu ihnen gehören konservative Richter, die das in der Verfassung verbriefte, aber unklar formulierte Recht auf Waffenbesitz als ein individuelles und absolutes Recht interpretieren. So entschied das Oberste Gericht 2008 im Interesse der Befürworter liberaler Waffengesetze, dass das Second Amendment die Rechte Einzelner auf den Besitz und das Tragen von Waffen schützt.

Zu den Verantwortlichen gehören die Waffenhersteller, die für ihre todbringende Ware immer neue Käufergruppen finden. Nach dem Las-Vegas-Massaker schossen die Aktienkurse nach oben. Smith & Wesson-Produzent American Outdoor Brands legte um mehr als drei Prozent zu und Sturm Ruger & Co sowie Vista Outdoor gewannen mehr als drei bzw. mehr als zwei Prozent. Anleger rechnen damit, dass der Absatz der Waffen kurzfristig steigt. Insofern ist der US-Markt auch für deutsche Waffenproduzenten lukrativ. Die Oberndorfer Waffenschmiede Heckler & Koch baut derzeit in Columbus im US-Bundesstaat Georgia für 23 Millionen Dollar eine Pistolenproduktion für den zivilen US-Markt auf. Auch der norddeutsche Konkurrent SIG Sauer ist im größeren Stil in den USA tätig. Sie alle gehören zu den Finanziers der NRA. [3]

Mit zu den Verantwortlichen zählt die einflussreiche und aggressive Waffenlobby NRA, die in den USA rund fünf Millionen Mitglieder hat und über große finanzielle Ressourcen verfügt, die sie einsetzt, um Kampagnen gegen nicht willfährige Gesetzgeber zu finanzieren und um treue Abgeordnete zu unterstützen. Es sind diese »parlamentarischen« Lobbyisten, die in Washington gebraucht werden, um jede Einschränkung oder auch nur eine systematische zentrale Erfassung von Waffenbesitz zu verhindern bzw. bestehende Gesetze zu verwässern. Allein im Wahlkampf 2016 gab die NRA für politische Lobbyarbeit fast 55 Millionen Dollar aus.

 

Einzug der Waffenlobby in das Weiße Haus

Mit Donald Trump ist die Schusswaffenlobby wieder im Weißen Haus angekommen. Es war die NRA, die Trumps Kandidatur finanziell und propagandistisch unterstützte und ihm mit zum Sieg verhalf. Schon im Wahlkampf pries der Präsidentschaftskandidat die NRA mit den Worten, »das sind sehr, sehr gute Leute«. Als erster US-Präsident seit Ronald Reagan hielt Trump auf der NRA-Jahrestagung eine Rede und schwor der Waffenorganisation die Treue: »Ihr habt einen wahren Freund im Weißen Haus«. Seine Regierung werde nicht versuchen, das Recht auf Waffenbesitz einzuschränken. Zufrieden wurde die Ankündigung des Präsidenten, er werde die »waffenfreien Zonen an Schulen« abschaffen, zur Kenntnis genommen.

Tatsächlich versuchen Trump und die Republikaner seit dem Regierungswechsel im Januar dieses Jahres, die Waffengesetze zu lockern. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit revidierte Trump eine Bestimmung seines Amtsvorgängers Barack Obama, die beim Waffenkauf neben der üblichen Überprüfung der Vorstrafen eine Abfrage bei der Sozialbehörde verlangt, um festzustellen, ob der Betroffene eine medizinische Behandlung oder Medikamente wegen psychischer Krankheiten erhält.

Im September brachte der zuständige Kongressausschuss den Entwurf für ein »Gesetz zur Förderung der Jagdkultur und der Freizeitaktivitäten« auf den Weg, mit dem die bisherigen Auflagen für den Verkauf von Schalldämpfern aufgehoben werden sollen. In der Begründung heißt es zynisch, durch die Schalldämpfer würden »Hörschäden bei den Sportschützen« verhindert und der »Lärm für die Anwohner von Schießständen« verringert. Den Republikanern war das zeitliche Zusammentreffen ihrer Initiative im Kongress mit dem Massaker in Las Vegas allerdings etwas peinlich, sodass der Sprecher des Repräsentantenhauses, Paul Ryan, zunächst abwiegelte: »Das Gesetz steht derzeit nicht auf unserem Fahrplan.« Wie lange die politische Schamfrist dauert, ist offen.

Fast 90% der US-Bürger würden strengere Waffengesetze fordern, verlautbarte der amerikanische Filmemacher Michael Moore und meinte, es sei »keine Demokratie, wenn ein paar Bösartige entscheiden, was Gesetz wird.« Der öffentliche Druck angesichts der blutigen Bilder in der Casino-Stadt in Nevada veranlasste die NRA zu einer vermutlich nur symbolischen Kurskorrektur. Um eine breite öffentliche Debatte zu stoppen, gab die NRA der Republikanischen Partei grünes Licht für eine Überprüfung der Vorschriften zu bump stocks, mit denen das Verbot vollautomatischer Waffen [4] umgangen werden kann. Knapp 100 Dollar kostet ein bump stock im Internet, wie die Montage an ein Sturmgewehr funktioniert, erklären dreiminütige YouTube-Videos. [5]

Die Macht der Waffenlobby zu brechen und die US-Waffengesetze zu verschärfen, würde jedoch ein politisches Umdenken insbesondere in der Republikanischen Partei erfordern. Es müsste sich im Land die Einsicht durchsetzen, dass die NRA keine Bürgervertretung ist, sondern die Lobby der Waffenindustrie, die ihre Profite mit »Mordinstrumenten« verdient. Barack Obama sagte im Juni 2014: »Wenn die öffentliche Meinung den Kongress nicht zwingt, etwas zu ändern, wird sich nichts ändern.« Mit der bitteren Konsequenz, dass der Wahnsinn des mass shooting weitergehen wird. Schon am Montag nach dem Massaker in Las Vegas wurden in der Universitätsstadt Lawrence im Staat Kansas drei junge Menschen erschossen und zwei verletzt.


[1] Vgl. »Amerika tötet sich«, NZZ, 2.10.2017.
[2] Vgl. »Anzahl der Toten durch Schusswaffen in den USA ist höher als Zahl von Kriegsopfern«, Jetzt.de, 15.6.2016.
[3] Vgl. Blood Money ll-Report: How Gun Industry Dollars Fund the NRA, Violence Policy Center Washington, September 2013
[4] Das letzte Waffenkontrollgesetz, das der US-Kongress verabschiedete, war das Verbot von Sturmgewehren im Jahr 1994. Es verfügte über eine zehnjährige Auslaufklausel, die 2004 wirksam wurde.
[5] Selbst dieses kleine Zugeständnis in Sachen bump stocks, das noch lange nicht umgesetzt ist, macht die US-amerikanischen Waffenfanatiker nervös. Die befürchtete Regulierung treibt die Verkäufe an, zahlreiche Hersteller melden: ausverkauft. Slide Fire Solutions, der Erfinder der Vorrichtungen aus Texas, stoppte wegen zu hoher Nachfrage vorläufig den Verkauf auf seiner Website (Zeit online, 11.10.2017).