Wir sind der Staat?

Pünktlich, sechs Monate vor der nächsten Bundestagswahl, hat die studierte Journalistin Daniela Dahn, die Mitbegründerin des Demokratischen Aufbruchs von 1989 in der DDR und Teilnehmerin des damaligen Runden Tisches, ihr neuestes Buch mit dem Titel „Wir sind der Staat! Warum Volk sein nicht genügt“ herausgebracht. Die Autorin richtet ihr Augenmerk vom ersten Satz an auf die politische Seite der seit Jahren schwelenden gesellschaftlichen Krise. „Die einst geforderte Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat genügt nicht mehr – heute geht es um die Pflicht des Staates zum Gehorsam gegen den Bürger“, lautet dieser erste Satz einer harschen, gründlichen Kritik der repräsentativen Demokratie im Parteienstaat der bürgerlichen Gesellschaft.
Die Gründlichkeit basiert auf Ausflügen in die Geschichte der Staatsrechtstheorie bis hin zu Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant und etlichen späteren Staatsrechtlern. Dabei richtet D. D. ihren Focus immer wieder auf die „Doktrin vom Staat als juristische Person“ aus der Zeit des Vormärz im 19. Jahrhundert. Damals war das ein Fortschritt, so die Autorin. Denn mit dieser „Zauberformel gelang es …, dem Monarchen die Souveränität zu entziehen, ohne sie dem Volk zu geben, und statt dessen den Staat, als beide integrierendes, abstraktes Wesen, quasi zum Souverän zu machen. So konnte vorerst der juristische Machtkampf zwischen Herrschern und Untertanen durch eine Lehre neutralisiert werden, die die Rückkehr zur absolutistischen Fürstensouveränität genauso verhinderte wie den revolutionären Übergang zur Volksherrschaft.“ Denn das sei der Preis – der Staat als juristische Person entzieht dem Ideal der Volkssouveränität die gesetzliche Basis. Der Staat als Persönlichkeit soll dem Allgemeinwohl verpflichtet sein, löse aber nicht die Frage nach der Kontrolle dieser Persönlichkeit und der Entscheidungshoheit über die allgemeinen Interessen.
Die damalige Praxis sei bis heute vertraut – denn letztlich behielten die Herrscher ihre Souveränität weitgehend dadurch, dass die fürstlichen Rechte in Rechte des Staates verwandelt wurden. Die Privilegien wurden verrechtlicht und waren so noch weniger angreifbar. Nach der gescheiterten Revolution von 1848 sei das Volk rechtstheoretisch gar zum „Gegenstand der Staatsherrschaft“ degradiert worden, ohne dass klar umschrieben war, was diese Staatsperson wollen darf und kann. Für Frau Dahn „hinterlässt die Erhöhung des Staates zu einer Rechtsperson bis in die heutige politische Praxis hinein Spuren des 19. Jahrhunderts, während es darum geht, die Staatsrechtslehre den fortschreitenden Herausforderungen einer Demokratie anzupassen.“
An diesem Punkt wird bereits ein Problem markant, das sich im gesamten Buch äußert. Es besteht in der vorrangigen Behandlung der gesellschaftlichen Konflikte als Fragen des Rechts und der Rechtstheorie. Was denen zu Grunde liegt, die ökonomischen Interessenkonflikte sowie deren Wurzeln, bleibt weitgehend unberücksichtigt. Dieser Kritik könnte entgegen gehalten werden, andere hätten solche Beiträge überreichlich geleistet. Nur: Es waren vor allem Beiträge ausgehend von den desaströsen Erscheinungen und von deren bürgerlich-theoretischem Verständnis!
Um konkret zu werden: Es kommt doch wohl darauf an, die Staatslehre den sich verändernden gesellschaftlichen Erfordernissen anzupassen, die selbst wieder abzuleiten sind aus dem Wandel vor allem der ökonomischen Bedingungen infolge – besonders – technischer, organisatorischer und ökologischer Veränderungen. Es war doch primär der wissenschaftlich-technische Wandel, der seit der so genannten industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts die Wirtschaft und das Wirtschaften der Menschen, ja der ganzen Menschheit, immer wieder ausdehnte und qualitativ umwälzte. Im Verlaufe von nur rund 150 Jahren hat sich die ganze Art und Weise all dessen, was wir mit Produktion, Austausch und Konsumtion, also Erzeugung unseres Lebensunterhalts und Befriedigung unserer Bedürfnisse bezeichnen können, in einem Maße verändert, das an dieser Stelle kaum zu umreißen ist. Man möge sich nur einmal vorstellen, die ungeheuren, dem Wandel geschuldeten Warenströme heutiger Zeit sollten mit Goldmark der Kaiserzeit bezahlt werden. Unmöglich! Was ist inzwischen mit dem Geld geschehen? Es hat sich beziehungsweise wurde verwandelt: Aus einer Sache, einem Gegenstand, Gold, Ergebnis eines aufwendigen Produktionsprozesses, in eine elektronische Buchung auf Computern, entstanden durch eine Entscheidung, einen Beschluss eines Zentralbankrats. Früher war das Gold im Geld ein Faustpfand, eine Garantie dafür, dass man mit diesem Geld auf dem Markt, den niemand ordnete, Güter des eigenen Bedarfs kaufen konnte. Jeder Kauf und Verkauf war Privatsache, Tausch der Kontrahenten. Er konnte dies sein, weil seine Auswirkungen auf die Gesamtheit sich in engen Grenzen hielten und durch die „Marktkräfte“ tatsächlich reguliert wurden. Heute ist aus diesem ehemaligen Faustpfand ein allgemeines Lieferversprechen beziehungsweise eine Leistungsquittung einerseits und eine Anspruchsberechtigung andererseits geworden. Dass dies eingehalten wird beziehungsweise eingelöst werden kann, hat logischerweise derjenige zu garantieren, der es gegeben, mehr oder weniger „erzeugt“ hat – der Staat mit seiner Zentralbank, der mehr und mehr zum Organisator des gesellschaftlichen Zusammenlebens geworden ist.
Aus solch neuer Rolle des Staates als Folge des ökonomischen Wandels, der sich schon im vorigen Jahrhundert vollzogen hat, wären rechtliche Schlüsse zu ziehen. Vor allem wäre zu klären, wo Privates endet und wo etwas beginnt, Sache von gesellschaftlicher Relevanz zu werden, also gesellschaftlich, gesetzlich geregelt werden zu müssen. Und zu entscheiden wäre zum Beispiel: Wer darf für welchen Zweck über Geldbeträge in welcher Höhe und unter welchen Bedingungen verfügen. Als Ausdruck von Demokratie (Geld wird ab gewissen Summen immer auch zu einem politischen Machtfaktor) unterliegen auch die Antworten auf derartige Fragen sicherlich einem Wandel in der Zeit und entsprechend den gegebenen Bedingungen. Von solch neuem Denken aus ließen sich gewiss auch die Eigentumsfragen qualifizierter beantworten. Denn Daniela Dahn macht es ihren Lesern nicht leicht, beispielsweise ihren Ausführungen über das Verhältnis von Staatseigentum, Volkseigentum und öffentlichem Eigentum zu folgen.
Der Autorin geht es um die Souveränität des Volkes. In der Lehre vom Staat als juristische Person, formuliert sie, liege „ein Souveränitätsanspruch, der zur Grundaussage der Verfassung, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, im Widerspruch steht.“ Auch hier steht sie vor einem Dilemma. Nach den Erfahrungen des Abgleitens der Weimarer Republik in eine verbrecherische, totale Diktatur, schreibt sie, hatten die Verfasser des Grundgesetzes der BRD Grund, „dem Volk zu misstrauen, der Begriff Souveränität kommt nicht nur nicht vor, die Einmischungsmöglichkeiten des Volkes wurden auf ein Minimum beschränkt.“ Und unsere Erfahrungen vor 23 Jahren? Nachdem das Volk der DDR sich 1989 für wenige Wochen zum Souverän aufgeschwungen hatte, um sich seiner ungeliebten Führung zu entledigen, wurde es dieser Rolle rasch müde, widmete sich bald wieder dem Alltagsinteresse: Broterwerb und Konsumgenuss durch Wanderung nach Westen. Daniela Dahn: „Souverän ist, wer die innere Freiheit hat, sich seinen eigenen Gesetzen zu beugen.“ Und auch dies D. D.: „Der erste Akt der ersten und letzten frei gewählten Volkskammer war die Enteignung des Volkes.“ Gewiss ein schmerzliches Erlebnis für die Mitbegründerin des Demokratischen Aufbruchs, die aber bis heute, gestützt auf Hannah Arendt, den Glauben nicht verloren hat an eine ideale Vorstellung von einem Volk, das in einem „Rätesystem“ „der Staat“ sein will! Will es das – tagtäglich – wirklich?
„Wir sind der Staat!“ – Wenn diese Behauptung stimmt, wer sind dann „Wir“? Wahrscheinlich wieder nur einige wenige von uns! Und noch eine Frage: Wenn der Staat zum Herrschen dient, über wen eigentlich?

Daniela Dahn: Wir sind der Staat! Warum Volk sein nicht genügt, Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 2013, 175 Seiten, 16,95 Euro.