Brechmittel Binnenmarkt

Liberalisierungsbedarf findet die EU-Kommission auch nach 20 Jahren Binnenmarkt noch, während sich die Gewerkschaften noch immer schwertun mit der Europäisierung

Am handgreiflichsten wird der europäische Binnenmarkt mit seinen Vorzügen und Nachteilen wohl im Supermarktregal: Auch im Winter, um nur ein Beispiel zu nennen, Tomaten und Paprika – gereift auf spanischen Feldern, die unter einem Meer von Plastikplanen verschwinden, angebaut von eingewanderten und überausgebeuteten Arbeiterinnen und Arbeitern. Weniger sichtbar ist – ein Aspekt, den zu betonen insbesondere die EU selbst nicht müde wird –, dass im Zuge dessen auch 150.000 nationalstaatliche Normen eingeschmolzen wurden auf 13.000 EU-Normen. Kurz: Heute kann sich wohl kaum mehr wer vorstellen, wie das Leben vor der europaweiten Verwirklichung der „vier Grundfreiheiten“ war, als die Regulierung noch vorwiegend im nationalen Rahmen vonstattenging.

Wenn nun zum Jahreswechsel 2012/2013 das 20-jährige Bestehen dieses „Raumes ohne Binnengrenzen“ als Erfolgsgeschichte gefeiert wird, wird es auch an kritischen Stimmen nicht mangeln. Dem sei hier vorgegriffen. Eingedenk der Mahnung – im Neuen Deutschland u.a. seitens Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf, ihres Zeichens Globalisierungskritiker der ersten Stunde –, dass pauschale linke Kritik allzu oft rechten Diskursen eine offene Flanke biete, sei daran erinnert: „Antidemokratische, antisoziale und autoritäre Elemente finden sich auf allen Ebenen“, auch wenn hier v.a. von der EU die Rede sein wird, und: „Eine wirkungsvolle Gegenmacht gibt es aktuell nicht“. Das ist der Stand. Angesichts großer Demonstrationen wie im Jahr 2000 anlässlich des EU-Gipfels in Nizza, ist dies zumindest verwunderlich.

Die Sprengkraft der Europäisierung

Strategisch und historisch betrachtet, ist der EU-Binnenmarkt, der Mitte der 1980er Jahre unter der Ägide des sozialdemokratischen Kommissionspräsidenten Jacques Delors beschlossen wurde, eine „neue europäische Integrationsweise“. Dies bezeichnet, so Lukas Oberndorfer (Uni Wien), den „Umstand, dass auf europäischer Ebene ein politisches Feld entstanden ist“. Vorläufer waren die 1958 in Kraft getretenen Römischen Verträge, deren Europäische Wirtschaftsgemeinschaft u.a. bereits die Verwirklichung der „vier Freiheiten“ – des freien Personen-, Dienstleistungs-, Kapital-, und Warenverkehrs – zum Ziel hatte. Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt den neuen Ansatz der 80er Jahre als „Spirale der Europäisierung“, die u.a. auch Bildung, Umwelt- und Gesundheitsschutz, Technologieförderung, Energie- und Beschäftigungspolitik umfasst.

Hier scheint auf, dass der EU-Binnenmarkt nicht notwendigerweise ein rein neoliberales Projekt ist. In der Tat, so wird der niederländische Forscher Bastiaan van Apeldoorn zitiert, habe es drei Binnenmarktmodelle gegeben: ein auf Deregulierung und Privatisierung abzielendes neoliberales, ein neo-merkantilistisches, das den Binnenmarkt als „Heimat-Markt“ nach US-Vorbild und ökonomisches Hinterland samt koordinierter Industriepolitik sieht, und ein sozialdemokratisches, das auch soziale Absicherungen auf die europäische Ebene heben will. Kannankulam und Georgi betonen jedoch, dass diese Gliederung überholt sei: „Dem neoliberalen Projekt steht heute kein grundlegend anderes [...] mehr gegenüber“, allenfalls fänden sich die verschiedenen Ansätze unter einem Dach wieder. Diese Vorherrschaft zeigt sich im verallgemeinerten Verständnis der „Grundfreiheiten“, welches etwa in Urteilen des Europäischen Gerichtshofs zum Ausdruck kommt.

Heute ist Konsens, so Oberndorfer, dass diesen Freiheiten „ein Beschränkungsverbot innewohnt“. Aber bis in die 1970er wurden diese ausschließlich als „Gleichbehandlungsgebote“ bzw. als „Diskriminierungsverbote“ verstanden: „Der Protektionismus innerhalb der [Europäischen] Gemeinschaft sollte durch die Schaffung eines diskriminierungsfreien gemeinsamen Marktes überwunden werden.“ Eine erste Abweichung von dieser ursprünglichen Linie bildete das Dassonville-Urteil des EuGH von 1974. Dort hieß es, dass Regulierung „grundsätzlich eine unzulässige Beschränkung des freien Warenverkehrs darstellt“. Soziale Sprengkraft entwickelte diese Auffassung aber erst in Verbindung mit dem sog. „Wettbewerb der Rechtsordnungen“. Dieser schälte sich 1979 im Cassis-de-Dijon-Urteil des EuGH heraus, wonach „die Mitgliedstaaten zur wechselseitigen Anerkennung ihrer Rechtsordnungen“ verpflichtet sind. Seither, so Oberndorfer weiter, bestimmt „die Konkurrenz der Regulierungsniveaus den Binnenmarkt“: Der Unterbietungswettlauf – Stichwort „Standortvorteile“ – konnte beginnen. Nicht zuletzt ergibt sich daraus eine unter sozial-emanzipatorischen Aspekten abträgliche Selbstwahrnehmung „der Bevölkerung als Teil einer nationalen Wettbewerbsgemeinschaft“.

Wo stehen die Gewerkschaften?

Es ist nur ein Teil der Wahrheit, wenn etwa die „Initiative europäische Tarifautonomie“ (IneT) den Binnenmarkt wesentlich als „internationalen Wettbewerb um Kapitalinvestitionen“ begreift. Der findet zwar statt, dennoch sind Standortverlagerungen immer noch mittel- bis langfristiger Natur. Bedeutender erscheint daher der Wettbewerb auf dem Warenmarkt, also der Charakter des Binnenmarktes als „vertiefte Freihandelszone“, der einerseits den Rationalisierungsdruck erhöht und andererseits die Verbraucherpreise drückt. So wurde das Projekt Europa zu einem Instrument, das die Bewegungsfreiheit im Betrieb einschränkt und die nationalstaatlich verfassten Gewerkschaften schwächt.

Vor diesem Hintergrund ist es umso haarsträubender, dass sich der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) augenscheinlich auf Lobbyarbeit beschränkt. Sicher, es gibt in den letzten Jahren zunehmend, wenn auch nur punktuelle transnationale Zusammenarbeit. Erfolgreich etwa waren 2006 die international koordinierten Arbeitsniederlegungen von Hafenarbeitern gegen das EU-Liberalisierungsprogramm „Port Package II“, von dem 400 Häfen in 22 Mitgliedstaaten betroffen gewesen wären (2013 ist „PP III“ geplant). Für mehr fehlt den nationalstaatlich verfassten Gewerkschaften offenbar oft der entscheidende Wille.

Vielleicht aber kommt hier der nötige Anstoß von unerwarteter Seite: von EU und EuGH. Viel kritisiert wurde etwa das Viking-Gerichtsurteil. Die Viking-Reederei wollte von Finnland nach Estland „ausflaggen“, wodurch „der wesentlich niedrigere Löhne vorsehende estnische Tarifvertrag zu Anwendung gekommen“ wäre. Die Gewerkschaften kämpften, unterstützt von der International Transport Workers’ Federation (ITF), erfolgreich für die Beibehaltung des finnischen Tarif, so Oberndorfer weiter, aber der EuGH entschied: „Die Kampfmaßnahmen würden prinzipiell eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellen.“ Die Folgen des Urteils sind laut Oberndorfer kaum zu überschätzen: Die „europarechtliche Rechtfertigungsprüfung“ jeder Aktion führe zur „Etatisierung der Gewerkschaften“ und bevorzuge wirtschaftsfriedliche „korporatistische Muster“. Außerdem sei das Risiko des „Eingreifen[s] staatlicher Befehls- und Zwangsgewalt“ gegeben. Dies ist die absehbare Entwicklung im Rahmen des Bestehenden und Greifbaren: Der Binnenmarkt wird weiter als Brechstange gegen soziale Errungenschaften eingesetzt, wirkt bei den Beschäftigten folglich als Brechmittel und vergällt so die europäische Idee. Ein Skandal, aber ist es eine Provokation, ein Impuls? Denn die andere gewerkschaftliche Handlungsoption wäre die Angleichung des estnischen Tarifs an den finnischen, was die Beteiligten natürlich vor ungleich größere organisatorische Herausforderungen stellt – aber angesichts der europäischen Rechtsordnung ist das vielleicht der einzig realistische Ausweg. (Dies bejahte auch EU-Generalanwalt Maduro ausdrücklich vor dem EuGH.) Stehen die europäischen Gewerkschaften nun also wirklich an dem Punkt, den Edo Fimmen (ehem. ITF-Vorsitzender, vgl. DA #177) bereits 1924 erreicht sah? „Ideell hat die moderne Arbeiterbewegung ihren Kampf gegen das Kapital immer als einen internationalen Kampf begriffen, nun aber ist sie gezwungen, auch praktisch den Kampf international zu führen“.

Europäische Verantwortung und autonome Leistung

Unstrittig ist, so Oberndorfer, dass das deutsche „Exportweltmeister-Modell“, in dem sozialer Friede und Lohnzurückhaltung ein wichtiges Standortargument darstellen, durch „eine Zuspitzung der Ungleichgewichte den Zusammenhalt des gemeinsamen Marktes zu gefährden“ droht. Darauf wiesen im Frühjahr auch der besonderen Gewerkschaftssympathie so unverdächtige Akteure wie Christine Lagarde (IWF) und Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hin. In den Spitzen der großen europäischen Gewerkschaften – namentlich Verdi und IG Metall – hatte man aber nicht die Courage, dieses seit Jahren eingespielte Modell der Genügsamkeit zu sprengen. Man klammerte sich an den „verteilungsneutralen Spielraum“, um ja keine ernste Auseinandersetzung auszulösen. Damit unterhöhlten die Leitungsgremien ihren eigenen politischen Diskurs; vorausgesetzt man nimmt ihre Forderung nach einem Europa „als ein solidarisches und demokratisches Projekt“ als solchen ernst.

Bestürzend dabei ist, dass diese Gewerkschaften nicht alleine damit stehen, das Heft des Handelns allzu leicht an „die Politik“ weiterzureichen, etwa in Form eines „EGB-Vorschlags für ein Protokoll zum ‚Sozialen Fortschritt’“. Auch die seit Jahren betriebene europäische Tarifkoordination bekommt offenbar nicht den Stellenwert, der ihr in einer auf Europäisierung ausgerichteten Gewerkschaftsstrategie zustünde. Vielmehr, so Oberndorfer, ist die Kritik dieser marktkonformen EuGH-Urteile insgesamt „orientiert auf eine ‚Rückkehr des Staates’, um eine emanzipative Wende einzuleiten.“ Damit stehe sie „exemplarisch für ... ‚nicht-neoliberale’ Versuche eines Politikwechsels auf europäischer Maßstabsebene“ – und deren Scheitern. Dabei gibt es durchaus diskussionswürdige Ansätze, etwa den einer „europäischen Tarifautonomie“, die „nur als autonome Leistung der Gewerkschaften in Arbeitskämpfen möglich“ (IneT) ist.

Die EU-Kommission wird indes nicht müde zu betonen, dass der EU-Binnenmarkt auch 20 Jahre nach seiner Gründung noch nicht voll verwirklicht sei. Dies wurde in zwei sog. „Binnenmarktakten“ deutlich, deren eine im Juni vom EU-Parlament beschlossen wurde; die zweite ist für 2013 geplant. Zentral bleibt im Verständnis der Kommission weiterhin die „volle Liberalisierung“, z.B. im Bahn-, See- und Luftverkehr. Konfliktpotential gibt es also reichlich. Bleibt nur zu hoffen, dass sich die Gewerkschaftsspitzen nicht versteigen, nach dem Appell-Marathon im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 gleich die Europawahl 2014 ins Visier zu nehmen: Internationale Rhetorik ist schön, internationale Kämpfe sind besser.

Literatur:

Edo Fimmen, Vereinigte Staaten Europas oder Europa A.-G., 1924, nur antiquarisch.
Initiative aus DGB-Kreisen, http://europa-neu-begruenden.de
IneT, „Europäische Tarifautonomie ist möglich!“, 2008, www.tarifpolitik.eu
John Kannankulam und Fabian Georgi, „Die Europäische Integration als materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen“ (Arbeitspapier #30), www.uni-marburg.de/fb03/politikwissenschaft/eipoe/publikationen/feiap
Lukas Oberndorfer, „Post-neoliberale Integrationsweise der EU“, in: Blaha/Weidenholzer (Hg.), Freiheit. Beiträge für eine demokratische Gesellschaft, Wien 2010, www.aktive-arbeitslose.at/download/Oberndorfer_Post-neoliberale_Integrationsweise_der_EU.pdf
Thorsten Schulten, „Zehn Jahre europäische Koordinierung der Tarifpolitik – eine Zwischenbilanz“, in: Schlatermund/ Flore (Hg.), Zukunft von Arbeitsbeziehungen und Arbeit in Europa, Osnabrück 2009, www.rosa-luxemburg-club.de/fileadmin/rls_uploads/dokumentationen/090321_NRW-EU-Konferenz/SchultenEuropaeischeKoordinierung.pdf

Dieser Artikel erschien zuerst in der Direkten Aktion #214 - November / Dezember 2012