Dieses Jahr sind wir in Deutschland mit zwei Neuerungen konfrontiert, die uns einmal mehr mit den selektiven Potenzialen der Humangenetik konfrontieren. Die eine ist technischer Natur: Die Markteinführung eines Testverfahrens ist angekündigt, mit dem es möglich wird, die DNA eines Embryo aus dem Blut der Schwangeren zu filtern und sehr früh in der Schwangerschaft schon auf Down-Syndrom zu testen. Die andere ist rechtlicher Art: Das Gesetz zur Präimplantationsdiagnostik (PID) soll demnächst via Rechtsverordnung in die Praxis umgesetzt werden.
++++++ Der GID 211 ist erschienen++++++Themenschwerpunkt: Selektion++++++
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Quantitativ betrachtet kommt beides zunächst recht überschaubar daher: Der pränatale Bluttest soll zunächst nur in wenigen Kliniken, nur für teures Geld und nur als zusätzlicher Test zu den bereits etablierten pränataldiagnostischen Verfahren zum Einsatz kommen. Und die Befürworter der PID haben letztes Jahr immer wieder darauf hingewiesen, dass erwartungsgemäß nur einige wenige hundert Paare nach der neuen Gesetzeslage dieses medizinische Angebot beanspruchen werden.
Qualitativ ist beides aber nicht zu unterschätzen: Mit dem Bluttest ist die Vision eines genetischen Screenings aller Embryonen zu einem frühen Zeitpunkt der Schwangerschaft in den Bereich des technisch Machbaren gerückt. Ein Pieks genügt - und die „nicht-invasive“ Testung der Embryonen-DNA ermöglicht es, ganz ohne Nebenwirkungen sehr früh „Gewissheit“ zu haben und die Schwangerschaft je nach Positiv- oder Negativ-Ergebnis innerhalb der Zwölfwochenfrist abzubrechen.
Qualitativ neu ist auch, dass das PID-Gesetz erstmals seit der Abschaffung der embryopathischen Indikation im Abtreibungsrecht wieder ein rechtliches Kriterium eingeführt hat, entlang welcher Grenzlinie es erlaubt sein soll, Embryonen gegebenenfalls auszusortieren. Die Definitionsmacht, was denn als „hohes Risiko einer schwerwiegenden Erbkrankheit“ gelten darf, wird eine bioethische Diskursmaschinerie in Gang werfen, die nichts Gutes verheißt. Denn weder subjektive Fall-zu-Fall-Bewertungen in der Aushandlung zwischen Paaren, ÄrztInnen und Bioethikkommissionen, noch objektives humangenetisches „Wissen“ ändern etwas daran, dass der Wert des Lebens derjenigen verhandelt wird, die mit den entsprechenden Diagnosen unter uns leben (siehe auch Kasten S. 25).
Die feministisch-antieugenische Traditionslinie
Beide Entwicklungen werfen grundsätzliche Fragen auf. Und sie fordern uns dazu heraus, uns an die feministisch-antieugenische politische Traditionslinie zu erinnern, der sich viele zugehörig fühlen, die als soziale Bewegung aber schwach ist. Sie kann mit dem Slogan „Pro choice - contra selection“ zusammengefasst werden. Gemeint ist damit eine Position, die für Abtreibungsrechte und damit das Recht von Frauen, über ihren Körper zu entscheiden, eintritt - und sich gleichzeitig gegen Technologien zum menschlichen Qualitätscheck wendet.
Jenseits des offensichtlichen, aber vordergründigen Konfliktes zwischen individueller Autonomie und Kritik an Selektion erinnert diese Position an sehr viel stärkere Verbindungslinien zwischen Feminismus und Behindertenbewegungen. Das Verbindende ist zunächst einmal die Kritik an einer Medizin, die in ihrer Geschichte immer wieder diejenigen Körper pathologisiert hat, die nicht der Norm des weißen, männlichen, gesunden Erwachsenen entsprechen - eine Medizin, die gesellschaftliche Diskriminierung auf Körpereigenschaften zurückgeführt und mit ihnen begründet hat.
Sorgearbeit als Politikum
In der feministischen ebenso wie in der antieugenischen Kritik verknüpft sich diese Sensibilität für den nicht normgerechten und auch für den bedürftigen, gebrechlichen oder kranken Körper mit der Frage, welchen gesellschaftlichen Platz wir diesem Körper einräumen. Für beide Bewegungen war und ist die Frage zentral, wie Sorgearbeit in dieser Gesellschaft organisiert ist - wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Verbindend ist die banale, aber immer wieder aus dem Politischen verbannte Erkenntnis, dass unser Leben zu einem Großteil nicht von einem Zustand geprägt ist, in dem wir selbstständig, erwachsen, gesund und arbeitsfähig sind, sondern dass wir einen Großteil unseres Lebens auf Unterstützung durch andere angewiesen sind. Der Erfolg von Pränataldiagnostik (PND) und PID beruht auf dem trügerischen Versprechen, durch die geplante Verhinderung des Lebens mit einem „behinderten“ Kind nicht mehr durch Sorgearbeit behindert zu werden. Diese Technologien versprechen - und dies ist schon individuell oftmals ein Trugschluss, gesellschaftlich aber völlig abwegig -, dass die unterstützende und immer noch vorrangig Frauen zugeschriebene Sorgearbeit vermeidbar, reduzierbar und planbar wird.
Die Organisation des Zusammenlebens und der Sorgearbeit ist eine zentrale gesellschaftliche Frage, wird aber durch diese technischen Lösungsversprechen nur verdrängt und individualisiert. Genau diese Verlogenheit der technologischen Programmatik weisen feministische ebenso wie antieugenische Positionen zurück. Weder verbannen PND und PID den nicht normgerechten und abhängigen Körper aus unserem Leben, noch ändern sie etwas an der grundsätzlichen Frage, wie die Sorge für andere in unserer Gesellschaft besser und anders organisiert werden könnte.
Sicher ist auch: Es geht nicht darum, dem behinderten Kind als „maximalem Störfall“ - so die Soziologin Beck-Gernsheim einmal etwas zynisch angesichts des heutigen Drucks auf Frauen, ihre Erwerbsbiographie stringent zu planen - das Ideal eines „Sonnenschein“-Kindes entgegenzusetzen, das von einer aufopferungsvollen Mutter begeistert umsorgt wird.(1) Die konservative Kritik an PND und PID propagiert letztendlich auch nur eine andere „richtige“ und „verantwortliche“ Entscheidungsoption, ohne die geschlechtsspezifisch organisierte Sorgearbeit zu hinterfragen. Es geht also nicht darum, den moralisch ausgestreckten Zeigefinger auf die schwangere Frau zu richten, die bereits in eine unmögliche technologische Entscheidungssituation hineinmanövriert wurde. Nicht die individuelle Nachfrage nach diesen Technologien innerhalb der gegebenen Bedingungen ist das Hauptproblem, sondern die gesellschaftliche Angebotsstruktur. Diese reicht von der Wissensformation, in der Behinderung als medizinische und nicht als gesellschaftliche Frage des Zusammenlebens erscheint und deswegen als technisch vermeidbar propagiert wird, bis zu den Marktkräften, die hinter der schnellen Expansion der entsprechenden medizinischen Angebote als privatisierte „Individuelle Gesundheitsleistungen“ (IGeL) stehen. Teil dieser Struktur ist auch ein zunehmend auf der Idee der individuellen Risikoprävention basierendes ökonomisiertes Gesundheitssystem.
Bluttest: Stand der Dinge und Protestpotenzial
Der erste Teil des Schwerpunktes widmet sich dem neuen Bluttest. Die Soziologin Eva Sänger bringt uns auf den aktuellen Stand der Dinge. Welche Strategien der Markteinführung verfolgt die Konstanzer Firma Lifecodexx? Anschließend erläutert Mareike Koch aus Bremen, warum sie sich gemeinsam mit anderen Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle Cara e.V. dafür entschieden hat, eine Kampagne gegen die routinemäßige Einführung des Bluttests zu starten. Gemeinsam mit ihrer Mitstreiterin Judith Hennemann stellt sie im Interview die Kampagne vor. Mit dem Potenzial des neuen Bluttests, künftig Tests auf immer mehr genetische Eigenschaften zu ermöglichen, hat sich der Deutsche Ethikrat gerade erst beschäftigt. Eine entscheidende Rolle spielen dabei immer schnellere Sequenziertechnologien (siehe Kasten S. 15).
Kommt die Beratung von schwangeren Frauen bei dieser rasanten Entwicklung überhaupt noch hinterher? Die seit dem Gendiagnostikgesetz erforderliche massenhafte humangenetische Fortbildung von FrauenärztInnen stockt. Alexander v. Schwerin berichtet über die diesbezügliche politische Gemengelage. Einen Blick in die USA, wo ein pränataler Bluttest schon auf dem Markt ist, ermöglicht Uwe Wendling. Er stellt eine Studie der NGO Council for Responsible Genetics zum Thema vor.
PID: Was kommt mit der Rechtsverordnung?
Der zweite Teil des Schwerpunkts zum Thema PID beginnt mit der Geburt des ersten PID-Babys, wie sie eine Klinik in Lübeck (fälschlicherweise) für sich reklamiert hat. Ulrike Baureithel berichtet über Hintergründe dieses Falls sowie darüber, wie sich die Reproduktionskliniken für diesen neuen Markt startklar machen. Vieles ist in der genauen Regelung der PID noch unklar - das Bundesgesundheitsministerium arbeitet derzeit an der Rechtsverordnung. Uta Wagenmann stellt die vielen offenen Fragen vor. Kathrin Vogler, stellvertretende Vorsitzende des Bundesgesundheitsausschusses, weist nachdrücklich darauf hin, dass ohne diese Rechtsverordnung die PID in Deutschland derzeit eindeutig gesetzlich verboten ist. Sie fordert die Beteiligung von Behindertenorganisationen an den Ethikkomitees, die über die PID entscheiden werden - und eine Zulassung in nur wenigen Kliniken. Wo bleiben Bewegungs-Proteste? Wir stellen eine queer-feministische Gruppe aus Berlin vor, die im letzten Jahr Aktionen gegen die gesetzliche Zulassung der PID entwickelt hat. Sie stellen die Kritik gegen die PID in den weiteren Kontext eines Protestes gegen „binäre“ gesellschaftliche Kategorien und Hierarchien - sei es die Einteilung von Menschen entlang eines biologischen Geschlechts, sei es entlang der Zuschreibung von Gesundheit oder Krankheit.
Die GID-Redaktion