Strukturelles Problemfeld

Kontinuitäten und Paradoxien des NSU-Terrors

in (25.04.2012)

 

Die rassistisch motivierten NSU-Morde können nicht isoliert von der deutschen Kultur- und Politikgeschichte mit ihren vielfältigen Manifestationen des Rassismus betrachtet werden. Die unheimliche Toleranz gegenüber extrem rechter Politik mit ihren menschenverachtenden Parolen hat in Deutschland nicht nur wiederkehrende Konjunkturphasen, sondern auch eine lange Tradition. Die oftmals wenig rühmliche Rolle staatstragender Organisationen und Regierungen im Wilhelminischen Kolonialkaiserreich, in der Weimarer Republik, in der Nazi-Diktatur, aber auch im geteilten und wiedervereinten Deutschland deuten in ihrer kontinuierlichen Fortschreibung auf ein strukturelles Problemfeld hin.

Rassifizierung der nationalen Identität

Sicherlich spielen hier vielfältige Gründe – etwa die Verführungskraft autoritärer Machtformen und die Sicherung kapitalistischer Verhältnisse – eine gewichtige Rolle. Aber genauso notwendig ist es, die Struktur und Geschichte des modernen Nationalstaats, besonders die Ideologie und Macht der nationalen Identitätsform, zu berücksichtigen. Es ist ein Problem, das die Frage nach der politischen Kultur und dem ideologischen Selbstverständnis dieses Landes aufwirft. Wir können die Rassifizierung, das Weiß-Sein (Whiteness) der demokratischen Institutionen und das damit zusammenhängende Phänomen des subtilen oder offenen Ethnozentrismus der Institutionen mit ihrer hegemonialen politischen Kultur nicht verstehen, wenn wir die Jahrhunderte der europäischen Kolonialerfahrung, des rassistischen Nationalismus und die Rassifizierung deutscher Identität aus der Analyse ausklammern. Denn diese historische Machtmatrix beeinflusst – willentlich oder unbewusst, wahrgenommen oder verdrängt – sowohl die politischen Horizonte des NSU, das Verhalten der Staatsapparate und ihrer Mitglieder, die medialen Reaktionen als auch unsere unterschiedliche persönliche Betroffenheit und Anteilnahme.

Die Opfer des NSU wurden umgebracht, weil die Betroffenen nicht in das vorgegebene rassifizierte Identitätsbild der Nation hineinpassen. Ebenso wurden die Opfer von den Institutionen im Stich gelassen, weil sie als „Türken“ kategorisiert und entsprechend „anders“ behandelt wurden. Mit der Demokratisierung der Gesellschaft hat sich dieses Problem keineswegs entspannt, sondern sogar verschärft, weil bestimmte rassifizierte migrantische Gruppen immer noch weitgehend aus dem Selbstverständnis der Gesellschaft ausgegrenzt geblieben sind. Ein Effekt der Ausgrenzung zeigt sich z.B. in der spezifischen politischen Blindheit der vermeintlich aufgeklärten Institutionen gegenüber rassistischen, islamophoben und antiziganistischen Bedrohungen und Erfahrungen. Diese ethnisierten Minderheiten werden durch ihre gesellschaftliche Ausgrenzung aus dem kollektiven Selbstbild und den Institutionen als Ziel rassistischer Angriffe kulturell produziert und als politisch verhandelbares Diskriminierungsangebot konstituiert, um soziale Konflikte zu regulieren und die Widersprüche der nationalen Identität auf rassistisch marginalisierte Gruppen zu projizieren.

Realitätsverweigerung und kollektive Fehlleistungen

Die NSU-Morde stehen daher im Einklang mit den historischen Diskriminierungserfahrungen türkischstämmiger MigrantInnen und verlängern eine bereits bestehende Todesliste mit Namen wie Mölln, Solingen, Hoyerswerda oder Rostock. Jedoch erreicht diese Terrorwelle nicht nur durch ihr bedrohliches Ausmaß, sondern auch durch die bisher ungeklärte Involvierung des deutschen Verfassungsschutzes und die diskriminierende Verschleierungstaktik der Polizei sowie die groteske Berichterstattung deutscher Medien neue Untiefen.

Da ist zu einem die Tatsache, dass die ermittelnden Sicherheitsbehörden trotz aller Indizien und der langjährigen Ermittlungsarbeit die naheliegenden rassistischen Hintergründe der Morde nicht zu erkennen vermochten. Warum das Offensichtliche negiert wird und die Ermittler stattdessen lieber auf die diskriminierende Stereotypisierung der Opfer setzten, lässt sich nicht – wie viele Massenmedien es so plakativ behaupten – mit Pleiten, Pech und Pannen erklären. Sicherlich kann man fachliche Inkompetenz, behördliche Desorganisation und andere haarsträubende Fehler im Detail nicht ausschließen. Aber darüber hinaus zeigen sich in diesem Fall die politischen Scheuklappen und verschrobenen politischen Wahrnehmungen dieser Institutionen als eine kollektive Fehlleistung, die sich auch in der jahrzehntelangen Realitätsverweigerung der deutschen Gesellschaft widerspiegelt – etwa bei der Anerkennung von Einwanderungsprozessen und der hartnäckigen Negierung eines gesellschaftlich fundierten Rassismus. So wie ein Großteil der deutschen Gesellschaft ganz selbstverständlich muslimische MigrantInnen klischeehaft krimineller Machenschaften in konspirativen Netzwerken verdächtigt, ging auch die Polizei bei ihrer Arbeit vor und ließ sich auch nicht durch Hinweise und Informationen, die in eine ganz andere Richtung deuten, von ihrem jahrelang gepflegten Irrglauben abbringen. Obwohl wir den deutschen Sicherheitsbehörden keine mangelnde politische Phantasie vorwerfen können, konnten die zuständigen Institutionen, trotz der deutschen Geschichte und der extrem rechten Gewaltwelle Anfang der 1980er und in den 1990er-Jahren, sich Rassismus als eine tödliche Realität in Deutschland nicht vorstellen.

Polizeiliche und mediale Paradoxien

Paradox ist natürlich auch, dass die Opfer der rassistischen Gewalt durch die einseitige Ausrichtung und Vorurteile der Sonderkommission „Bosporus“ zu Tätern gemacht wurden und staatliche Sicherheitsbehörden unter dem begründeten Verdacht stehen, durch ihre Fehler und Strategien rassistische Terroristen gedeckt und ihnen geholfen zu haben. In dieses Bild passt auch der Umstand, dass das rassistische Mordmotiv dieser Tötungsserie nicht durch systematische Ermittlungs- und Aufklärungsarbeit der zuständigen Behörden aufgedeckt wurde, sondern erst durch die propagandistische Selbstbezichtigung der Täter nach ihrem vermutlichen Selbstmord an die Öffentlichkeit kam. Die daraufhin einsetzende Medienberichterstattung reproduzierte ihrerseits diskriminierende Bilder, indem sie zunächst die aus dem Polizei-Jargon stammende Metapher „Döner-Morde“ vollkommen unbekümmert übernahm und sich erst nach kritischen Kommentaren von diesem pietätlosen wie sinnfreien Begriff distanzierte. Dabei ist es ganz offensichtlich, dass diese geschmacklose Wortschöpfung die Opfer mit einem billigen und „den Türken“ zugeschriebenen Fast-Food-Gericht gleichsetzt. Perfiderweise wird dabei im Stil einer überdrehten Ethno-Comedy suggeriert, dass überhaupt keine Menschen ermordet wurden. Dadurch werden die Opfer aber nicht nur ethnisiert und ihrer individuellen Züge beraubt, sondern gleichzeitig auch abgewertet, weil sie lediglich als anonyme „Dönerfleischmasse“ erscheinen.

Halbherzige politische Reaktionen

Die unfassbaren terroristischen Morde des NSU zeigen eine neue Dimension des organisierten Rechtsterrorismus auf und stellen eine fundamentale gesellschaftspolitische Gefahr dar. Die symbolischen Gesten der Trauer und der Anerkennung der rassistischen Mordopfer durch die Bundesorgane wirkten lange Zeit eher halbherzig und pflichtgemäß, da der Eindruck vorherrschte, dass es der öffentlichen politischen Anteilnahme an Glaubwürdigkeit mangelt und dieser selektiver Terror letztlich doch nur als politische Marginalie bzw. als Minderheitenproblem behandelt wird. Verstärkt wurde dieses Bild durch die politische Zumutung, dass um die Durchführung einer zentralen Gedenkfeier überhaupt gerungen werden musste. Der bundesweite Gedenktag wurde nun am 23. Februar 2012 unter Einbeziehung der Angehörigen der Opfer und der Anteilnahme zivilgesellschaftlicher Akteure durchgeführt. Diese späte Genugtuung für die Opfer und ihre Angehörigen war als richtungsweisendes politisches Signal überfällig. Es bleibt aber weiterhin fraglich, ob diese Gesten und Zeremonien eine nachhaltige Gedenk- und Erinnerungskultur in den verantwortlichen Institutionen sowie ein politisches Umdenken einleiten oder doch nur einmalige Erscheinungen bleiben.

Wer davon ausgeht, dass in Deutschland die breite zivilgesellschaftliche Solidarität mit den Opfern des Rassismus eine Selbstverständlichkeit ist, wird enttäuscht sein. Bisher fanden viel zu wenige nennenswerte Protestkundgebungen gegen den rechter Terror und das skandalträchtige Verhalten staatlicher Sicherheitsorgane statt. Obwohl Mobilisierungsbemühungen auf grass-roots-Ebene existieren, ist nach wie vor der lähmende Schockzustand in den migrantischen Communities und die Teilnahmslosigkeit der deutschen Zivilgesellschaft – von vereinzelten Ausnahmen abgesehen – vorherrschend. Angesichts der Standards, die in der Debatte gegen den islamistischen Terrorismus von deutscher Seite an den Tag gelegt wurden, wäre es durchaus fair, ein umfassendes Bekenntnis der mehrheitsdeutschen Bevölkerung zum Gebot der Nicht-Diskriminierung und eine eindeutige Distanzierung vom rassistischen Terrorismus als vertrauensbildendes Signal zu erwarten. Dieser „Aufstand der Anständigen“ (Gerhard Schröder) wäre angesichts des mangelnden „Anstands der Zuständigen“ (Shermin Langhoff) angebracht, um mehr politischen Druck zu erzeugen. Ansonsten wird das Versagen der politisch und institutionell Verantwortlichen keine nennenswerten Konsequenzen zur Folge haben. Es ist zu befürchten, dass nach einer kurzen Schamperiode „business as usual“ betrieben wird. Welche Folgen das hat, haben wir gerade erst gesehen.

Institutioneller Rassismus als zentrales Problem anerkennen

Es ist wichtig, ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Rassismus nicht nur auf individuellem Fehlverhalten basiert, sondern sowohl implizit als auch explizit durch institutionelle Praktiken und gesetzliche Grundlagen der Ungleichbehandlung gefördert wird. Vor allem sollten wir uns von der fragwürdigen Vorstellung verabschieden, rassistische Ereignisse als politischen Betriebsunfall oder gesellschaftliche Ausnahmeerscheinung zu betrachten und zu bewerten. Bei der Suche nach anti-diskriminatorischen Lösungskonzepten und Perspektiven ist es weitaus konstruktiver davon auszugehen, dass sich reproduzierende rassistische Handlungen und Mechanismen nur innerhalb eines strukturell abgesicherten Systems des Rassismus überleben können. Aber solange rassistische Bilder und Programme sich politisch und medial so gut verkaufen, sind Zweifel angebracht, dass der notwendige politische Wille in der deutschen Dominanzgesellschaft vorhanden ist, um auf dieses kulturelle Kapital und praktische Macht- und Ausgrenzungsinstrument zu verzichten. Ein wohldosierter Rassismus bietet ganz pragmatisch gesehen handfeste Vorteile für diejenigen, die davon profitieren.

Viele empirische Untersuchungen kommen für Deutschland übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass etwa ein Viertel der weißen deutschen Mainstream-Bevölkerung über ein extrem rechtes Weltbild verfügt und rassistische Positionen gutheißt. Diese gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen spiegeln sich auch auf der Ebene der politischen Repräsentation wider, in der Teile der politischen und kulturellen Elite gesellschaftspolitische Leitlinien wie die Idee der „deutschen Leitkultur“ vertritt. Gerade jene Gesellschaftsgruppen, die durch den herrschenden Status quo politisch, kulturell und materiell bevorzugt werden, sind besonders für rassistisches Besitzstandsdenken und sozialdarwinistische Rhetorik à la Thilo Sarazzin empfänglich, der als Bestsellerautor, sozialdemokratischer Spitzenpolitiker, ehemaliger Berliner Finanzsenator und früheres Mitglied des Bundesbankvorstands ein nicht zu unterschätzendes Spektrum der gesellschaftlichen Elite repräsentiert. Andererseits sehnen sich auch diejenigen, die bereits den sozialen Anschluss verloren haben, nach Selbstaufwertung und sehen die angeblich angeborene Mitgliedschaft in der „nationalen Volksgemeinschaft“ als Chance, durch Ab- und Ausgrenzung in der gesellschaftlichen Hierarchie aufzusteigen.

Die fixe Idee der Verteidigung der Nation und ihrer Identität vor dem rassistisch definierten Fremden hat sich dabei als ein wirksames ideologisches Fundament erwiesen, das die politische Mitte mit extrem rechten und zu einem geringeren Ausmaß sogar mit linksnationalistischen Kräften verbindet. Ebenso wie neonazistische Gruppierungen teilt auch ein bedeutsamer Anteil der deutschen „Durchschnittsbevölkerung“ die Vorstellung, dass muslimisch Aussehenden und anderen People of Color die Zugehörigkeit zur Gesellschaft aufgrund vermeintlich vorgegebener biologischer oder kultureller Kriterien verweigert werden soll.

Der Artikel erschien in der Ausgabe 47/Frühjahr 2012 der Lotta - antifaschistische Zeitung für NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen.