„Polens neue Generation“

Zum „Unabhängigkeitsmarsch“ am 11. November in Warschau und seinen Hintergründen

in (02.05.2014)


Im November 2013 fand in Warschau zum wiederholten Male der extrem rechte „Unabhängigkeitsmarsch“ (Marsz Niepodłegości) statt. Das stark frequentierte Event zeigt die dynamische Rechtsentwicklung, die Polens junge Generation prägt.

Mindestens 50.000 NationalistInnen waren am 11. November zum „Unabhängigkeitsmarsch“ nach Warschau gekommen – ein erneuter Anstieg gegenüber den Vorjahren (2011: 20.000, 2012: 35.000). Länger andauernde Straßenschlachten mit der Polizei gab es nicht im selben Ausmaß wie zuvor. Dies lag vermutlich vor allem daran, dass eine antifaschistische Demonstration auf den 9. November vorverlegt worden war, um der direkten Auseinandersetzung zu entgehen und keinen „Angriffspunkt“ für nationalistische Hooligans zu bieten. Dafür starteten diese einen offensichtlich von langer Hand geplanten Angriff auf zwei Wohnprojekte am Rande der Aufmarschstrecke, der ob des brutalen Vorgehens der Täter und der großen Gefahr für die BewohnerInnen zumindest einen Teil der polnischen Öffentlichkeit aufgeschreckt hat. (Siehe Interview)
Zwar stehen die Anführer der Nationalen Bewegung (Ruch Narodowy), die offiziell zum Abschluss des vorigen „Unabhängigkeitsmarsches“ im November 2012 ins Leben gerufen worden war, beim organisatorischen Aufbau immer wieder vor Problemen, die vor allem aus internen Konflikten und Zerwürfnissen resultieren. Unberührt davon lädt sich jedoch das gesellschaftliche Klima in Polen nationalistisch und extrem homophob auf.

Eine soziale Bewegung von rechts

Jenseits der ehemaligen Regierungspartei Prawo i Sprawiedliwość (PiS) um Jarosław Kaczyński hat sich eine „soziale Bewegung von rechts“ konstituiert, die ihre Stärke zunächst allein auf eine historisch hergeleitete und zugleich stark überformte Identitätskonstruktion gründete. Nach der Wahlniederlage der rechten Parteien 2007 wurde die polnische Rechte von vielen BeobachterInnen bereits abgeschrieben. Aktuell präsentiert jedoch eine in der Regierungszeit von PiS, Samoobrona (Selbstverteidigung) und Liga Polskich Rodzin (Liga der polnischen Familien, LPR) sozialisierte Generation den Vertretern dieser Auffassung die Rechnung: Das politische Spektrum wurde erneut nach rechts verschoben. Davon profitieren alle politischen Akteure, die sich als „nationale Opposition“ gegen die Regierung Tusk oder gleich gegen „das System“ begreifen. Während das Wiedererstarken von PiS, der Hauptvertreterin der etablierten Rechten, unmittelbar mit dem Schüren antirussischer Verschwörungstheorien rund um den sagenumwobenen Absturz des Präsidentenflugzeugs auf dem Weg zur Katyń-Gedenkveranstaltung im Mai 2010 zusammenhängt, formierte sich ebenfalls 2010 auch die extreme Rechte erstmals spürbar verstärkt rund um den Unabhängigkeitstag am 11. November in Polens Hauptstadt.
Der „Marsz Niepodłegości“ bildet seitdem den jährlichen Kristallisationspunkt der extrem rechten Mobilisierung. Zwar streben die Anführer der Ruch Narodowy mit ziemlicher Sicherheit schon bei der Europawahl im Mai 2014 den Antritt mit einer eigenen Partei an. Bisher inszeniert man sich jedoch als systemoppositionelle Bewegung und erklärt der gesamten Republik den Krieg. Die Ruch Narodowy steht im Zentrum der momentanen Entwicklung; die tatsächliche „soziale Bewegung“ aber ist pluraler und breiter.
Anders als andere rechte Strömungen in Europa kam die polnische extreme Rechte bisher fast gänzlich ohne konkrete Bezugnahme auf die Krise in Europa aus. Zentral ist die Forderung nach einer „wirklichen Unabhängigkeit“ Polens von äußerer Einflussnahme. Alte Seilschaften, so heißt es, kontrollierten noch immer die Geschicke des Landes. Diese omnipräsente Feindkonstruktion bündelt alles, was dem Entwurf eines homogenen und nationalistischen Polens in irgendeiner Form im Wege stehen könnte. Das führt dazu, dass so unterschiedliche Dinge wie (Neo-)Liberalismus, linkes und emanzipatorisches Denken, Homosexualität oder die Politik der Europäischen Union in einem Atemzug und scheinbar miteinander verwoben genannt werden. Ideologisch orientiert sich die Spitze der Bewegung an Roman Dmowski, dem Führer und Vordenker der Endecja (Nationaldemokratie) der Zwischenkriegszeit. All dies ist für das postkommunistische Polen nicht neu. Neu allerdings sind die Struktur, die Zusammensetzung und die Mobilisierungsfähigkeit der extremen Rechten.

Die „Nationale Bewegung“

Im Kern der Ruch Narodowy stehen drei Organisationen, die sich in einer Art Aufgabenteilung bemüht haben, unterschiedliche Spektren der extremen Rechten anzusprechen, und nun versuchen, diese in einer Struktur zu bündeln. Den Gründungskongress in Juni 2013 besuchten rund 1.000 Delegierte aus unterschiedlichen Städten und Regionen. Der Aufbau regionaler und lokaler Strukturen war und ist eines der Hauptbetätigungsfelder der Ruch Narodowy, die sich neben der Europawahl vor allem auf die Parlamentswahl 2015 vorzubereiten scheint. Ideologisches und organisatorisches Zentrum ist die Młodzież Wszechpolska (Allpolnische Jugend, MW). Sie steht in direkter Tradition zum gleichnamigen akademischen Verband nationalistischer Studenten der Zwischenkriegszeit und rekrutiert sich auch heute mit elitärem Anspruch aus einem überwiegend akademischen Milieu. Die MW fungierte bis 2009 als Jugendorganisation der LPR und entsandte in der Zeit von deren Regierungsbeteiligung mehrere Mitglieder als Kandidaten zu Wahlen oder auf öffentliche Posten. Dass Fotos von internen Feiern der MW bekannt wurden, auf denen die Vorliebe einiger Mitglieder zum Nationalsozialismus dokumentiert ist, hatte großen Anteil daran, dass die LPR nach der Wahl 2007 in der Versenkung verschwand und sich bis heute nicht wieder erholte.
Besonders unter der Führung von Robert Winnicki begann die MW, sich um ein neues Auftreten zu bemühen. Fotos mit NS-Bezug gibt es heute in der Öffentlichkeit nicht mehr, und ein betont seriöses Auftreten soll den nach wie vor radikalen Positionen der Organisation einen „gemäßigten“ Anschein verleihen. Die Positionen indes haben sich nicht geändert. Die MW ist und bleibt eine radikalkatholische, extrem nationalistische Organisation. In ihren Statuten heißt es: „Der erste Dienst ist der an Gott, der zweite der an der Nation“. Sie propagiert extremen Antikommunismus mit antisemitischen Tendenzen und hetzt gegen alle Formen des Zusammenlebens und sexueller Orientierung außerhalb der „klassischen Familie“.

In hellbrauner Uniform

Der heute 28-jährige Winnicki, noch bis März 2014 Chef der Młodzież Wszechpolska, ist das Sprachrohr der Ruch Narodowy. Mittlerweile sind weitere Mitglieder der MW in die Führungsgruppe der Nationalen Bewegung eingetreten. Sie prägen deren Außendarstellung besonders durch regelmäßige Fernsehauftritte und Debatten mit politischen GegnerInnen. Bei offiziellen Auftritten und Aufmärschen gesellen sich Vertreter von Partnerorganisationen hinzu. Das Obóz Narodowo-Radikalny (National-Radikales Lager, ONR) war noch vor wenigen Jahren eine kleine Organisation, die vor allem im Rahmen kleiner Aufmärsche in hellbraunen Uniformen durch die Straßen marschierte. Im Anschluss an den Erfolg der „Unabhängigkeitsmärsche“ und der Zusammenarbeit mit der MW baute das ONR seine regionalen Strukturen stark aus. Heute gibt es in fast jeder größeren Stadt Polens eine Gruppe der Organisation.
Das ONR ist innerhalb der Ruch Narodowy der Ansprechpartner für radikalere Strömungen und Einflüsse. Historisch bezieht es sich wie die MW auf eine gleichnamige Organisation der Zwischenkriegszeit, die nach mehreren Spaltungen und Umbenennungen bis zum deutschen Überfall aus der Illegalität heraus agierte. Ein baldiger Bruch zwischen den beiden Organisationen ist allerdings nicht unwahrscheinlich, denn die Zweckpartnerschaft beginnt bereits zu bröckeln. Gut möglich, dass der MW ein Wegbrechen des ONR sogar gelegen kommt. In den vergangenen zwei Jahren wurde bereits das Veranstalterkommitee des Marsz Niepodłegośći zielgerichtet ausgemistet, als sich anfängliche Weggefährten und Finanziers als zu moderat oder nicht weiter nützlich erwiesen.

„Verstoßene Soldaten“

Ein geschichts- und identitätspolitisch wichtiger Schachzug war die Integration des Verbandes der Narodowy Siły Zbrojne (Nationale Streitkräfte, NSZ). Diese antikommunistischen Partisanen, die bis weit in die Zeit der Volksrepublik hinein nationalistischen Widerstand gegen die Regierung leisteten und während des Krieges zahlreiche Morde an kommunistischen und jüdischen KämpferInnen des polnischen Untergrundes und an ZivilistInnen verantwortet hatten, sind die historischen Paten der Nationalen Bewegung. Die sogenannten Żołnierze Wyklęci (Verstoßene Soldaten) gelten als die wahren Kämpfer für die polnische Unabhängigkeit und werden im öffentlichen Gedenken ungeachtet ihrer Geschichte und ihrer politischen Ausrichtung nach und nach rehabilitiert.
Ein deutliches Indiz für die strategischen Ziele der Ruch Narodowy ist die Teilnahme von NeofaschistInnen aus ganz Europa am „Marsz Niepodłegości“. International wichtigster Partner ist die neofaschistische Jobbik aus Ungarn. Jedes Jahr reist eine größere Delegation aus Budapest zum Aufmarsch nach Warschau, wo im Schatten des Kulturpalastes eine offizielle Partnerschaft verkündet worden ist. Jobbik-Führungskader leisten wichtige Aufbauhilfe für die Ruch Narodowy; die paramilitärische Magyar Garda ist organisatorisches Vorbild der Straż Narodowa, einer paramilitärischen Gruppe innerhalb der Ruch Narodowy, die nach anfänglichen Schwierigkeiten im Sommer 2013 unter Führung ehemaliger Fremdenlegionäre ihre ersten Ausbildungscamps in den Bergen der Tatra durchführte. Prominente Redner beim „Unabhängigkeitsmarsch“ waren außerdem Roberto Fiore von der italienischen Forza Nuova sowie ein Vertreter des Renouveau Français. Beide Organisationen sind Mitglied der European National Front (ENF).

Nicht nur Krawallmacher

Damit positioniert sich die Ruch Narodowy verstärkt im Feld des schon länger etablierten ENF-Mitglieds Narodowe Odrodzenie Polski (Nationale Wiedergeburt Polens, NOP). Die NOP ist die seit den 1990er Jahren am kontinuierlichsten tätige extrem rechte Kraft in Polen. Sie rekrutierte sich lange aus der klassischen rechten Skinheadszene und war in den vergangenen Jahren – nicht nur durch die parallele Bezugnahme auf das historische ONR – die klassische Konkurrentin des heutigen ONR. Die Entwicklungen der letzten Jahre haben die NOP jedoch vergleichsweise ins Hintertreffen geraten lassen. Von der aktuellen Entwicklung konnte sie dennoch zumindest partiell profitieren. In ihrer Hochburg Wrocław gelang es ihr, am 11. November parallel zum „Marsz Niepodłegości“ eine eigene Veranstaltung zu etablieren: den „Marsz Patriotów“ („Marsch der Patrioten“). In Auftritt und Inhalt ist bei ihr eine deutliche Annäherung an die rot-weiß getünchte nationalistische Geschichtserzählung um Unabhängigkeit und Antikommunismus zu verzeichnen. Wie sich das NOP in Zukunft verhalten wird, lässt sich schwer voraussagen; allerdings scheint eine Zusammenarbeit mit der Ruch Narodowy momentan eher unwahrscheinlich – auch wenn sich eine NOP-Delegation aus Łódź dieses Jahr schüchtern in die letzte Reihe des Warschauer Aufmarsches einreihte.
Elementaren Anteil an der Stärke der Bewegung auf der Straße haben polnische Fußball-Hools. Sie sind an struktur- oder parteipolitischen Auseinandersetzungen gänzlich uninteressiert und nehmen an Veranstaltungen mit Bezug sowohl zum NOP als auch zur Ruch Narodowy teil. Damit zeigen sich polnische Fußballfans – anders als früher – über alle Feindschaften hinweg als Teil der extremen Rechten. Nicht zuletzt die Repressionspolitik von Ministerpräsident Donald Tusk im Vorfeld der EURO 2012 hat sie veranlasst, den Kampf gegen die Regierung auf ihre Agenda zu setzen. Die zeitgleich startende geschichtspolitische Offensive der extremen Rechten bot ihnen eine entscheidende Identitätskonstruktion: das Fortleben der „verstoßenen Soldaten“ in den Fankurven der Stadien. Sie inszenieren sich als „unbeugsam“ und „widerständig“ und können damit längst vorhandene nationalistische und antisemitische Einstellungen verbinden. Für die „Bewegung“ insgesamt sind sie von unschätzbarem Wert, da sie das nötige Drohpotenzial auf der Straße bilden und quasi in jeder Stadt das subkulturelle Gewaltmonopol innehaben. Darüber hinaus nutzen die Fanszenen die Präsentationsfläche in den Stadien für stark historisch aufgeladene Choreografien und sorgen so für die Verbreitung und Normalisierung einer rechten Geschichtspolitik. In der öffentlichen Diskussion werden sie überwiegend als „Krawallmacher“ und „Pseudofans“ rezipiert; ihre feste Rolle in der „sozialen Bewegung von rechts“ wird indes vollständig ignoriert.

Nationalistischer Mainstream

Ihre Einbindung in politische Aktionen – vermutlich auch in die jüngsten Angriffe in Warschau – erfolgt durch Strukturen der „Autonomen Nationalisten“ (AN). Mit Zentrum in Warschau, aber verteilt über das ganze Land entstand in den vergangenen Jahren ein Netz von kleinen AN-Gruppen. Sie haben gute Kontakte nach Ungarn, Tschechien und in die Slowakei und nehmen gemeinsam mit ihren internationalen Partnerstrukturen an den nationalistischen Events in Wrocław wie in Warschau teil. Am 1. Mai in Warschau konnten dieses Jahr bereits über 500 Personen für einen eigenständigen Aufmarsch mobilisiert werden; dabei ist die subkulturelle Bindungskraft der polnischen AN-Strukturen noch um ein Vielfaches größer. Besonders in Verbindung mit Fußball und HipHop haben sie eine wichtige Scharnierfunktion in der Politisierung von Nachwuchsfans und erlebnissuchenden Jugendlichen inne.
Unabhängig davon, ob es der Ruch Narodowy gelingt, ein breiteres Spektrum langfristig zu bündeln und zugleich die Massenmobilisierung fortzuführen, muss festgestellt werden: Das gesellschaftliche Klima in Polen hat sich in den vergangenen Jahren spürbar verändert. In Zeitungen und TV-Shows treten junge, extrem homophobe und nationalistische Akteure mittlerweile mit großer Selbstverständlichkeit auf und können diese Plattformen für sich nutzen. Zahlreiche Jugendliche in der Orientierungsphase fühlen sich von ihnen enorm angezogen und partizipieren an nationalistischen Aufmärschen und Events, die es mittlerweile in fast jeder Stadt zu verschiedenen antikommunistischen Gedenktagen (Jahrestag der Verhängung des Kriegszustands, Jahrestag des Einmarschs der Roten Armee, Gründungstag der NSZ) gibt. Nationalistische und rassistische Symbolik gehört zum jugendlichen Mainstream, nationalistische Musik dominiert die Subkultur, alle Fankurven des polnischen Profifußballs sind eindeutig rechts dominiert. So scheint das Motto des diesjährigen Marsz Niepodłegośći („es kommt eine neue Generation“) durchaus Wahrheit für sich beanspruchen zu können. Dass das Führungspersonal dieser erstarkenden Bewegung genau in der Zeit sozialisiert wurde, als sich unter der Regierung Kaczyński erstmals ein „rechter Mainstream“ etablieren konnte, zeigt die Gefahr der aktuellen rechten Erfolgswelle für die künftige Entwicklung Polens besonders deutlich.

Zum Autor
Sebastian Frentzel ist aktiv bei „Avanti – Projekt undogmatische Linke“


Der Artikel erschien in LOTTA - antifaschistische Zeitung aus NRW, Hessen und Rheinland-Pfalz, Nr. 54, Winter 2013/14