Die Wellen der großen Krise schlagen über dem Präsidenten zusammen

 

Wie stehen die Chancen Sarkozys für die anstehenden Präsidentschaftswahlen im April, und wie stellt sich die Lage für die Parlamentswahlen im Juni 2012 dar? Wird es der linken Opposition gelingen, einen Politikwechsel einzuleiten?

Wenn Sarkozys Projekt 2007 als ein Versuch der Erneuerung der neoliberalen Hegemonie unter Auswertung einiger Aspekte der antiliberalen Kritik1 charakterisiert werden kann, haben wir 2012 eine andere Konstellation. Der nur kurze Zeit bestehende,  um die Logik der »Leistung« konstituierte »soziale Block« ist nach 2007 schnell zerfallen, und die überwiegende Mehrheit der Sarkozy-WählerInnen unter den ArbeiterInnen hat heute das Gefühl, »verraten worden zu sein«. Die 26% Arbeiterstimmen von 2007 schrumpfen nach Umfragen auf 10-12% zusammen.2 Im 2. Wahlgang der Präsidentschaftswahlen würden nur 39% der Erwerbspersonen Sarkozy unterstützen.

Das Projekt der Erneuerung des Neoliberalismus, das auf dem klassenübergreifenden Versprechen »Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen« basierte, scheiterte daran, dass die Lohnabhängigen eben nicht in diesen Ansatz eingebunden wurden. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit bei gleichzeitiger Kürzung von Sozialleistungen sowie die massive Umverteilung über das Steuersystem zugunsten der Reichen sind dafür der sichtbarste Ausdruck. Zwischen 2006 und 2009 sank der Anteil der einkommens- und gewinnbezogenen Steuern von 10,7 auf 8,7% des BIP, das gleichzeitig deutlich stieg. Sarkozy wurde der Präsident der Arbeitslosigkeit, deren offizielle Quote von 7,8% (2008) auf 10,5% (2011) – in absoluter Zahl um eine Million – stieg. Von den Arbeitslosen haben 40% keinen Schulabschluss. Die Zahl der Armen hat zwischen 2008 und 2009 um 300.000 Menschen zugenommen. Heute leben 8,2 Mio. BürgerInnen unter der Armutsgrenze von 954 Euro im Monat.

 

2007: Die Koalition der Leistungswilligen

Sarkozy hat die Wahl 2007 vor allem mit einer Auseinandersetzung auf dem Gebiet der Werte (Arbeit, Verantwortung, Autorität) gewonnen. Der Neoliberalismus hatte seine Versprechen nicht halten können, dass es den Reichen nur besser gehen müsse, damit auch die andern davon etwas haben. Die Politik der Privatisierungen hatte nicht die erhoffte Prosperitätskonstellation gebracht. Demgegenüber versicherte der Kandidat Sarkozy, dass eine neue nationale Einheit und damit internationaler Wiederaufstieg der Nation möglich sei, wenn sich die produktiven Teile der Gesellschaft miteinander zu einem Bündnis vereinen. Die Ethik des Kapitalismus fuße auf dem Versprechen, dass Leistung sich lohne – egal ob für Privilegierte oder Mittellose. Dies beinhalte immer auch das Risiko des individuellen Scheiterns und die Herstellung einer Ökonomie der allgemeinen Unsicherheit auf deregulierten Arbeitsmärkten.

Mit dem Appell an den Leistungswillen und an die besitzlosen Klassen, die wissen, dass man mit dem Mindestlohn nicht über die Runden kommt, gelang ihm nicht nur eine hohe Wahlbeteiligung, sondern auch die Einbindung von Wählerschichten aus dem zum Rechtspopulismus neigenden Protestpotenzial. Schon damals hieß es, Arbeitslose seien eine eigene Klasse arbeitsunwilliger Sozialleistungsschnorrer (»Assistanat«). Am brutalsten offenbarte sich die Logik des Ausschlusses bestimmter Gruppen in der »Kärcher«-Druckreiniger-Aktion gegen die »Lumpen« aus der Vorstadt.3 Heute zählen zu den »assistés« (Unterstützten) auch die dauerhaften BezieherInnen von RSA-Eingliederungshilfe, auch wenn die Zahl dieser AufstockerInnen (400.000) deutlich hinter dem Versprechen (zwei Mio.) zurückgeblieben ist.

Die sozialdemokratische Linke stand diesem Projekt hilflos gegenüber und ging mit ihrem sozial lackierten Neoliberalismus sang- und klanglos unter, während die Linke der Linken sich in internen Grabenkämpfen atomisierte. Sarkozys Politikstil inszenierte das Präsidentenamt als Zentrum der Politik jenseits der parlamentarischen Demokratie, der Rolle der Parteien, und sogar – bei der Ratifizierung des Lisabonner Vertrages – der Wählermehrheit gegen den EU-Verfassungsvertrag 2005. Widerstände wurden als Gruppenegoismus »privilegierter, übersubventionierter« Stände gegen die marktförmige Umgestaltung des Universitätssystems oder anderer Bereiche des öffentlichen Dienstes denunziert, in denen sich besonders die Werteverächter der 68er-Generation eingenistet hätten. Diese verachteten den durch harte Arbeit erworbenen Wohlstand als Konsumismus der »kleinen Leute«, strebten aber gleichzeitig nach einem Leben ohne Zwang und Anstrengung auf Kosten eben dieser »kleinen Leute«, die das durch ihre Abgaben finanzierten. Die Verteidigung der »kleinen Leute«, die sich Sarkozy auf die Fahnen schrieb, sollte über eine Aufwertung der Achtung vor dem Verdienst, also des Geldeinkommens funktionieren.

Daher hatte Sarkozy von Beginn seiner Amtszeit nie Probleme mit der besonderen Nähe zu den Reichen und Neureichen. Der frühere Kassierer der Präsidentenpartei und einige Zeit auch Minister, Eric Woerth, ist nun wegen der Annahme illegaler Spenden aus diesen Kreisen für die Finanzierung des Sarkozy-Wahlkampfs 2007 Gegenstand eines Strafverfahrens. Bisher haben die Wogen den Präsidenten nicht direkt erfasst, aber das Vertrauen vieler »kleiner Leute« definitiv zerstört.

Die Große Krise ab 2008 hatte widersprüchliche Auswirkungen auf den Präsidenten und seine Regierung. Einerseits bot sie die Möglichkeit, die Rolle eines »couragierten Kapitäns im Sturm« zu spielen, worauf Sarkozy jetzt seine Kandidatur begründet. Anderseits brachte sie Enttäuschung und den Fall der Sympathiewerte, obwohl der Wirtschaftseinbruch im europäischen Vergleich in Frankreich mit -2,7% nicht zu den tiefsten Abstürzen zählte. Aber die Zahl der jährlich geleisteten Arbeitsstunden konnte trotz Steuerentlastungen nicht gesteigert werden.

Die Staatsverschuldung, die bis dahin geringfügig um ca. 72% des BIP schwankte, explodierte infolge der Stützung des Bankensystems. Die französischen Banken fanden nach den amerikanischen und britischen Banken nur noch in den risikoreicheren südeuropäischen Ländern Engagements und leiden stark unter den Konzentrationsprozessen im Benelux-Raum (Fortis-, Dexia-Pleite). Die Gesamtverschuldung des Zentralstaates stieg von 65% (2007) auf 86% (2011)4 – beschleunigt vor allem durch die Steuergeschenke an die Vermögensbesitzer, die steigenden Ungleichgewichte in den Sozialkassen, den Abbau der Sozialabgaben von Unternehmerseite und die Rettungsaktionen der Banken. Das vielgerühmte Projekt der »großen Anleihe«5 wurde entgegen der Versprechen größtenteils nicht zum Aufbau zukunftsfähiger Industrie- und Forschungsstrukturen eingesetzt. In absoluten Zahlen wuchs die Verschuldung von 1.176 Mrd. Euro (1. Quartal 2007, Insee) auf 1.788 Mrd. Euro Mitte 2012 (Schätzung Finanzministerium/Banque de France). Das Defizit der Sécu, der Krankenversicherung, ist um 8,7 Mrd. Euro gestiegen.

Um die wachsende Zinslast tragen zu können, hielt die Regierung massive Kürzungen bei den Staatsausgaben für das einzig gangbare Mittel. Dafür nur ein Beispiel: Obwohl jeder fünfte Schüler eines Jahrgangs das Erziehungssystem ohne Abschluss verlässt, wird nur jede zweite freiwerdende Stelle im Bildungswesen wie im Rest des staatlichen Öffentlichen Dienstes wieder besetzt. Insgesamt verschwanden dort zwischen 2007 und 2011 ca. 150.000 Arbeitsplätze.

 

2012: enger Spielraum für die Aufrechterhaltung der neoliberalen Herrschaft

Für die Aufrechterhaltung der neoliberalen Herrschaft ist der Spielraum enger geworden. Die Erfahrungen aus den sozialen und politischen Auseinandersetzungen in Frankreich und Eu­ropa der letzten Jahre zeigen, dass die herrschenden Eliten strikt an ihrem neoliberalen Kurs festhalten, keinerlei Zugeständnisse machen und um jeden Preis das Gefühl der Ohnmacht zu installieren suchen.

Sarkozys Wahlstrategie scheint in zwei Richtungen zu gehen. Alle rechten Kräfte sollen gesammelt und maximal mobilisiert werden. Außerdem soll »der Graben zwischen dem Volk und der Regierung überwunden werden«, für den Sarkozy in einem ersten Wahlmeeting Mitte Februar in Annecy (17/2) die Gewerkschaften, Parteien und Experten, die »corps intermédiaires«, verantwortlich gemacht hat. Aus den dem Volk entfremdeten »politischen, ökonomischen, administrativen gewerkschaftlichen Eliten kommt nichts heraus als unbeholfene Kompromisse und Immobilismus«. Den »Schweigenden« und den »Nein Sagenden« müsse zugehört werden. Seine politische Schlussfolgerung ist das Versprechen eines neuen Verhältnisses von Volk und Präsident, das mittels Referenden6 hergestellt werden soll. Es geht um die Ausschaltung aller jener Räume und Kanäle, aller repräsentativer Strukturen, in denen sich in komplexer Form demokratische Prozesse entwickeln können – um den Weg in ein populistisches bzw. autoritäres Regime. Des Weiteren erklärt sich Sarkozy zum Kandidaten für ein »starkes Frankreich« – in Opposition zum Sozialisten Hollande, dessen Politik das Land schwächen würde.

Es geht offensichtlich darum, in der Krise des Neoliberalismus auf neue Weise eine Mehrheit zu finden, um das neoliberale Regime – mit autoritären Zügen – aufrecht zu erhalten. Sarkozys Strategie kann also als eine Variante der tendenziell autoritären Neuformierung der bürgerlichen Gesellschaft gewertet werden.

Die bereits vorgestellten Programmpunkte sollen nicht nur zwischen Rechts und Links polarisieren, sondern auch soziale Spaltungen politisch wirksam werden lassen. Das wird besonders deutlich, wenn Sarkozy als einen der ersten Programmpunkte ein Referendum über das Recht der Arbeitlosen – womit die Arbeitslosen und nicht die Arbeitslosigkeit zum Problem gemacht wird –, ein erstes Arbeitsangebot zu verweigern, verspricht. Weitere Referenden sollen die Verlagerung der Rechtsprechung über Ausweisungen von Ausländern von der unabhängigen Justiz auf die Verwaltungsgerichte sowie die »Schuldenbremse« zum Gegenstand haben.

Die letzten Wochen hat der Präsident – wie auch andere Kandidaten – zahlreiche Betriebe besucht, und mit mehr oder weniger glaubwürdigen Manövern versucht, hart umkämpfte Betriebsschließungen oder Massenentlassungen zu vermeiden, um auch hier als »Beschützer« in der Krise zu erscheinen. Die­se Wahlstrategie erinnert an die »valeur travail« (Wertschätzung für die Arbeit) von 2007, ist aber diesmal deutlich nach rechts verschoben. Man findet hier Züge eines »neo-sozialen« Diskurses, wo sich »Rassismus« gegen »Nichtstuer«, »Schmarotzer« und Fremdenfeindlichkeit verknüpfen. Auf diese Weise wird versucht, gleichzeitig hart Arbeitende, bedrohte Mittelschichten und weit rechts situierte Wähler zu mobilisieren.

Sarkozys Bilanz macht es aber schwierig, mit dem Diskurs »Werte der Arbeit« zu überzeugen. Von den 86 Mrd. Euro Profit der CAC40 Unternehmen (vergleichbar dem DAX) wurden 44 Mrd. Euro für Dividenden und den Aufkauf der eigenen Aktien verwendet (2010). Diese Unternehmen zahlen reell nur 8% Körperschaftssteuer, obwohl der offizielle Prozentsatz 33% beträgt. Der Skandal um den französischen Energiemulti Total, der 2010 keinerlei Steuern in Frankreich abführte, hat immerhin dafür gesorgt, dass 2011 wieder etwas über eine Milliarde Euro Steuern in Frankreich abgeführt wurden.

Sarkozys Wahlkampf 2007 war vom Versprechen einer »rupture« (Bruch) gezeichnet, damit »die Politik« wieder etwas ausrichten kann.7 Heute wird versucht, die schlechte Bilanz mit der Rolle einer heldenhafte Präsidentschaft in der Krise zu ver­decken. Im Zuge des neuen EU-Vertrages wird ein dritter Austeritätsplan angekündigt. Im Zentrum dieses Plans steht die Preisgabe der geregelten Arbeitszeit, womit auch Sarkozys spezifische Überstundenregelung hinfällig wird. Ein weiteres Element ist die Erhöhung der Umsatzsteuer zugunsten der »Wettbewerbsfähigkeit«, wobei laut Angaben des Präsidentschaftskandidaten der Front de Gauche (Linksfront), Melenchon, von den daraus resultierenden Belastungen 13 Mrd. Euro (85%) auf die Haushalte entfallen würden, und nur 15% auf die Finanzeinkommen. Die außenpolitische Inszenierung als wichtiger Führer der westlichen Wertegemeinschaft G 20 oder als Feldherr gegen Libyen kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der »Kapitän, der im Sturm die Brücke nicht verlässt« nur der Sarkozy ist, der an Bord der Yacht seiner Millionärsfreunde Urlaub macht.

Populäre Maßnahmen, mit denen Stimmen gleichzeitig von Links und Rechts zu gewinnen wären, hat Sarkozy diesmal nicht anzukündigen, auch keinen »Bruch«. Vor diesem Hintergrund wird klar, dass er seinen letzten Trumpf spielt, indem er versucht, der Kandidat der Rechten und extremen Rechten zu werden. Eine Umfrage von Anfang Februar8 zeigt ganz deutlich eine starke Durchlässigkeit zwischen rechten und extrem rechten WählerInnen, wie sie vergleichbar nicht zwischen extrem Rechts und (extrem) Links besteht. So würden im Falle, dass Marine Le Pen nicht die notwendige Anzahl von Unterschriften zur Zulassung als Kandidatin zusammenbringt,9 von ihren zu diesem Datum insgesamt 16% WählerInnen 35% sich der Stimme enthalten, 23% Sarkozy und 9,5% Bayrou unterstützen, aber nur 7% Hollande und 2% Melenchon. Einzige Ausnahme ist die Kandidatin der linksextremen Lutte Ouvrière, die 13% aus dem extrem rechten Lager bekäme. Im 2. Wahlgang der Präsidentschaftswahl bekämen bei einem Duell zwischen Sarkozy und Hollande derzeit ersterer 41% der Stimmen der FN-WählerInnen und letzterer 19% (40% äußern sich dazu nicht).

In den letzten Jahren kam den jeweiligen Innenministern die Aufgabe zu, das innenpolitische Klima aufzuheizen, was mit der offiziellen Debatte über die »Identité nationale«, mit dem aggressiven Vorgehen gegen Roma und sans papiers oder mit diversen »Kärcher-Initiativen« geschehen ist. Zuletzt hat der derzeitige Innenminister behauptet, die Zivilisationen seien nicht alle gleichwertig, was u.a. den Boykott seiner Visite in Guadeloupe und Martinique durch die lokalen Abgeordneten zur Folge hatte.

 

Ein neues mehrheitsfähiges Konzept: Autoritärer Sozialstaat?

Die sich vertiefenden sozialen Gräben widersprechen damit dem präsidialen Versprechen. In einer Art Hauruck-Verfahren versucht die Regierungsmehrheit, dem Präsidenten eine gute Ausgangsbasis für einen Wahlkampf zu verschaffen. Zwar kommt es zu weiteren Kürzungen, um nicht den EU-Strafmechanismen zu unterliegen, aber mit dem Mehrwertsteueraufschlag für Soziale Zwecke (d.h. den Abbau von Unternehmerabgaben) wird ein Projekt zumindest dem Namen nach realisiert, mit dem Sarkozy seit Beginn der Amtszeit gewunken hatte. Auch dieses Mal soll wieder mehr gearbeitet werden, aber nicht, wie 2007, um mehr zu verdienen, sondern um Wachstum zu generieren.

Nachdem das inkludierende Bündnis der Leistungswilligen an der Wirklichkeit zerfallen ist, versucht Sarkozy, dieses Bündnis über eine Politik der Ausgrenzung wiederzubeleben. Er akzentuiert die soziale Spaltung zum Prekariat nicht nur mit dem Zivilisationsbruch seines Innenministers über die unterschiedliche Wertigkeit der Kulturen, sondern auch mit dem Plan einer Volksabstimmung, bei der statt der Arbeitslosigkeit die Arbeitslosen zum Problem gemacht werden sollen.

Bisher ist an den veröffentlichten Umfragen nicht zu erkennen, dass sich diese Akzentuierung eines ausgrenzenden Sozialstaats spürbar in Sympathie oder Wählerzuspruch umsetzen könnte. Gelänge es der Präsidentenpartei allerdings, den Wahlkampf auf die Frage der Exklusion durch einen autoritären Sozialstaat zu fokussieren, würde die Rückwanderbewegung zur Nationalen Front ausgedünnt oder gar versiegen.

 

Wo bleiben die Alternativen?

Heute wie 2007 sind Arbeitslosigkeit und Kaufkraft die wichtigsten Themen und Sorgen der Franzosen. Zu welcher Synthese werden sie heute zusammengebunden? Trotz tiefgreifender Protestmobilisierung gegen die sozialen Einschnitte im Arbeitsvertragsrecht und in der Rentenfrage gelang es den verschiedenen Gewerkschaften und politischen Parteien nicht, eine mehrheitsfähige Vorstellung zu präsentieren, worin der ökonomisch-soziale Schlamassel bestand und welche Wege hinausführen. Erst mit der Großen Krise polarisierten sich die politischen Projekte wieder hinreichend. Scheiterte die Linke der Linken 2007 daran, dass es ihr nicht gelang, sich auf gemeinsame Alternativen zu verständigen, so hat die Große Krise hier eine Bündelung um die sozialen Fragen in der Auseinandersetzung mit dem Finanzmarktkapitalismus erleichtert. Allerdings blendet die Sozialistische Partei die Welt der Arbeit und der Verarmung fast vollständig aus, während die Linksfront hier einen Schwerpunkt setzt (Erhöhung der Mindestsozialeinkommen).

 

Der sozialistische Favorit

Im Zentrum steht für den Sozialdemokraten Hollande die »Spirale des Sparens, welche die Krise verschlimmert«. Vorrangig müssten die äußeren »Zwänge« reduziert werden. Einerseits gehe es zukünftig darum, dass die EZB massiv europäische Staatsanleihen aufkaufen müsse; andererseits spricht er sich für die Ausgabe von Eurobonds aus, um den bedrohten Staaten Luft zu verschaffen.

In dieses Konzept fügt sich die Verbesserung der Einnahmenseite um rd. 49 Mrd. Euro ein. Hollande will die oberen Einkommensgruppen und Vermögensbesitzer wieder stärker besteuern. Allein 29 Mrd. Euro sollen durch die Bereinigung der Steuertarife und die Anhebung der Spitzensteuersätze hereinkommen und zur Senkung der Neuverschuldung dienen. Diese droht mit 5,5% infolge der konjunkturellen Abkühlung erneut weit über dem Defizitkriterium der EU zu liegen. Hollande teilt mit Sarkozy das Ziel, die Neuverschuldung bis 2013 wieder auf das EU-Kriterium von 3% und 2016 auf Null zurückzuführen.

Zweifel an Frankreichs Solidität führten zu einer Herabstufung durch die Rating-Agenturen, nachdem  die Gesamtverschuldung des Landes seit 2007 rasant von 1,2 Bio. Euro auf nun mehr als 1,7 Bio. Euro angestiegen ist. Das BIP lag im abgelaufenen Jahr bei etwa 2,0 Bio. Euro. Die Neuverschuldung erreichte 2011 gut 92 Mrd. Euro. Wenn man die Konzepte zugrunde legt, die derzeit für den Konsolidierungsbedarf Italiens verhandelt werden, dann bedeuten »Haushaltskorrekturen« in einem Volumen von einem Zwanzigstel des Schuldenüberhangs (zurzeit 25% über dem Defizitkriterium von 60% des BIP) für Frankreich Kürzungen in Höhe von jährlich 24,8 Mrd. Euro. Zugleich hat sich Frankreich zu einer schnelleren Betankung des »dauerhaften Europäischen Stabilitätsmechanismus« verpflichtet, was angesichts der labilen Wachstumsaussichten Auswirkungen auf die weiteren Bewertungsaussichten seiner Kreditwürdigkeit nach sich ziehen könnte. Das Land könnte damit den Restriktionen zum Opfer fallen, die jetzt von seiner eigenen Regierung mit vorangetrieben werden.

Damit es nicht soweit kommt, schlägt Hollande weitere Verbesserungen der Staatseinnahmen vor: Vier Mrd. Euro soll die Abschaffung der Zins-Abzugsfähigkeit für Eigentumsbildung erbringen und eine Mrd. Euro die Reform der Gewerbesteuer. Weitere 3,2 Mrd. Euro könnte die Abschaffung der Abgabenbefreiung für Überstunden (ein Zentralprojekt der Regierungen unter Sarkozy) bringen und 2,3 Mrd. Euro die Rücknahme der Abgabenbefreiung für zweifelhafte Eingliederungshilfen am Arbeitsmarkt. Zweifellos werden diese Maßnahmen die Zornesadern der Selbständigen anschwellen lassen. Darum verspricht Hollande gleichzeitig die Schaffung einer Mittelstandsbank durch Zusammenlegung der bisherigen Programme und 2,3 Mrd. Euro Erleichterungen durch eine Reform der Körperschaftssteuer.

Zu Hollandes Wahlprogramm gehört auch die Einhegung der Finanzmärkte. Ein wesentlicher Bestandteil des Konzepts sieht vor, die Geschäfts- und Investitionsbanken zu trennen, um letzteren über die Eigenkapitalregelungen die Spekulation mit allerlei Hebeln zu erschweren. Boni und Stock Options sollen nur noch in Gründerunternehmen erlaubt sein und Bankgewinne sollen mit einer Zusatzsteuer von 15% zum Teil abgeschöpft werden.

Hollande weist damit tatsächlich eine Alternative zur Spirale des Sparens aus, doch bleibt die Frage, ob die Dimensionen der Tragweite der Probleme im Finanzsystem angemessen sind. Seine Vorschläge knüpfen an das EU-Programm von Jacques Delors an und bedeuten eine Konfrontation mit den Kräften um Angela Merkel. Die deutsche Bundeskanzlerin wird gemeinsame Wahlkampfauftritte mit Sarkozy absolvieren, denn auch der französische Staatspräsident trägt die Monstranz der »Schuldenbremse« durch Europa. Daher kündigte Hollande an, er sehe die Notwendigkeit, die europäischen Verträge in Teilen und den deutsch-französischen Grundlagenvertrag neu zu verhandeln, um sie um Ziele für ein neues Wachstum zu ergänzen.

Insgesamt ist in Hollandes Programm kein grundlegender Widerspruch zur Orientierung der Europäischen Sozialdemokratie festzustellen. Allerdings brüskierte er mit seinen Vorschlägen zur Finanzmarktreform seine deutschen Kollegen von der SPD. Das »Modell Deutschland« ist ein Wahlkampfthema, das derzeit von allen Seiten diskutiert wird. Die Linksfront versucht, die Realitäten als Ausdruck einer Klassengesellschaft und eines rechts regierten Landes verständlich zu machen.

Die Wettbewerbsfähigkeit des »Klassenbesten« (Finanzminister Baroin) und die diktatorischen Vorschläge gegen­über Griechenland lehren die Franzosen das Fürchten. Medien-Intellektuelle wie Emanuel Todd sprechen von der deutschen »Neigung zur irrationalen Obstination«. Sollte sich diese Frage zuspitzen, bedeutet das Wasser auf die Mühlen des protektionistischen Anti-EU-Diskurses, wie ihn die Nationale Front ausbaut. Hollande buchstabiert den Mittelklassen einen anderen Weg, der scheinbar geringere Kosten verursacht als der gesellschaftliche Niedergang, den Sarkozy zugunsten der oberen 10 Prozent organisiert hat. Hollande versucht, die Teile der Mittelklassen ins Boot zu holen, die sich 2002 und 2007 den Neoliberalen Bayrou und Sarkozy zugewandt hatten. Er spricht dabei die traditionell der Sozialistischen Partei (PS) affinen modernen Mittelschichten vorzugsweise im öffentlichen Dienst an, wo Sarkozy nur jede zweite freiwerdende Stelle wieder besetzen ließ und somit zu Leistungsverdichtung und Qualitätsabbau trieb. Dennoch will auch Hollande 2,1 Mrd. Euro durch »Steuerung der Effektivität des Personaleinsatzes« hereinholen. Die Studienförderung (0,6 Mrd. Euro) und die berufliche Weiterbildung (eine Mrd. Euro) sollen ausgebaut werden. 2,5 Mrd. Euro will er für die Rückverlagerung von Arbeitsplätzen nach Frank­reich einsetzen. Hollande verspricht mehr soziale Gleichheit vor allem im Rentensystem, wo er fünf Mrd. Euro mehr ausgeben möchte. Allerdings bleibt der PS-Kandidat bezogen auf die Strukturreformen sehr unpräzis, die Sarkozy trotz massiver sozialer Proteste durchsetzen konnte (Rente mit 67, Verlängerung der notwendigen Beitragsphase usw.).

Die sozialpolitischen Forderungen der Sozialisten nehmen sich bescheiden aus. Die unteren Volksklassen bilden keinen aktiven Bestandteil ihres Projekts. Der Kampf gegen die Mechanismen der Prekarisierung und gegen die grassierende Armut in Frankreich sind für die französischen wie für die deutschen Sozialdemokraten nicht entscheidend. Nicht nur angesichts der Ausmaße der europäischen Bank- und Finanzkrise sind solche Programme riskant und wenig populär, können sie doch nur über Steuererhöhungen oder weitere Staatsverschuldung realisiert werden. Hollande unterschätzt mit diesen Argumenten allerdings die volkswirtschaftlich stabilisierenden Kräfte einer gestärkten Inlandsnachfrage.

 

Kampf um einen Politikwechsel

Im linken Lager geht es um die Frage, was die Alternative zu Sarkozy ist, wenn auch seine Abwahl an erster Stelle steht. Die Linksfront (Front de Gauche/FG) will die Bedingungen für einen grundlegenden Politikwechsel schaffen. Es geht darum, die Inhalte einer alternativen Politik zu diskutieren, und dem Druck der Eliten zu widerstehen, die als politisches System den Bipartismus vor Augen haben und die Wahl auf ein Duell zu verengen suchen. Seit dem Schock von 2002 – Le Pen und Chirac im 2. Wahlgang unter Eliminierung des an die dritte Stelle geratenen linken Kandidaten Jospin – ist das Argument, man müsse bereits im ersten Wahlgang PS wählen, um eine linke Präsenz im 2. Wahlgang zu sichern, besonders wirksam.

Neu ist, dass der FG eine politische Ambition zeigt, die Frage der Hegemonie innerhalb der Linken offensiv stellt, öffentlich diskutiert und sich nicht in Debatten über etwaige Kompromisse nach dem 1. Wahlgang oder einer etwaigen Regierungsbeteiligung verliert. Die Frage der Inhalte steht – ganz im Gegensatz zu den Verhandlungen zwischen PS und der grünen Partei (EELV, Europa Ökologie-Die Grünen ) – im Vordergrund. So gelingt es dem neuen Bündnis FG, in diesem Wahlkampf eine Rolle zu spielen. Während die durchaus kämpferische, aber wenig überzeugende Kandidatin der EELV, Eva Joly, immer mehr an Boden verliert, kann der Front de Gauche mit seinen Argumenten die Wahlauseinandersetzung beeinflussen. Auch im Senat, wo seit September 2011 zum ersten Mal in der Geschichte der fünften Republik die Linke die Mehrheit hat, tritt der Kreis, in dem Sentatoren des FG und linke Republikaner zusammenarbeiten, offensiv auf.

Die Diskussion, welche Politik zur Bewältigung der Krise beitragen kann, muss auf drei Ebenen geführt werden: gegenüber Sarkozy und Le Pen, sowie innerhalb der Linken. Mit dem Front de Gauche wird diesmal eine linke Alternative – und nicht nur der Ruf nach »résistance« (Widerstand) – deutlich hörbar, was auch die Umfragewerte für Melenchon (zwischen 7,5% und 9% Anfang Februar) zeigen.

Ziel ist es, nicht mit einer »alternance« (Regierungswechsel) ohne reellen Politikwechsel neuerlich Hoffnungslosigkeit zu erzeugen, wovon der sprungbereite FN profitieren würde, sondern die politischen Realitäten zu verändern, den Einfluss des FN ideologisch und politisch zurückzudrängen, die gesamte Linke nach links zu ziehen, neuen Raum für die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zu schaffen und die Politik zu verändern.

Die Diskussion geht links einerseits um die Inhalte der wesentlichen Eckpunkte, und andererseits um die Prioritäten. Wenn Hollande heute gegen die Finanzwelt auftreten muss, ist für ihn weiterhin das erste Ziel die Reduktion der öffentlichen Defizite und erst danach, und nur im Falle eines wiedereinsetzenden Wachstums, soll die versprochene Umverteilung kommen. Seine Ansage, den europäischen Vertrag neu verhandeln zu wollen, impliziert auch nicht die Zurückweisung der »règle d’or« (Schuldenbremse). Falls die Linke in Frankreich an die Macht kommt, wird die Beantwortung der Frage, wie weiter in Europa, unumgänglich werden, und sich ganz konkret die Frage stellen, welche Bündnispartner in Deutschland und in Europa dafür zur Verfügung stehen. Insofern betreffen die Kräfteverhältnisse von Links und Rechts, aber auch die Kräfteverhältnisse innerhalb der Linken bei den französischen Wahlen ganz Europa.

François Hollande und Eva Joly meinen, die soziale Frage – die diesmal im Zentrum der Auseinandersetzung steht – erst später aufgreifen zu können. Priorität habe die Herstellung der ökonomischen Gleichgewichte (Abbau der Schulden etc.) und dann die Einleitung eines ökologischen Umbaus. Sie bleiben Gefangene der herrschenden Ideologie, akzeptieren die Formel der zu hohen »Arbeitskosten« und negieren die Notwendigkeit der Veränderung der Primärverteilung zugunsten der Arbeit als einen wesentlichen Schritt zum Weg aus der Krise. Nur die FG geht mit dem Programm »L’Humain d’abord« (Das Menschliche zuerst!), von dem bereits mehr als 320.000 Exemplare vertrieben wurden, davon aus, dass Lohn, Sozialabgaben des Kapitals, höhere Qualifikation und eine neue Qualität der Demokratie die entscheidenden Trümpfe sind, um gegenüber der Systemkrise politische Wirksamkeit zu erreichen.

Die Linksfront bestreitet als einzige politische Kraft die »zu hohen Kosten des Kapitals«. Um den Teufelskreis Rezession/Austerität zu brechen, sollen die 195 Mrd. Euro, die jährlich infolge des neoliberalen Regimes in die Taschen des Kapitals statt in die der Lohnabhängigen fließen, zurückerobert und als Mittel für eine neue Politik (Löhne, Pensionen, Sozialversicherung, Beschäftigung,  öffentlicher Sektor) eingesetzt werden. Einige Themen des FG wie »Krieg gegen die Finanzmächte«, ein öffentlicher Bankenpool, die Deckelung der Höchstlöhne und die Senkung der Mieten wurden bereits zu allgemein diskutierten Fragen.

Als Ausweg aus der Krise wird eine alternative Logik mit tiefgreifenden strukturellen Reformen vorgeschlagen: strenge Regulierung der Finanzmärkte und des Kreditwesens; ein öffentlicher Bankenpool zugunsten der Realökonomie, der Klein- und Mittelbetriebe und öffentlichen Investitionen; Ankurbelung der Realökonomie mittels Erhöhung der Löhne und des SMIC, der Erneuerung des öffentlichen Dienstes und des Ausbau der Beschäftigung (Neuordnung des Kredites, Stopp des Industrieabbaus, Stopp von Sarkozys Überstundenregelung, Beibehaltung der 35-Stunden-Woche etc.); eine neue Dynamik in Forschung und Ausbildung; soziale Gerechtigkeit; eine radikal umverteilende Steuerreform; das Heranziehen der Finanzeinkommen zur Finanzierung der Sozialversicherung; Senkung der Mietpreise (die im Gegensatz zu Deutschland völlig dereguliert sind); Wiederbelebung der Politik des sozialen Wohnungsbaus und Maßnahmen gegen die Immobilienspekulation. Mancherorts werden »Ateliers zur Erarbeitung von Gesetzesentwürfen« eingerichtet, und konkrete Vorschläge z.B. für neue Rechte im Betrieb oder zur Verbesserung der Chancen der Jugend, ihr Leben zu gestalten, unter Beteiligung der »citoyen-nes« (BürgerInnen) erarbeitet.

Ein wesentlicher Eckpunkt ist auch die Ablösung der fünften durch eine sechste Republik, die als grundlegende Erneuerung der Demokratie zugunsten des aktiven Eingreifens der Staatsbürger unter Zurückdrängen von Oligarchie und Entdemokratisierung zu verstehen ist. Melenchon verspricht bei seinen Wahlmeetings, der letzte Präsident der fünften Republik sein zu wollen, um eine »Constituante« für die sechste Republik einberufen zu können.

Eine wachsende Zahl von Menschen wird sich bewusst, dass marginale Korrekturen in der Systemkrise nicht ausreichen, um den notwendigen Politikwechsel herbeizuführen. Das schafft neue Möglichkeiten, verständlich zu machen, dass es »nützlich« ist, für Melenchon zu stimmen, wenn es darum geht, die von einer linken Mehrheit geführte Politik links zu verankern. Die FG positioniert sich nicht wie die Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA, 2009 gegründete Nachfolgepartei der LCR) als Anti-PS-Partei oder-Bewegung, sondern hat das »strategische Ziel alle Linien zu verändern, die Linien der gesamten Linken. Wir kommen auf diesem Weg voran ... Dank des Front de Gauche ist die Linke zurück.«10

Tatsächlich ist der von allen beobachtete »Linksruck« Hollandes und seine Distanzierung von Bayrou (rechtes Zentrum)11 nicht ohne die offensive Präsenz des FG und den Druck linker Strömungen innerhalb der PS erklärbar.12 Damit wird auch besser sichtbar, dass es für die Ergebnisse der gesamten Linken und ihre politischen Engagements »nützlich« ist, die FG zu unterstützen. Die Erfahrung mit Jean Luc Melenchon als Kandidaten zeigt, dass bei Präsenz einer klaren politischen Linie und einer entsprechenden politischen Ambition die Frage der Hegemonie auch öffentlich zum Thema gemacht werden kann. »Wir sind Kandidaten für eine neue Synthese auf  Seite der Linken«, sagt Melenchon. Wenn heute in einer Umfrage 23% der Befragten angeben, Melenchon wählen zu »können«, wird die Brisanz der Auseinandersetzung um die »nützlichen Stimme« deutlich. Wenn auch die Umfragen (derzeit 8-9%) deutlich höher sind als die Ergebnisse der PCF-Kandidatur 2007 (1,93%), so liegen sie dennoch nicht über den addierten Stimmen der »Linken der Linken« (zwischen 9% und 13% bei den letzten Präsidentschaftswahlgängen). Neu ist, dass es mit der Konsti­tution der FG gelungen ist, eine Perspektive links zu öffnen, womit neue Potenziale sichtbar werden. Vieles wird davon abhängen, wie sich die Diskussion innerhalb der Linken entwickelt, und ob Le Pen als mögliche Kandidatin für den 2. Wahlgang erscheint.

Zweifellos kann bei Melenchon von einer charismatischen Persönlichkeit gesprochen werden, der es gelingt, mit pädagogischen Fähigkeiten eine auf soziale Gerechtigkeit abzielende Antikrisen-Politik zu artikulieren. Die »milieux populaires« – womit nicht nur Prekäre, sozial Deklassierte, sondern auch noch in relativ stabilen Arbeits- und Lebensbedingungen sich befindende Arbeiter und Angestellte gemeint sind – werden zunehmend hellhöriger. Manche verfolgen per Internet systematisch die Auftritte des Kandidaten, »weil er der einzige ist, der die Wahrheit ausspricht und tatsächlich etwas vorschlägt um aus der Krise herauszukommen«, wie das ein Wähler formuliert hat.

 

Front de Gauche – eine neue linke Ambition

Links konnten seit 2008 neue Wege beschritten werden, nachdem eine gemeinsame antiliberale Kandidatur bei den Wahlen 2007 scheiterte, wie sie in dem erfolgreichen Referendum 2005 angestrebt worden war. Die kommunistische Partei (PCF) – stärkste Kraft in der alternativen Linken – beschloss 2008 als Strategie die Konstruktion einer »Front de Gauche«. Mit den Gründungen der »Parti de Gauche« durch im Wesentlichen aus der PS kommende Kreise um J.-L. Melenchon sowie der »Gauche unitaire« als Abspaltung von der NPA formierten sich die entsprechenden Partner. Hier ist der Beginn einer Tendenz zur Überwindung der Fragmentierung der kritischen Linken anzusetzen. Die in internen Debatten errungenen Entscheidungen, den »Raum« des Front de Gauche auch Nicht-Parteimitgliedern zu öffnen, ermöglichte die Beteiligung zahlreicher linker »Altermondialistes« (Globalisierungskritiker) und Gewerkschafter, kritischer Intellektueller, von denen viele am Gründungsprozess der NPA teilgenommen, sich aber  rasch sehr enttäuscht zurückgezogen hatten. Auch auf lokaler Ebene wirkt diese Methode integrativ, sodass sich diverse Akteure, oft in der Zusammenarbeit für unterschiedliche gesellschaftliche Anliegen geübt, jetzt auch im Kampf um die Veränderung politischer Kräfteverhältnisse zusammenfinden können.

Der Front de Gauche ist, da es darum geht, die Subalternen zu sammeln statt zu spalten, konfrontativ gegenüber Marine Le Pen aufgestellt. Le Pen tut alles, um als »Systemgegner« gegenüber Sarkozy, Hollande, Bayrou und Melenchon zu erscheinen. Es erweist sich als sehr kompliziert, die politischen Aussagen und die Strategie des FN transparent zu machen, ohne es ins Zentrum zu stellen und ihm damit Vorschub zu leisten. Die langjährigen Erfahrungen haben gezeigt, dass moralische Argumente, oder die Strategie des »cordon sanitaire« ineffizient sind. Das Votum für den FN muss als ein politisches, und nicht soziologisches Phänomen angegangen werden. FG ist darum bemüht, eine Kontroverse um den FN zu schaffen, um den tatsächlichen Charakter des FN deutlich sichtbar zu machen und eine Barriere durch die Rekonstruktion von Klassenbewusstein zu schaffen. Die UMP instrumentalisiert den FN und legitimiert sich, weil sie Teile des rassistischen Diskurses aufnimmt. Die PS instrumentalisiert den FN, um mit der Angst vor Le Pen im 2. Wahlgang und dem Argument der »verlorenen Stimme« für linke Kandidaten im 1. Wahlgang möglichst viele linke Stimmen zu holen.

Die Stimmen der Arbeiter sind von allen Kandidaten heiß umkämpft. Links geht es um die Motivierung der hier besonders zahlreichen NichtwählerInnen. Um die rechtsgerichteten Arbeiter zu erreichen, wird der Kampf zwischen UMP und FN immer heftiger.

Hauptproblem der Front de Gauche ist jetzt der Einbezug der »milieux populaires« in die politische Auseinandersetzung. Eine Umfrage unter (unteren, mittleren) Angestellten, Arbeitern und Rentnern stellte die Frage, ob einer der Kandidaten fähig sei, die Realitäten, mit denen sie in ihrem Alltag konfrontiert sind, zu verstehen. 31% sagen »niemand«, 14% Marine Le Pen, 11% François Hollande, 8% Jean Luc Melenchon, 6% Sarkozy und 6% Bayrou. 17% äußern sich nicht. Die Hälfte erwartet also nicht, dass politisch etwas für sie getan werden kann, oder dass die antretenden Kandidaten Möglichkeiten hätten, in ihrem Interesse politisch einzugreifen. Tatsächlich haben sich die »milieux populaires« (Angestellte und Arbeiter) seit 1983 (Mitterrands neoliberale Wende) von den etablierten linken Parteien immer weiter entfernt, von denen sie sich – völlig berechtigt – verlassen fühlten.13 Die bewusste Senkung der öffentlichen Einnahmen (30 Mrd. Euro jährlich) hat mit linken Regierungen begonnen. Insgesamt sind bei der anstehenden Wahl die Fragen der Lohnarbeit, der Löhne, der konkreten Arbeitsbedingungen, der Zukunft der Industrie, der Unternehmensverlagerungen etc. zentrale Themen.

Die große Auseinandersetzung 2005 um das Referendum zum EU-Verfassungsvertrag wirkt bis heute nach. Im FG leben die 2007 aufs Eis gelegten positiven Traditionen des »linken Nein« wieder auf und schaffen einen ganz neuen politischen Elan. Wie 2005 nehmen immer mehr nicht parteipolitisch Organisierte auf lokaler und nationaler Ebene an der »campagne citoyenne«  (Bürgerbewegung) aktiv teil14 – ganz im Geist eines der Plakate mit dem Titel »Prenez le pouvoir« (Nehmt euch die Macht). »Dank unserer Verschiedenartigkeit und unserer Programmpunkte sind wir im Begriff, innerhalb der Linken zu rekonstruieren, eine Hoffnung wiedererstehen zu lassen«, meint Christian Piquet.15

 

Gewerkschaften, Politikwechsel und Rentenreform

Interessant zu beobachten sind neuere Entwicklungen auf Seiten einiger Gewerkschaften. Bisher hatte eine gewisse »Neutralität« die Haltung der Gewerkschaften gegenüber den Kandidaten gekennzeichnet, wobei sich die gewerkschaftliche Intervention im Allgemeinen darauf beschränkte, ihre Forderungen öffentlich zu präsentieren – verbunden mit der Aufforderung, diese mit den Vorschlägen der Kandidaten zu vergleichen.

Diesmal ist die Wut in den Betrieben so groß – und hat mit Sarkozy einen Adressaten –, dass in einer Gewerkschaft wie der CGT mehr Bewegung entsteht. So wurde am 31. Januar in Paris eine Versammlung16 abgehalten, bei der die 6.000 TeilnehmerInnen als Vertreter ihrer Gewerkschaftsorganisationen mitten im Wahlkampf ihrer Forderung nach »Zurück zur Rente mit 60« Nachdruck verliehen. Bernard Thibault brachte in seiner Rede klar den Wunsch der Abwahl Sarkozys zum Ausdruck, was ihm Vorwürfe einbrachte, nicht nur von Seiten der UMP, sondern auch des Generalsekretärs der Gewerkschaft FO, der meinte, Thibault hätte die Grenze überschritten. Neu bei diesem Meeting war auch die Einladung an alle KandidatInnen der Linken, am Meeting teilzunehmen, der alle persönlich folgten, außer Hollande, der sich vertreten ließ. Der Kandidat des FG bekam großen Beifall.17 Des Weiteren führt die CGT eine groß angelegte Kampagne, um den FN zu demaskieren und insbesondere sein Ziel, die Lohnabhängigen zu spalten.

Die Erbitterung in den Gewerkschaften gegenüber Sarkozy ist stark angewachsen, der wie ein Bulldozer, ohne jede Verhandlungsbereitschaft, über die Bewegungen und gewerkschaftlichen Forderungen hinweggegangen ist. Die Auftritte des Präsidenten in bedrohten Betrieben werden als Spektakel und wirkungslos empfunden.

In diesem Kontext wird deutlich, dass die kämpferischen Teile der Gewerkschaften mit Ungeduld auf einen Regierungswechsel warten, aber diesmal wohl nicht – wie in den 1980er Jahren – in der Erwartung, dass die eventuell an die Macht kommende Linke die entsprechenden Reformen sozusagen von oben realisieren wird, sondern mit der Hoffnung, dass unter derart veränderten Kräfteverhältnissen bessere Bedingungen existieren, um sich durchzusetzen. So kann das kämpferische Meeting der CGT zur Rentenfrage und die an alle linken Kandidaten ausgesprochene Einladung als Beginn einer neuen Kampagne für das Recht auf eine Vollrente mit 60, das nur von Melenchon vertreten wird, interpretiert werden. Hollande akzeptiert die Rente mit 60 nur für lange Berufskarrieren und schlägt Teilreformen vor, auch unter Heranziehung von Beiträgen der Kapital- und Bankeinkommen.

Zur neuerliche Senkung der Sozialabgaben der Unternehmer sagte Thibault auf der Kundgebung im Januar, diese seien »Eigentum weder der Unternehmer noch der Regierung, sondern Teil der Löhne und gehören den Lohnabhängigen. Ihnen steht es zu zu entscheiden, welcher Gebrauch davon zu machen ist«. Sarkozys Ansage, zukünftig »accords compétitivité emploi« (betriebliche Wettbewerbs- und Beschäftigungsbündnisse) zu fördern, ist de facto der Versuch der Auflösung der kollektiven Regelungen. Darin sieht Thibault »eine nie dagewesene Offensive gegen das Arbeitsrecht…eine regelrechte Revolution des Arbeitsrechtes, aber eine solche Revolution muss bekämpft werden. Die Patrons träumen davon, die Regierung will sie durchsetzen, aber die Partie beginnt erst.«

 

Europa und die französischen Wahlen

Die europäische Konfiguration macht deutlich, dass eine linke Politik in Frankreich oder anderswo nur dann umgesetzt werden kann, wenn eine neue politische Mehrheit sich offensiv neue Handlungsspielräume – in Frankreich und in Europa – erkämpft. Womit die sofort notwendige Umorientierung der europäischen Politik unmittelbar als innenpolitisches Problem ansteht. Das hat auch zur Folge, dass die französische Wahl direkte Konsequenzen für ganz Europa hat.

Während Joly und Hollande die gesamte europäische Logik nicht in Frage stellen – Hollande will den EU-Konsolidierungspakt vom Januar 2012 insofern neu verhandeln, als eine Wachstumsorientierung angefügt werden soll –, spricht die FG von der Option des Ungehorsams (»désobéissance«), was Bestimmungen betrifft, die zentrale Punkte einer neue Politik verhindern würden. Die Linksfront hofft, in ganz Europa zahlreiche Bündnispartner für eine solche massive Anfechtung der zerstörerischen EU-Regeln und für eine Alternative18 zu gewinnen. Gegenüber dem EU-Fiskalpakt wird ein »neuer Pakt für sozialen Fortschritt und gemeinsame Entwicklung«, mit einer neuen Rolle der EZB vorgeschlagen.

»Merkozy« führen gemeinsam Wahlkampf in Frankreich,19 denn der Ausgang der französischen Wahlen hat unweigerlich eine europäische Tragweite. Ihr Ziel ist es, ganz Europa unter eine »austeritäre« (austäre und autoritär) Kuratel zu stellen, damit Budget- und Sozialpolitik auch wirklich einer immer härteren Austeritätslogik unterstellt werden. Mit einem solchen Duo soll der Vorwurf einer »deutschen Hegemonie« in Europa entkräftet werden, Sarkozy als eifriger krisenbekämpfender Co-Pilot erscheinen und gleichzeitig eine gewisse europäische Stabilität vorgetäuscht werden. Sarkozy trägt aus politischen und opportunistischen Gründen sowie in Anbetracht der derzeitigen Kräfteverhältnisse Merkels Wirtschaftspolitik mit. Die Hoffnung ist groß, dass es die Franzosen nicht tun.