Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus

Wurde nach der Lehman-Pleite 2008 der »Tod des Neoliberalismus« zu früh ausgerufen, wie schon einmal 20 Jahre zuvor von Eric Hobsbawm? Die Hochphase neoliberaler Ideologie setzte danach erst richtig ein. Doch drei Jahre Krisenkaskaden haben zu einer veränderten Hegemoniekonstellation geführt, die es neu einzuschätzen gilt.
Die Abnutzungs-, Deformations- oder Entfremdungserscheinungen der demokratischen Willensbildung in den entwickelten kapitalistischen Ländern1 bestimmen seit längerem die öffentliche Diskussion. Der britische Soziologe Colin Crouch hat diesen Zustand analysiert und vertritt für das politische System folgende These: Ein postdemokratisches System ist ein Gemeinwesen, »in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden ..., in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten« (Crouch 2008: 10).

Postdemokratie und neoliberale Herrschaft

Für diesen Zusammenhang von schlechtem politischen Theater und Apathie der breiten Bevölkerung gibt es in der Berliner Republik ein aktuelles Beispiel: »Die Affäre um Wulff ist ein weiteres Symptom jener postdemokratischen Zustände… Colin Crouch, der wirkungsvoll wie kaum ein anderer das postdemokratische Zeitalter beschrieben hat (in dem sich Wirtschaft und Politik informell arrangieren und das Ideal des demokratisch aufgeweckten Bürgers so sehr in den Hintergrund tritt, wie das postindustrielle Zeitalter den traditionellen Arbeitnehmer marginalisierte), nennt ein Datum, das dieses Zeitalter endgültig einleitete und ihm die Augen öffnete: als bekannt wurde, dass Peter Mandelson, britischer Minister für Handel und Industrie, einen sehr marktunüblichen Kredit zum Erwerb seines Eigenheimes bekam.«2
1998 hatte sich Mandelson3 von seinem Freund, Labour-Zahlmeister Geoffrey Robinson, für einen Hauskauf im noblen Londoner Stadtteil Notting Hill Geld geliehen, ohne dies anzugeben. Peter Mandelson gilt als einer der Hauptarchitekten beim Umbau der britischen Labour Party zu »New Labour«.4 Orientierungspunkt war ein Marktfundamentalismus, der in den 1980er Jahren, vor allem aber in der ersten Hälfte der 1990er Jahre das Denken, die Diskurse und die Politik beherrschte. Die Ausrichtung von New Labour hatte Mandelson folgendermaßen umrissen: Wenn die Reichen noch reicher werden, wird das nach und nach auch zu den unteren Einkommensschichten durchsickern: »Uns ist es egal, ob Leute stinkend reich werden – solange sie ihre Steuern bezahlen.«
Alles, was Labour nach der Regierungsübernahme verfolgte, war in den Jahren der Opposition entworfen worden. In dem Buch »The Blair Revolution. Can New Labour Deliver?« hatten Peter Mandelson und Roger Liddle bereits 1996 die Grund¬überlegungen des Blairismus durchbuchstabiert: »Die Tage des einfachen, home-based Keynesianismus werden nicht zurückkehren, nationale Ökonomien müssen ihre Interdependenz anerkennen.« Das Primat der (Markt-)Ökonomie wurde nur insoweit eingeschränkt, als »die Märkte, auf sich allein gestellt, dazu tendierten, Ungleichheiten zu verstärken und Privilegien zu befestigen«. New Labour wies zentralisierte, etatistische Lösungen sozialer und ökonomischer Probleme »emphatisch« zurück: »Es ist die Aufgabe der nationalen Regierung, den richtigen Rahmen zu setzen, nicht alles selbst zu tun«.
Die Verwobenheit der britischen Sozialdemokratie mit der reichen Oberschicht und der herrschenden Elite verstärkte die ideologische Vorherrschaft des Neoliberalismus und markierte den Beginn der Auflösung demokratischer Willensbildung und der Zerstörung des demokratisch strukturierten politischen Feldes. Trotz des ökonomischen Desasters des Finanzmarktkapitalismus in der Großen Krise seit 2008 ist – so die Hauptthese von Colin Crouch – der »Neoliberalismus … nicht nur nicht tot, sondern noch stärker geworden… Der Neoliberalismus ist ein Phänomen der großen internationalen Konzerne. Die List ist, dass sie den freien Markt propagieren, aber gleichzeitig diesen Markt beherrschen, sodass es keinen freien Markt gibt.« (Crouch 2012)
Nun ist in der Krise »ein sehr breites Verständnis« für gewisse Marktregulierungen entstanden, und eine Sensibilität dafür, wenn »die Politiker die Probleme vertuschen«. So hat die Krisenkaskade der letzten Jahre zumindest ein wenig Bewegung in die Entfremdungskulisse der Demokratie gebracht. Es sind nicht nur die spin doctors, die über die Auswahl der Probleme entscheiden. Es ist vielmehr so, dass der Zusammenhang zwischen Postdemokratie, Finanzmarktkapitalismus und Großer Krise immer wieder aufblitzt. Insofern sind Chancen für eine bessere Demokratie nicht gänzlich verschüttet. Aber, so schätzt Crouch die Entwicklung ein: »Wahrscheinlich muss alles erst noch schlechter werden, damit es besser wird.« (ebd.)
Dieser Schlussfolgerung, dass die Krisen des »demokratischen Kapitalismus« erst noch drückender werden müssen, bevor eine Trendwende der politischen und ökonomischen Erneuerung erfolgen könne, möchten wir widersprechen. Wir halten zentrale Bausteine der Argumentation für nicht tragfähig. Neoliberalismus ist keineswegs ein »Phänomen« der großen internationalen Konzerne, sondern eine sozial verankerte politische Reaktion auf Strukturprobleme des heutigen Kapitalismus. Die auch von uns nicht bestrittene Schwierigkeit, nach dem offenkundigen Scheitern des finanzgetriebenen Kapitalismus eine demokratische Alternative durchzusetzen, kann nicht auf die massenhafte Apathie der breiten Bevölkerungsschichten geschoben werden.
Das Gesellschaftsmodell des Finanzmarktkapitalismus bestand darin, durch private Verschuldung die Nachfrage hoch und die Wirtschaft am Laufen zu halten. Dazu gibt es bisher keine ausformulierte Alternative. Deshalb wünschen sich die politischen Eliten wohl am meisten, dass das Modell repariert wird und weiter funktioniert – nur mit etwas weniger »high risk«. Ein sehr gefährlicher, aber auch interessanter Moment, wie die herrschenden Eliten mit den dabei zuhauf auftretenden Widersprüchen umgehen – die ungelöste Krise in Europa liefert dazu nahezu unerschöpfliches Anschauungsmaterial. »Und es ist auch ein schizophrener Moment: Was die Möglichkeit betrifft, dass es wieder eine lebendigere Politik gibt, ist es ein hoffnungsfroher Moment. Was die ökonomischen Aussichten betrifft, ist es natürlich ein deprimierender Moment, und man kann nur wünschen, dass nicht zu viele Menschen ins Elend abstürzen« (Crouch 2009).

Bearbeitungsformen der neoliberalen Krise

Bevor wir näher auf Colin Crouchs Begründungselemente für das »befremdliche Überleben des Neoliberalismus« eingehen, sollen kurz drei Bearbeitungsformen der Krise in den intellektuellen Diskursen skizziert werden: exemplarisch an den publizistischen Interventionen von Frank Schirrmacher, Jürgen Habermas und Gabor Steingart. Wie wird Demokratiezersetzung hierzulande eingeordnet?
»Die angebliche Rationalität finanzökonomischer Prozesse hat« – so der Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – »dem atavistischen Unterbewusstsein zum Durchbruch verholfen.« (Schirrmacher 2011) »Atavistisch« bezeichnet die Aktualisierung reaktionärer Mythen, die über lange Nachkriegsjahrzehnte gültige »moralische Übereinkünfte« hinsichtlich der Regeln des ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Lebens zerstören. In der Großen Krise seit 2007 verdichten sich »schleichend« ablaufende Prozesse, »sie tun ihr Werk im Halbbewussten, manchmal über Jahrzehnte, bis aus ihnen eine neue Ideologie entstanden ist. So war es immer in den Inkubationsphasen der großen autoritären Krisen des zwanzigsten Jahrhunderts« (ebd.). Die Finanz- und Wirtschaftskrise beleuchtet wie durch ein Brennglas die Zersetzung von bürgerlicher Ordnung, Moral und Herrschaft. Und durch die Risse des bürgerlichen Kosmos lugen bereits jene sozialen und politischen Kräfte, die mit einem Amalgam aus anti-neoliberalem Sozialprotest, autoritärer Islam- und Ausländerfeindlichkeit und Europakritik die Machtfrage von rechts stellen.
So weit geht Jürgen Habermas (2011) nicht. Seine Kritik bleibt an »einer von ›den Märkten‹ kujonierten politischen Klasse« stehen, an jenem »postdemokratischen Weg«, den Merkel und Sarkozy als das »neue Euro¬pa« preisen. Doch bereits an dieser Schwelle vollzieht sich eine tiefgreifende Transformation: statt demokratische Integration verstärkte Koordination durch intergouvernementale Gremien, die – mit EZB und IWF – das Budgetrecht in strauchelnden Staaten ausüben und die Kanäle der parlamentarischen Demokratie trockenlegen. Was beim FAZ-Herausgeber die Zerstörung der Moral, ist bei Habermas der Angriff auf die »Würde der Demokratie«, den es mit einer breiten europäischen Öffentlichkeit und regulatorischer Handlungsfähigkeit auf supranationaler Ebene zurückzuschlagen gilt. »Krise als Chance«!
Die Sorgen von Schirrmacher und Habermas über die inneren Zersetzungspotenziale der postdemokratischen Gesellschaft erscheinen aus neoliberaler Sicht als purer Defaitismus. Für Gabor Steingart (2011), Chefredakteur des Handelsblatts, sind Schirrmacher und Habermas Anführer einer Jagdgesellschaft, die eine »Treibjagd auf unsere Wirtschaftsordnung« veranstalten, bei der der Kapitalismus gejagt, aber letztlich die Marktwirtschaft erlegt wird. Als Apologet sieht Steingart sich nicht, in den Reihen der Finanzmarkt-Kritiker will auch er nicht fehlen: »Der alte Zusammenhang, dass sich Geld in einer Art chemischen Reaktion durch den Zusatz von ›Arbeit‹ und ›Rohstoff‹ in eine Ware verwandelt, bevor diese ihren Mehrwert in einem Grande Finale wieder in Geld ausdrückt, sollte verkürzt werden. Die Geldindustrie versuchte, Geld aus Geld zu schöpfen, und hat damit der Marktwirtschaft den bisher empfindlichsten Schlag versetzt«. Aber die Kritik läuft – so Steingart – falsch mit der Forderung nach Wiederherstellung des Primats der Politik. Denn übersehen wird dabei: Mit der Aufblähung der öffentlichen Verschuldung und der Mobilisierung neuer Finanzmarktprodukte – von Publik-Private-Partnership bis zum Hebeln von Staatsanleihen – sind Staat und Kapitalmärkte eine Symbiose eingegangen. »Der eine hebelt den anderen aus der Patsche... Das alles ist nicht Marktwirtschaft, sondern Verrat an ihren Prinzipien. Die Märkte sind nicht enthemmt, sondern außer Kraft gesetzt.« Wie die Akrobaten des Geldheckens (G-G‘) sieht Steingart die irregeleiteten Verteidiger der Demokratie in den Arenen des Feuilletons und der akademischen Welt in die Rolle des Brutus schlüpfen. »Regulierung ist das Codewort, das sich die Gegner der Marktwirtschaft zuraunen«. Die Umdeutung zentraler Kategorien der Marktwirtschaft gilt es rückgängig zu machen: Leistungswille ist nicht Gier, Erfolg nicht Unbarmherzigkeit.
Die Frage, welchen politischen Lagern die Jagdgesellschaft und ihr Kritiker zuzuordnen sind, scheint zumindest nach einer Seite hin leicht zu beantworten: Der Staatskritiker Stein¬gart weist sich als Neoliberaler aus. Denn, so Crouch: Auch wenn »viele unterschiedliche Varianten und Nuancen des Neoliberalismus« existieren, besteht doch »sein Wesen nach wie vor darin, den Markt grundsätzlich dem Staat als Mittel zur Lösung von Problemen und zur Erreichung zivilisatorischer Ziele vorzuziehen« (Crouch 2011a: 27). Doch die führende Schreibkraft des Handelsblatts wird der Krisendiagnose der Neoliberalismus-Kritiker widersprechen: Für Steingart ist in der Großen Krise nicht der Neoliberalismus, sondern ein Staats-Kapitalismus gescheitert. Dass nur massiver staatlicher Einsatz die Banken stabilisieren, eine Kreditklemme verhindern und den realwirtschaftlichen Einsturz 2009 stoppen konnte, ist für Steingart kein immanenter neoliberaler Widerspruch, sondern Beleg für eine unheilvolle Krisenallianz. Für ihn bleibt der Neoliberalismus als marktwirtschaftliches Programm der Entstaatlichung und Deregulierung auf der Agenda. Kein »befremdliches« Überleben des Neoliberalismus, sondern Neoliberalismus als Zukunftsprogramm.

Neoliberalismus im Dreieck von Markt, Staat und Unternehmen

Für Crouch ist diese Vorstellung eines von Staatsinterventionen abgeschirmten, nur durch Nachfrage und Zufuhr regulierten Marktes eine naive, vollkommen wirklichkeitsfremde Vorstellung. Schon aus immanenten Gründen – die Voraussetzungen sind nicht realitätstauglich: (1) nicht alle Güter haben einen Preis; (2) nicht alle Menschen haben ungehinderten und gleichen Zugang zum Markt, wie u.a. der Nachweis »systemischer Risiken« großer Banken, Versicherungen und Immobilienmakler deutlich gemacht hat; (3) zur Preisbildung ist eine hinreichende Anzahl von Transaktionen erforderlich – nach der Subprime-Krise war das in größeren Teilen des Immobilienmarktes nicht mehr der Fall; (4) vollkommene Markttransparenz ist eine Illusion, wie gerade die Bündelung/Verbriefung von »Risiken« in den neuen Finanzmarktprodukten im Vorfeld der Großen Krise gezeigt hat; und schließlich (5) weisen Märkte immer Regulierungen und damit politische Eingriffe auf – »Zudem kam, wie William Roy anhand der Geschichte des Kapitalismus in den USA nachweist, der kapitalistische Markt erst dann so richtig in Schwung, als der Staat einige der Risiken, die mit großen Investitionen einhergehen, absicherte und damit vergesellschaftete« (ebd.: 55-77, hier 76).
Crouchs zentrales Argument gegen den naiven Neoliberalismus liegt noch jenseits der langen Debatte um »Marktversagen«. Von »grundlegender Bedeutung« für seine Argumentation ist die Rolle von »Großkonzernen«, die zu einer bedeutsamen Veränderung im Fokus des Neoliberalismus geführt hat. Crouch verortet dies historisch mit der Wahl Reagans zum Präsidenten der USA 1980: »Dabei änderte sich auch das amerikanische Wirtschaftsrecht, dessen Antitrustgesetze sich Deutschland und andere Anhänger der sozialen Marktwirtschaft in Europa einst zum Vorbild genommen hatten. Nach der Chicagoer Deregulierungslehre wurde der Wettbewerb nicht mehr als Prozess betrachtet, der eine Vielfalt konkurrierender Anbieter, nahezu perfekte Märkte und reichhaltige Wahlfreiheit für die Konsumenten garantiert. Vielmehr sollten Gesetzgeber und Ökonomen ihn ergebnisorientiert betrachten: An die Stelle der liberalen Idee der Wahlfreiheit des Konsumenten trat damit die paternalistische Sorge um seinen Wohlstand, derzufolge er vor allem von sinkenden Preisen profitiere, die natürlich eher von Großkonzernen als von kleinen und mittleren Unternehmen gewährleistet werden können. Dieser vom Neoliberalismus bewirkte grundlegende Wandel ist in der öffentlichen Debatte kaum bemerkt worden, die sich immer nur auf den Konflikt Staat oder Markt konzentriert.« (ebd.: 38f.)
Neben Markt und Staat ist das Unternehmen als dritter Akteur entscheidend. Selbstredend, so Crouch, dass dadurch die Prämisse »vollkommener Märkte« noch mehr ad absurdum geführt wird. Aber vor allem wird das neoliberale Staatsverständnis »paradox« (ebd.: 95): einerseits strikte Ablehnung staatlicher Interventionen (auch in Fragen des Verbraucher- und Umweltschutzes), andererseits »Instrumentalisierung des Staates im Sinne jener Konzerne« (ebd. 104) wie Enron und WorldCom (Bilanzfälschungen, die möglich geworden waren, nachdem es Wirtschaftsprüfungsunternehmen erlaubt wurde, gleichzeitig als Berater in den geprüften Unternehmen zu wirken) ebenso zeigen wie die Kampagne gegen Obamas Gesundheitsreform (mit dem Ergebnis, dass statt des Aufbaus einer gesetzlichen Krankenversicherung der Abschluss einer privaten Police verpflichtend wurde) und die Auseinandersetzung um die Kennzeichnung von Nahrungsmitteln im EU-Parlament (ebd.: 95-106). Hier erweitert Crouch auch die Bedeutung von Lobbyarbeit, die schon in »Postdemokratie« eine zentrale Rolle spielte: »Die Vertreter der transnationalen Konzerne der Gegenwart sitzen … längst nicht mehr in der Lobby, also vor den Kabinettsälen der Regierungen. Sie sind direkt an politischen Entscheidungen beteiligt.« (ebd.: 186).
Die Paradoxie wird weitergetrieben durch die Privatisierung insbesondere öffentlicher Vorsorge- und Sozialstaatsengagements, die im Fall privater Alleinanbieter zu monopolistischen oder zumindest oligopolistischen Strukturen führt. »Damit kommen wir zum grundlegenden Dilemma der neoliberalen Strategie: In dem Versuch, bestimmte Formen staatlicher Intervention ins Wirtschaftsgeschehen einzudämmen, schafft sie Raum für Verflechtungen beider Bereiche, die ernsthafte Probleme sowohl für den freien Markt als auch für die Redlichkeit öffentlicher Institutionen aufwerfen.« (ebd.: 137).
Für Colin Crouch ist ein Publizist wie Gabor Steingart – oder die Wirtschaftsredakteure der FAZ und zumindest die halbe Mannschaft der Financial Times – ein moderner Don Quijote, der weder die theoretisch-strategische Umorientierung des Neoliberalismus (von Wettbewerb/Wahlfreiheit zu Effizienz i.S. von Wohlfahrt/Reichtum) mitbekommen hat, noch in der Lage ist, sich in der Realität zu orientieren. Denn die ist nicht mit den Prämissen des naiven Neoliberalismus zu beschreiben, sondern folgte einem »neoliberalen Keynesianismus«. Das entscheidende Jahr ist für Crouch 1999: die Suspendierung des Glass-Steagall-Act aus der Zeit der Großen Depression (1933), der es Banken untersagte, Kundeneinlagen für hochriskante Investments zu verwenden – was heute mit der Forderung nach Separierung des Investmentbanking wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Damit war der Weg frei für die weitere Expansion des Finanzmarktkapitalismus: mit der Durchsetzung der Shareholder Value Steuerung in den Unternehmen (ebd.: 150-157) und der Neubewertung, Bündelung und Veräußerung jener Risiken, die sich in der Großen Krise als »toxisch« und »systemisch« erwiesen (ebd.: 145-150). Damit war eine umfassende Verschuldung im Immobilienmarkt bis in die unteren Ränge der Einkommenspyramide möglich, die den privaten Konsum befeuerte und damit den Aufschwung nach dem Platzen der Dot-Com-Blase im ersten Jahrzehnt des 21. Jahr-hunderts ermöglichte.

»Privatisierter Keynesianismus«

Der neoliberale oder privatisierte Keynesianismus scheitert mit der Krise nach 2008 (Schuldenkrise, Eurozonen-Krise). Der Zusammenhang von Aufstieg und Fall des neoliberalen Keynesianismus muss genauer betrachtet werden. »Der Neoliberalismus trat seine Regentschaft an, als sein Vorgänger, die keynesianische Nachfragesteuerung, in den 70er Jahren eine massive Inflationskrise heraufbeschwor.« (Crouch 2011b: 51) Diese These überzeugt uns nicht. Denn es waren weniger die kreditär finanzierten Konjunkturimpulse, mit denen die Akkumulation in den kapitalistischen Hauptländern revitalisiert und die Arbeitslosigkeit bekämpft werden sollte, die für den massiven Preisanstieg verantwortlich waren.
Für uns stellt sich die Entwicklung folgendermaßen dar: Mit dem Verzicht auf die Stützung des US-Dollars wurden Anfang der 1970er Jahre eine weitere Aufblähung der Geldmenge und eine Beschleunigung der Teuerung unterbunden. Damit verabschiedete sich ein Großteil der Notenbanken vom System fester Wechselkurse. Der US-Dollar befindet sich seitdem in einem fallenden Trend. Der Übergang zu flexiblen Wechselkursen 1973 stellte ein einschneidendes Ereignis dar, weil er den Notenbanken erlaubte, eine autonome, an Preisstabilität orientierte Geldpolitik zu verfolgen. Die Anstrengungen zur Stabilisierung des Preisniveaus verstärkten aber die realwirtschaftliche Krisen¬entwicklung in den Metropolen 1974/75.
Zweifellos war die Währungsordnung von Bretton Woods ein zentraler Faktor der Entwicklung des internationalen Kapital- und Warenverkehrs und damit des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Krieg. Allerdings: Eine Ausrichtung der nationalen Wirtschaftspolitik an der Aufrechterhaltung fester Wechselkurse war auf globaler Ebene politisch nicht aufrechtzuerhalten. Divergenzen in der Ausrichtung der Wirtschaftspolitik führender Industrieländer, vor allem in den Vereinigten Staaten auf der einen und einigen europäischen Ländern sowie Japan auf der anderen Seite, hatten im Zeitverlauf zunehmende Spannungen zur Folge. Diese Spannungen wurden durch massiv wachsende internationale Kapitalströme weiter verschärft. Der Übergang zu flexiblen Wechselkursen ermöglichte es Ländern wie Deutschland, mittels einer preisstabilitätsorientierten Geldpolitik jene Inflation zu vermeiden, die in den 1970er Jahren in den Vereinigten Staaten und zahlreichen anderen Ländern grassierte.
Die Umbruchsituation in der westlichen, kapitalistischen Hemisphäre in den 1970er Jahren ist neben dem Ende beschleunigter Akkumulation und dem Übergang in die Epoche struktureller Überakkumulation in erster Linie durch Veränderungen des Weltwährungssystems und des Übergangs zu einem Regime der flexiblen Wechselkurse geprägt. Hinzu kamen Veränderungen im Zusammenhang mit drastischen Bewegungen der Energiepreise (Ölpreis-Schock) und verschärfte Verteilungskonflikte zwischen Lohnarbeit und Kapital.
Die Umsetzung der Strukturveränderungen in den kapitalistischen Metropolen erfolgte in Großbritannien und den USA (Thatcher und Reagan) mit der Bekämpfung der Gewerkschaften und dem Rückbau der Arbeits- und Tarifrechte (in GB). In Großbritannien fanden die auch symbolisch entscheidenden Auseinandersetzungen gegen die Bergarbeiter, in den USA gegen die Beschäftigten in der Luftfahrtindustrie statt. Der Rückgang der hoch organisierten Industriearbeiterschaft war die soziale Voraussetzung für die Durchsetzung der finanzmarktgetriebenen Kapitalakkumulation (Crouch 2011a: 162).
Durch permanente Steuersenkungen sollte die Akkumulation neu befeuert werden. Die Kämpfe der herrschenden Eliten gegen die organisierte Lohnarbeit wurden so kombiniert mit einer Neueinbindung der »Subalternen«, »jedoch nicht als Arbeitnehmer (…), sondern als Schuldner, als Akteur auf den Kreditmärkten. Dieser politische Wandel war grundlegender als alles, was durch reguläre Regierungswechsel von nominell sozialdemokratischen zu neoliberal-konservativen Parteien hätte bewirkt werden können. Er hat zu einem Rechtsruck im ganzen politischen Spektrum geführt, da man die kollektiven und individuellen Interessen der Bürger den Finanzmärkten überließ« (ebd.: 166f.).
Crouch erfasst damit wichtige Elemente des finanzgetriebenen Kapitalismus. Aber die Formel, dass die keynesianisch inspirierte Staatsverschuldung durch eine Verschuldung der privaten Haushalte, also einen neoliberalen Keynesianismus, ersetzt wurde, ist wenig überzeugend. Der »Pumpkapitalismus« ist kein Hybridprodukt eines gescheiterten Keynesianismus. Deregulierung, Steuersenkungen und Privatisierung waren die wesentlichen Schritte zum Umbau des Akkumulationsregimes der Nachkriegszeit. In der Folge von sinkenden Zinssätzen und dem Anstieg von Vermögenswerten des privaten Immobilienbesitzes kam es zur Expansion des Kredits, den Crouch im Kern als soziale Massenbasis des Siegeszuges des Neoliberalismus ausweist:
»Millionen Menschen, darunter viele mit eher niedrigem Einkommen, vor allem in den anglo-amerikanischen Ländern, haben ein paar Krümel vom Tisch der Reichen abbekommen. Verantwortlich dafür war das Zusammenspiel des Immobilien- und des Finanzmarkts. In den westlichen Ländern erwarben seit den 80er Jahren immer mehr Menschen mit niedrigem Einkommen ein Eigenheim auf Kredit. Diese Entwicklung war nicht nur marktbedingt, sondern politisch gewollt. Die Regierungen diverser Länder, allen voran Großbritanniens und der USA, haben sie durch die Lockerung der Richtlinien zur Kreditvergabe bei der Eigenheimfinanzierung gefördert. Begleitend haben sie mit wirtschaftspolitischen Maßnahmen dafür gesorgt, dass die Immobilienpreise unablässig stiegen, was die Zuversicht der Käufer erhöhte, sich die hohen Darlehen auch leisten zu können…Überdies konnten die Käufer aufgrund der steigenden Grundstückswerte höhere Hypotheken aufnehmen oder die Kreditlaufzeit verlängern und damit Geld für den Erwerb anderer Konsumgüter freimachen. Zugleich wurde immer mehr per Kreditkarte bezahlt, das heißt: Immer mehr Menschen finanzierten ihre Einkäufe zu relativ hohen Zinssätzen auf Pump…
Schließlich begannen die Regierungen, diesen privatisierten Keynesianismus in ihre wirtschaftspolitischen Strategien einzubeziehen… So lockerte die britische Regierung die Beschränkungen für die Vergabe von Hypothekenkrediten, während sich die beiden staatseigenen Hypothekenbanken in den USA, Fannie Mae und Freddie Mac, in großem Umfang auf den Subprime-Märkten (für Kreditnehmer mit schlechter Bonität) engagierten.
Davon, dass ein demokratisches kapitalistisches System auf steigenden Einkommen, sozialen Netzen und staatlicher Förderung der Inlandsnachfrage beruhe, war nicht mehr die Rede. Wohlstand und Wirtschaftswachstum verdankten sich nicht länger der sozialdemokratischen Formel ›staatliche Interventionen zugunsten der breiten Arbeitnehmerschichten‹, sondern ihrem neoliberal-konservativen Pendant ›Banken, Börsen und Finanzmarkt‹. Auch sie berücksichtigt den kleinen Mann, jedoch nicht als Arbeitnehmer, der seine Lage mit Hilfe von Gewerkschaften, Arbeitsschutzrechten und öffentlich finanzierten Sozialversicherungssystemen bessern will, sondern allein als Schuldner, als Akteur auf den Kreditmärkten.« (Crouch 2011b: 56f.)
Die Lösung des Rätsels vom »befremdlichen Überlebens des Neoliberalismus« in der Großen Krise zielt – Crouch zufolge – mithin neben der gewachsenen systemischen Risiko-Macht großer Unternehmen und Banken auf die Fortschreibung des Immobilieneigentums samt aller damit verbundenen Verschuldung auch nach Ausbruch der Krise. Eine extrem fragile Konstellation
Ist eine Veränderung analog zur Großen Depression der 1930er Jahre zu erwarten, als der Pendel zu keynesianischer Wirtschaftssteuerung und dem Regime des Fordismus ausschlug? Crouch antwortet im Vergleich der 1970er Jahre zur heutigen Situation mit einem entschiedenen Nein! »Denn die Krise des Keynesianismus führte nicht deshalb zu seiner Abschaffung statt zu einer Reform oder Anpassung, weil irgend etwas an seinen Ideen grundsätzlich falsch gewesen wäre, sondern weil die Schicht, deren Interessen er vertrat – die Arbeiterschaft der westlichen Industrieländer –, sich in einem historischen Niedergang befand und ihre gesellschaftliche Macht zu verlieren begann. Im Gegensatz dazu haben die Kräfte, die heute vom Neoliberalismus profitieren – globale Konzerne insbesondere des Finanzsektors –, keineswegs an Einfluss verloren.« (Crouch 2011a: 19)
Die klare Ansage lautet also: Die Herrschaftsstrukturen bleiben stabil – in der Krise lauert weder eine Chance, noch steht ein über Postdemokratie hinausgehender autoritärer Kapitalismus zu befürchten. Nimmt man dagegen die skizzierte Entwicklung der Einbindung breiter Bevölkerungsschichten in ein System des Kleineigentums um den Preis der massiven Verschuldung und schließlich des Wertverfalls dieses Hauseigentums ernst, dann wird die Machtbasis der Konzerne in der Realökonomie und im Finanzsektor angreifbar.

Systemstrukturen und Strukturveränderungen

Colin Crouch argumentiert mit Herrschaftsstrukturen. Dabei geraten jedoch Systemstrukturen und Strukturveränderungen aus dem Blick.
Ersteres soll darauf verweisen, dass mit dem Neoliberalismus der Mythos an der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft zentraler Bezugspunkt des ideologischen Überbaus wird, jene »verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben« (MEW 25, S. 838), eine Welt, in der sowohl die Fortschritte der klassischen politischen Ökonomie als auch des Keynesianismus hinter dem Schein der gesellschaftlichen Verhältnisse verschwinden.
Das zweite, die Strukturveränderungen, können im Übergang vom keynesianisch regulierten Kapitalismus zum finanzmarktgetriebenen Akkumulationsregime des Neokonservatismus/Neoliberalismus5 verdeutlicht werden. Die Stichworte, die Crouch hier liefert, sind Inflation und Aufkündigung des Ziels der Vollbeschäftigung. Dahinter stehen jedoch Strukturveränderungen, die für das Verständnis des Neoliberalismus zentral sind. Zum einen muss der Neoliberalismus als Regime der Vermögensbesitzer gefasst werden, die den Kern seiner sozialen Basis ausmachen und mit dem Primat der Inflationsbekämpfung ihre vornehmlichen Interessen verteidigen. Der Neoliberalismus ist der ideologisch-politische Überbau eines von den Finanzmärkten getriebenen Akkumulationsregimes und seiner entsprechenden Regulationsweise.
Zum anderen vollziehen sich in den 1970er Jahren mit der Krise des Fordismus zwei weitere Strukturveränderungen, von denen die Krise sozialstaatlicher Wirtschaftssteuerung mit allen Angriffen auf die Lebensverhältnisse der lohnabhängigen Klassen bis heute im Vordergrund steht. Zugleich findet jedoch ein Prozess statt, der eine folgenreiche Restrukturierung des Arbeitsregimes zum Inhalt hat. Flexibilisierung und Subjektivierung stehen dabei gleichermaßen für eine Entgrenzung der Arbeit, für Selbststeuerung (»Führe Dich Selbst«) und für die Ansprache und Verstärkung der Individualität der Beschäftigten im Sinne einer Strategie des Empowerments und der Responsibilisierung: Eigeninitiative, Eigenverantwortlichkeit.
All dies wiederum ist eingebettet in Marktsteuerung nicht nur zwischen, sondern auch in den Unternehmen, die zu einer Perpetuierung von Unsicherheit führt. Die Hegemonie des Neo¬liberalismus (im Sinne von Führung) ist ohne diese Veränderungen in der Unternehmens- und Arbeitsorganisation nicht zu verstehen – damit war es möglich, tief in die Reihen der Lohnabhängigen einschließlich Teile ihrer Organisationen einzudringen und zu einem übermächtigen sozialen und ideologischen Diskurs zu werden. Wenn man es in Formeln fassen will, steht der Neoliberalismus sicherlich für die Parole »Alle Macht den Märkten«, aber ebenso für »Alle Macht den Vermögensbesitzern« und »Alle Macht den Individuen«.6 Nur die erste Formel findet sich bei Crouch – womit aber gerade das »Moderne«, »Zeitgenössische« des Neoliberalismus nicht erfasst wird.7
Es wäre eine gesonderte Diskussion, ob diese gleichsam arbeitspolitische Flanke des Neoliberalismus mit seiner spezifischen Gouvernementalität bedeutsamer ist als die auch von Crouch herausgestellte Einbindung der Lohnabhängigen in das Regime des Vermögensbesitzes im Zuge der Privatisierung der sozialen Sicherung.

What’s left?

Crouch hat eine höchst pessimistische Zeitdiagnose vorgelegt. Eine Transformationsperspektive hat seines Erachtens keinerlei Realitätsgehalt. Aus seiner Sicht kann es nur darum gehen, »in dieser Welt klarzukommen« (Crouch 2011a: 243). Sein Blick in die Zukunft (»Was kommt nach dem Keynesianismus der privaten Hand«) verheißt noch einmal wachsendes Gewicht der Finanzmärkte und wachsenden Einfluss ihrer Akteure, Dominanz der Großunternehmen und weiter schwindende Bedeutung einer gespaltenen und fragmentierten Arbeiterklasse (»Divide et impera«).
Was bleibt (»what’s left«) jenseits von Markt, Konzernen und einem ins Schlepptau genommenen, transnational nicht handlungsfähigen Staat? Dass die Suche bei der Zivilgesellschaft landet, ist angesichts einer Vielzahl kritischer sozialer Bewegungen gegen Umverteilung und Austeritätspolitik im europäischen Krisenprozess naheliegend, wenn auch von Crouch durchaus nüchtern eingebracht, »weil es darauf hinausläuft, dass die ›Macht der Machtlosen‹ gegen die Konzerne und die Institutionen des Staates steht. Zudem sind Bürgerinitiativen letztlich zumeist doch auf staatliche Unterstützung angewiesen, wenn sie etwas erreichen wollen.« (ebd.: 243) Crouchs Botschaft lautet, »dass jeder von uns etwas tun kann«, diskursiv wie machtpolitisch potenziert durch die neuen elektronischen Kommunikationsformen. Sozial, ökologisch, demokratisch motivierte Kundenmacht gegen Unternehmensmächte? Während andere (Ulrich Beck: »Politik mit dem Einkaufswagen«) dies als Gegenmacht der globalen Zivilgesellschaft ausweisen, bleibt Crouch zurückhaltend: Was dabei herauskommen kann, ist nicht mehr, als »in dieser Welt klar(zu)kommen«. »Es ist nicht meine Absicht, einer Abschaffung der Großkonzerne das Wort zu reden. Der amerikanische Liberalismus der Jefferson Ära und der europäische Marxismus … sind Träume der Ver-gangenheit.« (Crouch 2011a: 14f.) Das war’s.
So wie der große Bereich der Arbeitsgesellschaft verschwindet und hinsichtlich seiner Bedeutung für den Neoliberalismus nicht durchleuchtet wird, tauchen Gewerkschaften in Crouchs Auflistung der zivilgesellschaftlichen Akteure (Parteien, Kirchen, Bürgerinitiativen, ehrenamtliches Engagement, Berufsverbände) überhaupt nicht mehr auf. Damit wird aber schließlich auch der herrschaftstheoretische Ansatz substanzlos, wie Richard Hyman (2011) bemerkt: Wenn es in den Gesellschaften des globalen Kapitalismus nur noch die Klasse der globalen Finanzmarktakteure und der transnationalen Unternehmensmanagements gibt, macht es keinen Sinn mehr, von Klasse zu sprechen.

Fazit

Kommen wir noch einmal auf den Ausgangspunkt zurück. Crouchs Bild eines staatskapitalistischen Neoliberalismus mit einer machtlosen Zivilgesellschaft als Korrekturinstanz transportiert eine pessimistische Botschaft, aber die Realität könnte sich als noch depressiver ausweisen. Die Alltagsreligion, auf der der Neoliberalismus fußt, erweist sich als äußerst brüchig. Wer kann heute noch mit Emphase sagen, dass sich Leistung lohnt, und dass die Gewinne von heute die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen sind.
Der Neoliberalismus ist weiterhin mächtig im Verschuldungsdiskurs, der vermeintlichen Alternativlosigkeit von Schuldenabbau durch Austeritätspolitik auf Kosten der Mehrheit. Und er ist mächtig aufgrund der »adressatenlosen Wut« der sozial Betroffenen. Doch das meritokratische Fundament ist ihm weggebrochen. Eine »atavistische« Ideologie der autoritären Neuformierung der bürgerlichen Gesellschaft ist bereits auf dem Vormarsch. Um sie zu stoppen, bedarf es einer Verständigung über Alternativen – die Colin Crouch nicht mehr auszumachen vermag.

Literatur

Bourdieu, Pierre (1998): Die politische Ontologie Martin Heideggers, Frankfurt/Main.
Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Frankfurt/Main.
Crouch, Colin (2009): »Ein schizophrener Moment«. Interview in der taz vom 14.2.
Crouch, Colin (2011a): Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Berlin.
Crouch, Colin (2011b): Das lange Leben des Neoliberalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik Heft 11, S. 49-62.
Crouch, Colin (2012): Es muss noch schlimmer werden, in: Berliner Zeitung vom 16.1.
Habermas, Jürgen (2011): Rettet die Würde der Demokratie, in: FAZ vom 4.11.
Hyman, Richard (2011): Markets, Couch and neoliberalism: Praising with faint damns, LSE, London.
Schirrmacher, Frank (2011): Demokratie ist Ramsch, in: FAZ vom 1.11.
Steingart, Gabor (2011): Angriff auf die Marktwirtschaft, in: Handelsblatt vom 5.11.
Streeck, Wolfgang (2011): Die Krisen des demokratischen Kapitalismus, in: Lettre International, Winter.