Einmal, alle zehn Jahre

in (19.12.2011)

Es war 2003 oder 2004. Wir bildeten in Magdeburg eine Menschenkette und schirmten so einen Friedhof ab. Nazis wollten ihn heimsuchen. Ich war extra aus Berlin angereist. Die Schar der Unentwegten war sehr übersichtlich. Wulf Gallert, linker Fraktionschef im Landtag Sachsen-Anhalt, hatte eine Theorie. Viele sind enttäuscht, sagte er. Sie zögen sich zurück von antifaschistischen Aktionen, so wie sich vordem die offizielle Politik verdrückt habe: „Erst Aufstand rufen, dann auf Tauchstation gehen.“ Der Tag war obendrein kalt.
Der Februar 2010 war noch frostiger. Erneut wollten in Dresden Nazis aus ganz Europa aufmarschieren. Diesmal vergeblich. Rund 15.000 Bürgerinnen und Bürger verhinderten das. Jede und jeder auf seine Weise. Die einen okkupierten die Demostrecke, andere trafen sich zu Mahnwachen vor Kirchen und Tausende fanden sich zu einer Menschenkette rund ums Stadtzentrum. Eine sich sehr links und jung wähnende Tageszeitung schrieb hernach arrogant vom dussligen „Händchenhalten“. Sie meinte damit explizit auch mich, denn ich war bei allen drei Protestkulturen dabei. Eine verstärkte die andere.
2011 bot die Elb-Metropole dasselbe Bild. Diesmal waren sogar 20.000 Bürgerinnen und Bürger aus Nah und Fern auf den Beinen. Der Anlass ist übrigens immer derselbe. Am 13. Februar 1945 wurde Dresden von alliierten Streitkräften in Schutt und Asche gebombt. Das war ein Verbrechen. Aber darum geht es den neuen Nazis nicht. Sie wollen ihr „Symbol Dresden“ nutzen, um historische Schuld umzukehren. Nicht Nazi-Deutschland, sondern die Alliierten waren die eigentlichen Verbrecher. Das ist die versuchte Botschaft. Sie wurde abgewehrt.
Gleichwohl gab es 2011 einen erheblichen Unterschied zum Vorjahr. Die Polizei war anders geordert, radikal anders. Mein Bundestags-Kollege Frank Tempel, von Beruf Polizist, war empörter Augenzeuge anlassloser Pfeffer-Spray-Attacken der Polizei gegen Antifaschisten. Wenig später stellte sich heraus, dass der „Staats-Apparat“ noch viel umfangreicher gegen Bürgerinnen und Bürger in Stellung gebracht worden war. Es gab eine riesige Funkzellen-Abfrage. Was bedeutet: Alle, die sich mit Handy vor Ort befanden, wurden systematisch ausgespäht. Von einer Millionen erfassten Daten ist die Rede.
Halbe ist ein weiterer Ort, wo sich Nazis gern tummeln. Der Friedhof dort erinnert an die letzte große Schlacht im Zweiten Weltkrieg: Sowjet-Armee gegen Wehrmacht. Zigtausend Deutsche sind hier begraben. „Helden“ in den Köpfen neuer Nazis, die zu ehren seien. 2008 stellten sich Tausende mit einem „Fest der Demokratie“ dagegen. Politisch war es ein brisantes Bündnis. Gemeinsam mit Jörg Schönbohm (CDU) stand ich auf der Bühne. Bei nahezu jedem anderen Thema trennen uns Welten. Auch die von ihm gepriesene deutsche Leitkultur lehne ich ab. Sie ist gefährlich rechtslastig. Und 1997, im Fall des Berliner Neonazis Diesner, war Schönbohms Rolle, sagen wir grenzwertig.
Von ähnlich schwierigen Bündnissen könnte ich aus Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern, Bayern oder Schleswig-Holstein berichten. Zuweilen reichen sie von der autonomen Antifa bis zur CSU. Die Sicht beider Pole auf die Politik, auf die Gesellschaft, auf den Kapitalismus könnte widersprüchlicher kaum sein. Sie trägt nur ein kleiner, verletzbarer Nenner: „Nie wieder Faschismus!“ Aber es gibt sie, als regionale oder kommunale Bündnisse. Mit der Bundespolitik haben sie wenig zu tun. Und die nicht mit ihnen.
Rund alle zehn Jahre schwillt die Empörung an, bis hoch droben. Das war 1992 so, als Asylbewerber-Heime in Ost und West abgefackelt wurden. Das war anno 2000 so, als jüdische Einwanderer in Düsseldorf Opfer eines Anschlages wurden. Das ist gerade wieder so, seit die Mordserie einer Nazi-Bande aus dem Thüringischen publik wurde. Alle Medien sind plötzlich auf Sendung. Alle Politiker sind tief betroffen. Alle Behörden schwören radikale Aufklärung. Alle Innenminister fordern mehr Überwachung. Alle großen Parteien sind wieder für ein NPD-Verbot. Alles wie gehabt. Alles ohne Substanz.
Monat für Monat frage ich die Bundesregierung, wie viele rechtsextremistische Aktivitäten sie registriert habe. Der Befund ist seit langem alarmierend. Stündlich werden im bundesweiten Schnitt zweieinhalb einschlägige Straftaten registriert. Und Tag für Tag gibt es eben so viele rechtsextreme Gewalttaten. Die offiziellen Angaben stapeln tief. Entsprechend höher ist die Zahl der Opfer. Nazis sind in Deutschland längst wieder eine Gefahr für Leib und Leben. Sie dominieren Straßen, Ortschaften und Regionen. Das Grundgesetz, wonach die Würde des Menschen unantastbar ist, aller Menschen, gilt dort nicht.
Ein scheinbarer Zahlenstreit wurde jüngst im Bundestag debattiert. Seriöse Journalisten von den Tageszeitungen Tagesspiegel und Die Zeit hatten recherchiert und seit 1990 158 Todesopfer rechtsextremer Gewalt ausgewiesen, Fall für Fall. Die Regierungsstatistik verharrt bei 58 Getöteten. Die Differenz ist gravierend. Sie ist politisch. Sie offenbart eine gefährliche Blindheit. Die anhaltende Schizophrenie mögen drei Beispiele zeigen:
Die Familienministerin sucht krampfhaft nach Linksextremisten, während Nazis quer durch Deutschland morden.
Der Verfassungsschutz soll aufklären, finanziert aber über angeheuerte V-Leute gewalttätige Nazi-Horden.
Und pflichteifernde Sächsische Behörden stellen engagierte Bürgerinnen und Bürger unter Generalverdacht.
Es gibt keine politische, geschweige denn gesamtgesellschaftliche Strategie gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus. Es wird nicht beachtet, was Rechtsextreme stärkt. Und es wird ignoriert, was dagegen zu tun sei. Zudem würgt klein karierte Bundespolitik häufig das Engagement vor Ort ab. Das ist mein Rückblick. Bleibt die Ignoranz so, wie sie ist, dann fällt meine Vorschau noch düsterer aus. Wir erleben derzeit Entwicklungen oder Zerstörungen, deren Ende nicht absehbar ist. Wir haben Finanz-Krisen, Haushalts-, Euro-, Wirtschafts-Krisen. Kein Otto-Normalo sieht mehr durch. Wir haben also auch eine Orientierungs-Krise. Hinzu kommen Demokratie-Krisen. Staaten werden unter Kuratel befohlen. Parlamente werden kalt gestellt. Bürgerinnen und Bürger werden entmündigt, nicht nur in Griechenland.
Ich will diese Krise des Kapitalismus jetzt gar nicht wirtschaftspolitisch bewerten, auch nicht sozial-politisch, sondern einfach nur daran erinnern: Das alles öffnet Einfalls-Tore für Nationalisten, für Rechtspopulisten, für Rechtsextremisten. Ihre variierten Forderungen heißen „Ordnung“, „Autorität“, „Identität“ und „Sauberkeit“, sprich: „Ausländer raus!“ So etwas verfängt in unsicheren Zeiten, da immer mehr nach einem helfenden Anker suchen. Ich empfehle die Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ von der Universität Bielefeldt. Ein Team unter Leitung von Professor Wilhelm Heitmeyer hat über zehn Jahre Einstellungen „ganz normaler Bürgerinnen und Bürger“ erforscht. Der Befund: Sehr viele, zu viele sind anfällig für „Gruppen bezogene Menschenfeindlichkeit“. Was am rechten Rand zum Exzess getrieben wird, lauert inmitten der Gesellschaft latent. Es ist abruf- und aktivierbar. Quer durch Europa lässt sich beobachten, wie Rechtspopulisten und Rechtsextremisten an Zuspruch gewinnen, als Parteien oder Bewegungen.
Stellen wir uns ein Szenario vor, das nicht auszuschließen ist. In absehbarer Zeit zerfällt die Europäische Union. Die Linke hat die EU nie geliebt. Aber ein Crash der EU wäre ein historisches Desaster. Ich will hier keine Kassandra spielen. Aber der Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus könnte alsbald eine viel weitergehende Dimension annehmen, als in den zurück liegenden Jahren. Was auch bedeutet: Es reicht nicht, die Innenpolitik hochzurüsten, die Geheimdienste, die Polizei. Im Gegenteil, das ist widersinnig.

*  Petra Pau, MdB-DIE LINKE, ist Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages.