Gedenken, postpolitisch: Opfer ohne Floskeln und Peinlichkeit in Stein

in (05.11.2011)
In Triest, Stadtteil San Sabba, steht die Risiera. Einst ein Industriebau zur Reisverarbeitung, fungierte sie 1943 bis Ende April 1945 als SS-Polizeihaftlager. Politische Häftlinge, Zwangsarbeiter_innen, Jüdinnen und Juden aus der deutsch annektierten „Operationszone Adriatisches Küstenland" waren dort inhaftiert. 5000 wurden ermordet; auch Gaswagen und ein Krematorium kamen zum Einsatz. Seit 1965 ist die Risiera eine Gedenkstätte mit Museum, Infotafelpfad und einem Hof mit Gedenktafeln.
2010 widmete die Republik Slowenien eine Tafel. Auf ihr ist der kurze Brief eines am 5. April 1945 exekutierten Partisanen hinter Glas faksimiliert, und dazu, als Inschrift auf Stein, italienische und englische Übersetzungen des Schriftstücks. Auf Englisch steht da: „Dear mother, I´m writing to you to say I will be shot today. So goodbye forever. Dear mother goodbye. Dear sister goodbye. Dear father goodbye." Auf dem Faksimile - und auf dem Originalbrief, der im Museum hängt - steht dasselbe in Slowenisch; aber da steht, nach den drei Abschiedsgrußzeilen, noch mehr gekritzelt, eine Art Signatur des Todgeweihten: „Smrt fasizmu! Svoboda narodu!" Trotz meines slowenischen Nachnamens ist mein Slowenisch miserabel, aber soviel ist klar: Da steht „Tod dem Faschismus! Freiheit dem Volk!"
Warum ist dieser Schlussgruß dort weggelassen, wo die Abschiedsworte vom Zettel auf Stein und in eine Welt- bzw. örtliche Verkehrssprache (Englisch, Italienisch) transponiert werden? Wir können da nur - und sollten - spekulieren, über eine Diskurs(ideo)logik, die etwa sagt: Ein bei jugoslawischen Partisan_innen (die Triest nach der „Selbstbefreiung" 1945 besetzten) üblicher Gruß wird in einer italienischen Gedenkstätte nicht in Stein gewürdigt! So spräche eine nationale Logik des Gedenkens (und rezente Faschismus-Revisionen in italienischen Geschichtsbildern können wir uns dazudenken). Oder es heißt: Der Gruß eines radikal Sterblichen an seine Familie, authentisch berührendes Zeugnis von Menschlichkeit, ist der Steininschrift würdig; der Antifa-Slogan hingegen, das sind pflichtübungshafte Worte, da spricht die Organisation, das Immer-schon-Zitierte der Politik, das ist zu peinlich für den Stein. Diese Sicht entspräche jener Historiografie, die (so Jacques Rancière in Die Namen der Geschichte) auf die Gegenwärtigkeit gelebter Alltagskörper zielt und „tote Worte" der Politik durch Mentalitäten u.ä. ersetzt. Oder wir können da an Heidemarie Uhls Kritik am postheroischen Schuldgedächtnis der NS-Verbrechen denken, mit seinem Geschichtsbild, das Opfer würdigt, die „rein" sind: Familienmenschen etwa, sicher nicht Militante, die mit kommunistischen Floskeln aus dem Leben scheiden.
Das Pathos fetischisierter Floskeln ist Drag und Fummel der Politik. Neben der Risiera steht heute auf der einen Seite ein Diskonter (da wird wieder Reis gelagert); auf der anderen Seite eine Mauer mit Gedenktafel, gewidmet einem von der Polizei Erschlagenen, darunter groß das Graffito „Noi non dimentichiamo" (Wir vergessen nicht). Es ist die Außenmauer der rechten Fankurve des Fußballstadions Triest; das Niemals vergessen ist signiert mit „I tuoi Ultras", die sich so von einem der Ihren verabschieden.

Drehli Robnik ist Filmwissenschaftler, Uni-Lektor, Autor/Co-Hrsg. von Büchern zu Film und Politik bei Rancière und Kracauer.

Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Herbst 2011, „anarchivieren".