Ein Provokateur als Meinungsführer

Thilo Sarrazin treibt die politische Klasse vor sich her

Rassistische Kampagnen in Deutschland funktionieren am besten, wenn sie von echten Profis organisiert werden. Solche sitzen in der Redaktion von Bild. Mit den vorab in mehrfacher Millionenauflage verbreiteten "exklusiven Auszügen" aus Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" diktierte Kai Diekmanns Eingreiftruppe wochenlang Thema und Richtung der politischen Debatte. Am Ende steht ein breiter Konsens: Rund 90 Prozent der Bild.de-LeserInnen unterstützen Sarrazins Thesen; laut Emnid wären 18 Prozent der Wahlberechtigten bereit, für eine Sarrazin-Partei zu stimmen. Was PolitikerInnen der großen Parteien umgehend von der Distanzierung zur Umarmung übergehen ließ: Fortan hieß es, Sarrazin habe eine wichtige Debatte angestoßen.

Die anfängliche Empörung war vorhersehbar. In der ersten Lektion aus seinem Buch, die Bild abdruckte, zeigt Sarrazin, "warum die Integration vieler muslimischer Migranten am Islam scheitert". Für "Vorbehalte gegen Muslime" gebe es "gute Gründe", findet Sarrazin: "Keine andere Religion in Europa tritt so fordernd auf. Keine andere Immigration ist so stark wie die muslimische mit Inanspruchnahme des Sozialstaats und Kriminalität verbunden. Keine Gruppe betont in der Öffentlichkeit so sehr ihre Andersartigkeit, insbesondere durch die Kleidung der Frauen. Bei keiner anderen Religion ist der Übergang zu Gewalt, Diktatur und Terrorismus so fließend."

Diese Sichtweise mag zwar in Deutschland mehrheitsfähig sein. Den offenkundigen Rassismus dieser Pauschalverurteilung konnte die politische Klasse aber ebenso wenig durchgehen lassen wie den gefährlichen Unfug vom "gemeinsamen Gen", das allen Jüdinnen und Juden eigen sei. Stellvertretend für viele widersprach die Kanzlerin: Sarrazins Äußerungen seien "ausgrenzend" und "völlig inakzeptabel".

In argumentative Bedrängnis kam die politische Klasse, als Bild Sarrazins zweite Lektion veröffentlichte: "Klartext-Politiker Thilo Sarrazin über Hartz IV: ,Es wächst eine weitgehend funktions- und arbeitslose Unterklasse heran`." (siehe Auszüge im Kasten) An seinen Aussagen zu diesem Thema wird deutlich, dass Thilo Sarrazin sich nicht etwa in die SPD verirrt hat. Mit dieser Partei teilt er die Grundüberzeugung, ökonomische Nützlichkeit als wesentliches Kriterium für den Wert des Individuums anzusehen.

Das ist nicht spezifisch sozialdemokratisch, sondern Wesensmerkmal des Kapitalismus, der alles zur Ware macht, auch die menschliche Arbeitskraft. Kann sie nicht genutzt werden, sinkt ihr Wert auf Null. In diesem Fall werden ihre TrägerInnen überflüssig und zu reinen Kostenfaktoren, solange der Staat soziale Leistungen gewährt. Diese zu reduzieren, an Gegenleistungen in Form von (fast) unbezahlter Arbeit zu knüpfen und auf diese Weise das Lohnniveau insgesamt zu senken, war der Sinn der rot-grünen Hartz-Reformen. Zu ihrer inneren Logik gehört die Drohung mit der weiteren Reduzierung bis hin zur völligen Streichung finanzieller Unterstützung. (siehe auch "Handreichungen zum Klassenkampf" auf Seite 21)

In einem wichtigen Punkt allerdings geht Sarrazin über das hinaus, was als Common Sense der Bundestagsparteien (die LINKE ausgenommen) gelten kann: Er begründet seinen Vorstoß offen mit eugenischen Ideologemen, die von ihm geforderte Streichung von Hartz IV ist gedacht als Mittel eines sozialrassistischen Programms, mit dem die "tendenziell fruchtbareren ... weniger Tüchtigen" (Sarrazin) davon abgebracht werden sollen, sich weiter zu vermehren.

Achim Bühl hat in ak 544 (November 2009) "Thilo Sarrazins Rassismen und faschistische Ideologeme" anhand seines Interviews in Lettre International analysiert: "Eugenische Ideologeme sind essenzielle Kernbestandteile faschistischer Ideologie. Zu den Ideologemen der Eugenik zählen u.a. ein biologistisches Gesellschaftsverständnis, sozialdarwinistisches Gedankengut, der Glaube an die Ungleichheit konstruierter Menschenrassen, die Lehre von der ungleichen Wertigkeit menschlicher Individuen aufgrund ihres Genotyps, die Identifizierung der ,besser Veranlagten` mit den oberen Klassen, die Gegnerschaft von Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen für sozial Schwache, der Glaube an die Degeneration des ,genetischen Volkskörpers` in Richtung des Durchschnitts, die Diffamierung einzelner Menschen und Menschengruppen als KostgängerInnen, der Schutz der ,Volksgesundheit` vor ,genetischer Entartung` sowie Propagierung apokalyptischer Bevölkerungsvisionen."

In der jetzt von Bild verbreiteten praktischen Kurzversion von Sarrazins Bestseller-Thesen wird diese braune Brühe noch einmal aufgekocht. Nichts daran ist neu. Sarrazins GenossInnen, aber auch die PolitikerInnen der anderen Parteien, hätten also für die Auseinandersetzung mit ihm gewappnet sein können. Sie sind es vor allem deshalb nicht, weil sie Sarrazins Rettungsplan nicht prinzipiell ablehnen. "Ghettoisierende Abschließung ganzer Bevölkerungsgruppen durch die Versagung sozialer Leistungen sowie elementarer Anerkennung und Würde, das ist das Ziel", schrieb Achim Bühl. Der Verlauf der "Sarrazin-Debatte" und die einschlägigen Umfragen zeigen, dass in dieser Frage ein vermeintlicher Außenseiter zum Meinungsführer geworden ist.

ak-Redaktion

Sarrazin über die "Unterschicht"

"In Deutschland beobachten wir schon seit vielen Jahren die allmähliche Verfestigung und das beständige Wachstum einer weitgehend funktions- und arbeitslosen Unterklasse. Ein relativ hohes garantiertes Grundeinkommen treibt diese weniger Leistungsstarken in die Nichtbeschäftigung und bindet sie dort.

Der moderne Sozialstaat speziell deutscher Prägung tut aber obendrein einiges dafür, dass die weniger Qualifizierten und weniger Tüchtigen tendenziell fruchtbarer sind als die Qualifizierteren und Tüchtigeren: Die materielle Sorge für die Kinder wird ihnen vollständig abgenommen.

Für jedes Kind erhalten die Eltern 322 Euro monatlich als vom Staat garantiertes soziales Existenzminimum. Dies ist ein maßgeblicher Grund dafür, dass die Unterschicht deutlich mehr Kinder bekommt als die mittlere und obere Schicht. Für einen großen Teil dieser Kinder ist der Misserfolg mit ihrer Geburt bereits besiegelt: Sie erben 1. gemäß den Mendelschen Gesetzen die intellektuelle Ausstattung ihrer Eltern und werden 2. durch deren Bildungsferne und generelle Grunddisposition benachteiligt. (...)

Es kann nicht ungerecht sein, alle erwerbsfähigen Empfänger von Grundsicherung zu einer Gegenleistung zu verpflichten. Wer gar nicht oder unregelmäßig erscheint, wer nicht pünktlich ist, wer eine zumutbare Leistung nicht erbringt, der fällt aus dem Transferbezug heraus."

aus: ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 553/17.9.2010