"Die Berliner Mauer war nicht Schutz, es war der tiefe kalte Krieg". Eine Sicht auf die Mauer und den Mauerfall aus jugoslawischer Perspektive im Kontext zum Krieg in Jugoslawien
I
Vor ihrem Fall wird jede Mauer erst einmal errichtet. Die Mauer soll schützen und abgrenzen, sie soll Interessen absichern.
Das war in meinem Bergdorf auch so. Eine niedrige, lange, graue Steinmauer schlängelte sich über die Berge und Täler und fehlte nur über den Wegen. Das Dorfgelände war abgesteckt, damit die Tiere nicht auf den karstigen Weiden des benachbarten Dorfes grasen. Nicht alle Menschen beachteten dieses Verbot. Mein Großvater musste als Dorfältester - seine Pflicht erfüllend - zwei Männer erschießen, die trotz mehrmaliger Ermahnungen ihre Schafe über die Mauer auf unser Gebiet getrieben hatten. Der Großvater dokumentierte seine Handlung durch zwei Striche auf dem Gewehrlauf. Dieses Rohrstück fanden wir später bei einer Renovierung unserer Terrasse. Die Großmutter berichtete, dass niemand den Großvater angeklagt oder bestraft hätte. Er hatte nur die verabredeten Regeln umgesetzt. Der Großvater ist vor 60 Jahren gestorben, die Dorfmauer ist eingestürzt und vom Gestrüpp überwuchert. Dort ist die Zeit der Mauern beendet. Niemand kann sie denken und niemand will sie bauen, seitdem die Menschen - ihr Interesse in der Industrie suchend - fortzogen. Jetzt sind Wege wichtig, die mit schwarzem Asphalt überzogen wurden und deren Ränder inzwischen von modernen Stadtabfällen umsäumt sind.
Als ich im Jahre 1968 auf dem Luftweg nach Berlin kam, empfing mich in Schönefeld auch eine Mauer: eine doppelte, hohe, graue Betonmauer. Sie war erbaut worden, um Menschen daran zu hindern, von einem Gebiet ins andere zu gehen, hatte ich gelernt. Ich kann mich genau daran erinnern, wie sie gebaut wurde, obwohl ich noch ein Kind war.
Mein Vater hielt aufgeregt eine Zeitung in der Hand und sprach von der Mauer, von Russen und Amerikanern und einem neuen Krieg. Ich war froh, dass mein Vater keine Schafe besaß und auch nicht der Dorfälteste war. Diese Mauer schützte Interessen, die viel größer waren als die eines Bergdorfes, das sah ich gleich. Viele Waffen, bedient dur ch Menschenhand oder durch Selbstschutzanlagen, unterstrichen ihre Wichtigkeit. Die Stromleitungen entlang der Mauer erinnerten an den zweiten jugoslawischen und meinen ersten Film "Der neunte Kreis". Eine junge Jüdin starb dort im stromgeladenen Stacheldraht eines Konzentrationslagers. Weiße Porzellanringe und die starren Gesichter der Mauersoldaten, die unsere Pässe kontrollierten, lösten Angst, Unbehagen und Schuldgefühle aus. Nach dem Beschauen der Gesichter wurden die Pässe auf der Holzunterlage abgestempelt.
Der Bus brachte uns - 80 junge Frauen, die Gastarbeiterinnen genannt wurden - in den westlichen Teil Berlins, der vollständig durch die doppelte, hohe, graue Mauer wie eine Insel von seiner Umgebung abgeschnitten war. Die Umgebung wiederum war durch eine weitere doppelte, hohe Mauer als Staatsgebiet eingezäunt. Die Mauer zerschnitt Städte, sie schlängelte sich durch die Parkanlagen, Wälder, Flüsse und Seen, Straßen und Häuser. Sie verlief durch die Familien und Freundschaften. Sie unterbrach den Fluss des Lebens und bereitete Trennungsschmerzen und tiefe Wunden. Die Mauer zog in die Köpfe und Gefühle der alten und der neuen Bewohner ein. Sie war nicht mehr weg zu denken. Angst, Verzweiflung und Ohnmacht vermischten sich mit Empörung, Wut und Hass.
Dem stellten die Erbauer der Mauer deren Bedeutung für den Schutz der Interessen der ganzen Gemeinschaft entgegen. Das verstand ich zunächst auch. Ich hatte ja zu Hause gelernt, dass die Interessen der Gemeinschaft über denen des Individuums stehen. Zu Hause, in Jugoslawien, war eine Gesellschaftsordnung errichtet, die allen anderen als Beispiel dienen sollte. Ein Land, das sich selbst vom eigenen und fremden Nationalismus und Faschismus befreit hatte, ein wirtschaftlich und sozial erfolgreiches, sozialistisches System der in Brüderlichkeit und Einigkeit lebenden Völker mit Arbeiterselbstverwaltung, offenen Grenzen, politischer Unabhängigkeit und Freundschaft mit den armen Ländern der Welt. Gegenüber dem starren Sozialismus der Warschauer Blockstaaten war zwar vor allem nach Budapest 1956 und Prag 1968 höchste Vorsicht geboten, meinen Sympathievorschuss gegenüber dem "Sozialistischen" konnte dies alles jedoch nicht wegwischen.
Meine positive Haltung zum Osten wurde gestärkt durch alles, was ich im Westen als negativ empfand. Dass Arbeitskollegen ihre Verdienstabrechnung voreinander verstecken mussten und dadurch unterschiedliche Entlohnung für die gleiche Arbeit ermöglichten, dass uns, den Gastarbeiterinnen, gerade 2,63 DM pro Stunde brutto zugestanden wurden, dass uns pro Bettplatz in einem mit Feldbetten aus dem letzten Krieg eingerichteten Siebenbettzimmer monatlich 70,00 DM abgezogen wurden, dass für achtzig Frauen vier Kochplatten und zwei Duschkabinen ausreichen sollten. Und dass wir uns gleichzeitig verpflichtet fühlten, dankbar zu sein, dass sie uns nicht zurück nach Hause schickten, was bei einigen Frauen geschah, wenn sie krank wurden.
Die Ablehnung des "Sozialistischen" bei meinen deutschen Arbeitskolleginnen und Kollegen verstand ich nicht. Sozialismus, so hatte ich es gelernt, sollte vor allem den Arbeitern mehr Rechte bringen und für Gerechtigkeit sorgen. Meine Nachbarin in der Fabrik hatte eine Tochter in meinem Alter. Ich wurde zu ihrer zweiten Tochter, deren Gesundheit ihr am Herzen lag und die sie mit Obst versorgte. Ich fühlte mich aufgehoben und verstanden, durch ihre Wurzeln konnte ich in der neuen Umgebung anwachsen. Bis sie mir eines Tages entfremdet wurde.
Ich sah sie zum Fenster hinausschauen. Andere Frauen und Männer hatten auch die Köpfe zu den Fenstern gedreht, obwohl dort nichts zu sehen war. Alle drehten die Köpfe weg, als sechs junge Menschen in Begleitung von vier Herren über den langen Gang der Fabrikhalle gingen. Die jungen Männer trugen lange Haare und lässige Kleidung, ihre Begleiter kurze Haarschnitte und dunkle Anzüge. Die Langhaarigen müssten Verbrecher sein, dachte ich. Aber sie waren Studenten. Bei uns zu Hause waren alle stolz, wenn jemand aus dem Dorf oder sogar aus der Familie studierte. "Sie sind Kommunisten und machen Demonstrationen bei uns, sie sollen nach drüben gehen", flüsterte meine Kollegin.
Sie demonstrieren auch für uns Gastarbeiter, dachte ich. Und meine Kollegin will das nicht, also ist sie gegen uns, gegen mich. Das Obst kam weiter, aber die Trauer der Einsamkeit blieb. Kommunisten waren, so hatte ich gelernt, die besseren Menschen. Sie waren mutig und selbstlos, sie waren bescheiden und großzügig, sie predigten die Liebe, nicht den Hass.
II
Und die Vordenker für die neue, gerechtere, soziale Welt kamen vor allem aus Deutschland.
Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zählten zu meinen Vorbildern. An einem von Nieselregen getrübten Nachmittag im Januar 1969 verteilten am Ausgang der Fabrik zwei junge Menschen Flugblätter mit den Fotos der beiden. "Hier gibt es doch Menschen, die so denken wie ich, die Gerechtigkeit wollen", dachte ich und nahm freudig die Flugblätter an. Drei Meter dahinter stand ein grauhaariger, hagerer Mann. Er schlug mit einer offenen Mülltonne auf den Boden und forderte die Arbeiter auf, die Flugblätter hinein zu werfen. Einige Flugblätter klebten nass auf dem Boden. Die Füße traten auf die Gesichter von Rosa und Karl, niemand hob sie auf.
Ein Jahr später war ich an der Universität. Die langhaarigen Studenten diskutierten und demonstrierten, sie sprachen vom Übel des Nationalismus, sie lobten den Sozialismus, sie wollten die Welt retten. Da fühlte ich mich gut aufgehoben. Warum die Arbeiter in den Fabriken den Studenten nicht glaubten, war nicht zu verstehen. Es schien, als ob sich eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen erhob. Dass die Kapitalisten den Sozialismus nicht mochten, war verständlich, sie brauchen den Kapitalismus, um durch die Ausbeutung der Arbeiter ihren Profit zu machen. Aber die Arbeiter ...
Meine Landsleute, mich eingeschlossen, waren nur vorübergehend hier und sollten sich in die Politik nicht einmischen. "Wer Politik machen will, soll nach Hause zurückkehren", hatte uns der Parteivertreter vor der Abreise der fünfundzwanzig Gastarbeiter aus meinem Dorf gesagt. Wir waren Nachfolger der ruhmreichen Partisanen und stolze Vertreter unseres Landes. Besser zu sein als andere schien uns selbstverständlich. Besser als die Türken, die uns fünfhundert Jahre geknechtet hatten, besser als die Deutschen, die im Zweiten Weltkrieg so viel Unheil über uns brachten. Wir haben beide besiegt und uns befreit.
So liefen zum Ersten Mai die Jugoslawen nie mit den anderen rote Fahnen schwenkend zur Kundgebung vor dem Reichstag. Sie versammelten sich im Goethepark in Wedding. "Hei Kozara, breite deine Zweige aus und beschütze junge Partisanen", erklang es hundertfach aus dem langen Reigen, der sich über die Lichtungen, im Duft des gegrillten Fleisches, im Gleichschritt bewegte. Dabei dachten viele an den Film "Kozara", in dem Richard Burton den Marschall Tito spielte, den die deutschen Truppen als Banditen jagten. Bei dieser Jagd töteten sie im Kozara-Gebirge südlich von Banja Luka 1944 zehntausend Menschen, meist Flüchtlinge.
Die Anpassung, die gewollte und ungewollte Integration, wurde zur Gewohnheit. Auch die Mauer wurde mit der Zeit zur Gewohnheit: das Warten an den Grenzübergängen, die lächerlichen Fragen der Grenzposten nach "Kindern, Waffen, Munition und Funkgeräten". Es blieb das Unbehagen bei der Durchfahrt durch die "Zone", verstärkt durch zuweilen auftauchende Meldungen über neue Mauertote. Die Beteuerungen einiger westlicher Politiker, die Mauer einreißen zu wollen, klangen hohl und propagandistisch. Ihre Größe, die Kraft, die notwendig war, sie aufzubauen und aufrechtzuerhalten, ließen keine Zweifel daran, dass sie unverrückbar war. Versuche, sie auf abenteuerlichsten Wegen zu überwinden, lösten Bewunderung für den Mut aus, wenn es glückte, und Resignation, wenn es scheiterte.
In Berlin konnte man die Mauer nie ignorieren. Sie bildete unzählige Sackgassen und stand im Wege. Sie stieß ab, die Sehnsucht nach Freiheit verletzend. Und sie zog an, wie alles Unfassbare die menschliche Neugier anzieht. Lange Wartezeiten, Befragungen und Kontrollen wurden in Kauf genommen, um die andere Seite der Mauer zu sehen.
Ich tat es auch. Mit dem jugoslawischen Pass brauchte ich auch kein Visum. Ich wurde die Botin meiner Berliner Familie. Ich trug Kaffee und Schokolade, Obst und Seife zur Tante und Cousine. Ich lernte den typischen Geruch ihrer Treppenhäuser kennen. Einmal kam ich unangemeldet, niemand war zu Hause, niemand im Treppenhaus. Den guten Spargel, der Tante Anna so gut mundete, versteckte ich hinter einer Leiter und schob einen Zettel unter die Tür. Weder der Zettel noch der Spargel wurden gefunden. Bis zu diesem Vorfall waren die Verwandten mit ihrem Staat meist zufrieden, mit den sozialen Errungenschaften. Sie wünschten sich nur, frei reisen zu können, die andere Seite einmal zu sehen, dort zu sein, wo sie ihre Kindheit verbracht hatten, das Grab der Oma Marta zu besuchen. Mein nächster Besuch bei der Cousine wurde ihr telephonisch von einer unbekannten Stimme mitgeteilt. Wir wurden beobachtet. Kam ich am Checkpoint Charly oder mit der U-Bahn in der Friedrichstraße auf die andere Seite der Mauer, wurde ich verfolgt auf Schritt und Tritt. Fremde Augen klebten in meinem Nacken. Es war fremdes Gebiet, wurde mir signalisiert, und: meine Besuche seien nicht willkommen. Ich war mir keiner Schuld bewusst, dennoch fühlte ich mich schuldig, wir fühlten uns alle schuldig.
III
Die Mauer war kein Schutz, sie war der eingefrorene Krieg. Keine Antwort gab es auf die nicht gestellte Frage, wann der Krieg beendet sein wird. Von Aussichtsplattformen wurde die andere Seite ins Visier genommen, die unbewohnten Häuser entlang der Grenze mit Leere gefüllt. Mit unterschiedlichen künstlerischen Begabungen wurde die längste Graffitimauer ungestört mit farbigen Visionen und Sprüchen gefüllt, auf der einen Seite.
Auf der anderen Seite haben wenige zwischen den Zeilen geschrieben und in geheimen Räumen getuschelt. Einige litten schweigend, sie rasselten nicht mit den Ketten, sie beugten die Köpfe, um nicht aufzufallen. Einige sahen weg, andere machten mit. Einige waren überzeugt.
Eine neue Realität war entstanden, an der man nicht mehr vorbei konnte. Die Politiker im Westen hatten sich mit den Mauern abgefunden und arrangiert, die Politiker in Osten gaben vor, die fortschrittlichen, die zukunftsweisenden, die wahren Sozialisten zu sein. Besuchsregelungen schafften kleine Erleichterungen, auch die Cousine konnte zur Beerdigung eines Onkels für drei Tage in den Westen. Von großen Veränderungen wurde nicht mehr geträumt.
Wenn nur das Schießen auf die Menschen entlang der Mauer und das Verfolgen der Kritiker nicht wäre. Es ging auch im Sozialismus anders. Wie in Jugoslawien, dachte ich.
Dann fiel in anderen Staaten der Eiserne Vorhang in sich zusammen, wie eine Panzerkette ohne Halterung. Die Unzufriedenheit hatte sich in Entschlossenheit verwandelt, etwas Neues aufzubauen. Hoffnung trug die Menschen.
Entlang der Mauer schien die Vision zu fehlen. Oder war es die Erstarrung des Zweiten Weltkrieges, die den Staub nicht abzuschütteln vermochte? Die deutsche Mauer spiegelte den Kalten Krieg der Blöcke wider, sie spiegelte auch die Bestrafung des deutschen Volkes für das, was die nationalsozialistische Politik anderen Europäern und den Deutschen selbst eingebrockt hatte. Das Land schien sich in die letzten Fetzen des Eisernen Vorhangs einzuhüllen.
IV
Aber so konnte es nicht lange bleiben. Die Kraft, die Mauer aufrecht zu erhalten, hatte eine stille Gegenkraft, vor allem bei jungen Menschen, ausgelöst. Sie wollten nicht warten, dass die Zeit sie überrennt. Hungrig nach dem Leben suchten sie vorsichtig nach Löchern zum Westen. Andere schlossen sich an, es wurden immer mehr. Es wurde immer unwahrscheinlicher, dass die Fliehenden aufgehalten werden könnten.
In dieser Zeit flohen die Menschen auch aus meinem Land. Schon ab 1981 flohen die Albaner aus dem Kosovo, nachdem die Polizei in die Demonstranten geschossen und 13 Menschen getötet hatte, die besseres Essen in der Universitätsmensa in Pris¡tina und höhere Gehälter für die Arbeiter forderten, denn sie verdienten nur ein Viertel dessen, was in Slowenien für die gleiche Arbeit gezahlt wurde. Sie protestierten, suchten Hilfe. Sie kam nicht. Kosovaren wurden zu Staatsfeinden erklärt, sie wurden festgenommen und gefoltert, sie wurden von der Arbeit entlassen, ihre Kinder konnten keine Schule und keine Universität besuchen. Illegale Schulen wurden errichtet, die Menschen versuchten, ihre Kinder zur Ausbildung ins Ausland zu schicken.
Junge Männer kamen auch nach Deutschland, um eine Arbeit in Restaurants zu finden und damit ihre Familien ernähren zu können. Einige arbeiteten auch auf der Straße, Hütchenspiele betreibend. Sie spielten auch im Schatten der Berliner Mauer. Neben den Kreuzen am Reichstag hatte eine kleine Gruppe im Herbst 1988 einen kleinen Teppich auf den Boden gelegt und darauf die Kugel aus Papier unter den vier Streichholzschachteln hin und her geschoben. Sie lockten die Spaziergänger, sich an dem Spiel zu beteiligen und so auf leichte Art 100 DM zu verdienen. Einige Touristen spielten mit. Zwei Grenzsoldaten im Kontrollturm schauten selbstvergessen durch die Ferngläser auf den kleinen Teppich.
Die Polizei versuchte, die Hütchenspieler festzunehmen. Sie wurden dann verurteilt und ausgewiesen, aber sie kamen immer wieder zurück.
Der nichterklärte Krieg im Kosovo wurde weiter geführt. Sondereinheiten aus allen Teilen Jugoslawiens wurden dorthin abgesandt. Über die Polizisten, die in Särgen nach Hause zurückgeschickt wurden, schrieb keine Zeitung, niemand sprach laut darüber. Wer es wagte, wurde zum Staatsfeind erklärt. Die Mitglieder der slowenischen Demos-Bewegeung wurden zu k.u.k.-Nostalgikern, die kroatischen Politiker zu Ustas¡a, den kroatischen Nationalisten aus dem Zweiten Weltkrieg erklärt. Petra Kelly und Gerd Bastian, die 1500 streikende Arbeiter im Bergwerk Trepc¡a besuchen wollten, wurden direkt nach ihrer Ankunft auf dem Flugplatz in Belgrad zurückgeschickt.
Es kamen auch immer mehr Roma nach Berlin, die als erste in der sich zuspitzenden Situation angegriffen wurden. Auch sie berichteten während der Vernehmungen im Asylverfahren über Folter und Verfolgungen. Die Medien berichteten über die Wirtschaftskrise und den Streit unter den politischen Nachfolgern von Tito, die sich über die Aufteilung der noch vorhandenen Ressourcen nicht einigen konnten. Unfähig, die Krise zu lösen, warfen sie sich Verrat und böse Taten aus der Vergangenheit vor. Die Artikel über die Wirtschaftskrise wurden durch Berichte über nationalistische Vorfälle abgelöst. Später kam ans Licht, dass diese Vorfälle häufig von den Geheimdiensten ausgelöst wurden, um die Stimmung gegen die jeweils andere Seite zu schüren.
V
Dennoch erschien es unwahrscheinlich, dass daraus ein Krieg folgen könnte, denn 23 Millionen Menschen hatten vor kurzem gemeinsam den Tod des geliebten Staatspräsidenten beweint und Brüderlichkeit und Einigkeit gelobt. Sie würden streiken, die Armee würde sie schützen, vielleicht auch einen Putsch gegen die unfähigen Politiker durchführen. Alles besser als ein Krieg. Es kam anders. Dabei geschah zunächst nichts Besonderes. Nur der Blick trübte sich wie bei einem Fotoapparat, wenn das Objektiv geringfügig verstellt wird. Die Worte waren immer weniger geeignet, die Sichtschärfe wieder herzustellen. Mit jedem Vorfall, ob tatsächlich oder inszeniert, drehte sich das Objektiv weiter in die falsche Richtung. Die Trübungen lösten neue Orientierungslosigkeit und Angst aus. Zu Erkennungszeichen wurden nun Farben, mit denen Gruppen abstammungsgemäß gekennzeichnet wurden. So wurden die bisherigen Eigenen zu neuen Fremden. Unsichtbare Mauern breiteten sich aus über die Schreibtische, durch die Ehebetten, durch die Kinder hindurch.
Währenddessen wuchs die Öffnung in der deutschen Mauer wie ein Loch in einem Damm vor dem steten Druck des Wassers. Der Damm riss auf, und die Menschen breiteten sich wie Wellen aus. Die Straßen der ersehnten Welt boten sich mit ihren Schaufenstern und ihren Verführungen dar. Werbezettel, Bananenschalen und Bierdosen säumten die Wege. Es war der 9. November, zufällig der Tag der Erinnerung an die Pogromnacht.
Am dritten Tag danach bildeten sich im Nebel an der Gedächtniskirche drei Warteschlangen. Die erste wartete auf Linsensuppe mit Würstchen, die aus dem großen Topf verteilt wurde. Wie in den zwanziger Jahren bei der großen Arbeitslosigkeit. Die zweite Kolonne stand vor einem Bus, in dem 100 DM verteilt wurden, Begrüßungsgeld. Die dritte Kolonne stand vor Beate Uhse. Zwischen den vielen Männern stand nur eine Frau. Als sie die sechste vor der Eingangstür war, rief sie laut zu einem ins Gespräch vertieften Mann: "Hans, komm, du bist jetzt dran."
Ich lief weiter, in die jugoslawische Wirtschaftsbank, die im Haus neben Beate Uhse eine Filiale hatte. Ich zahlte 5 500 DM für ein Auto ein. Mein Bruder indes bekam das Geld für sein Auto schon nach zwei Monaten zusammen. Er brauchte nur 2 000 DM. So stark hatte die jugoslawische Währung an Wert verloren, die Inflation tobte.
VI
Die sanfte Revolution in Deutschland hatte wohl vor allem die Politiker im Osten überrascht. Zwischen den Zeilen zu lesen, in jedem Druck den Gegendruck zu sehen, das konnten sie nicht so gut. Die Gedanken sind frei und sie sind die Kraft der Menschen, die jede Mauer irgendwann einstürzen lässt.
Die Mauer stürzte ein und niemand schoss. Die Soldaten in Schönefeld winkten mir freundlich zu, als ich über die Grenze fuhr. Das war die Wende. Bis gestern war ihr Gesicht verfinstert und der Blick starr, jetzt atmeten sie auf, als ob vor allem sie nur darauf gewartet hätten, dass die Mauer fällt.
Die Worte der am Runden Tisch Beteiligten kamen aus dem Radio wie Hoffnung. Die sozialen Errungenschaften retten und sich gleichzeitig von Unterdrückung befreien, das sollte möglich sein.
Die durchlöcherte Mauer erzitterte währenddessen unter den Hammerschlägen. Trophäen des Sieges wurden in alle Welt hinaus getragen. Jeder war ein Sieger, der ein Stückchen vom bemalten Beton mitnehmen konnte. Einige tauschten Geld, um billige Waren aus den Geschäften des untergehenden Systems zu holen. Häuser und Grundstücke nahmen sie auch.
Die Frage danach, wer die Wende herbeigeführt, wer die Mauer umgestoßen hat, wurde immer lauter gestellt. Wer hat das Objektiv 40 Jahre lang in falscher Einstellung gehalten, wer hat es nun richtig gestellt?
Die Politiker im Westen schlugen sich auf die Brust und beteuerten, ihre vor Jahren gestellten Forderungen seien es gewesen. Die Verlockung der Waren war es, sagten die Verkäufer. Das Reisen in fremde Länder, sagten andere. Wir, die Politiker im Osten, sagten einige.
Wir sind das Volk, sagten viele. Und sie stürmten die Gebäude der Staatssicherheit, um Beweise zu sichern. Da kam die Ernüchterung, die noch keine Lehre werden konnte. Bewiesen wurde, dass sehr viele, Freunde und nahe Angehörige, ihre Kraft heimlich der Mauer geliehen hatten. Die Euphorie der Befreiung verwandelte sich in Verbitterung, Freude bedeckte sich mit Scham. Aus dem Volk der Sieger schien ein Volk der Verlierer zu werden, zerrissen durch Beschuldigungen, die eigene Unterdrückung gewollt, organisiert und durchgeführt zu haben. Sieger waren sie nicht mehr.
Am 1. Oktober 1990 flanierten auf dem zentralen Platz im Diokletianpalast in Split, wie immer unter dem abendlichen Himmel, die Menschen auf und ab. Einer von ihnen, ein alter Herr, sprach gestikulierend Liebesgedichte auf Altgriechisch, Latein, Französisch. Er war ein Professor, jetzt nannte man ihn "Redikul" wie alle, deren Geist dem Druck der spürbaren Ausweglosigkeit nicht standhalten konnte. "Ruf die Polizei, solche müssen weg", sagte ein Mann im dunklen Anzug zur Kellnerin des feinen Lokals. Ihn bewundernde, auf seinen Wink wartende Männer an seinem Tisch lachten und sangen weiter verbotene Ustas¡alieder. Die jungen Polizisten schienen erleichtert zu sein, dass der alte Mann nicht mehr zu sehen war. Sie wirkten verunsichert und gingen. "Habt ihr gesehen, wie sie kommen, wenn wir rufen", sagte der Mann im dunklen Anzug, "und wegen unserer Lieder hat sie niemand geholt.". Ich auch nicht, dachte ich. Das war dort die Wende, eine schleichende Wende in den verunsicherten Menschen. Kurz danach wurde geschossen.
VII
Beim Kozaratanz halten die Tanzenden die Hände des Übernächsten vor dem Bauch des Nachbarn fest. Das offene, aufgerichtete und freudige Geflecht, ein Symbol der Antifaschisten, zerfiel dort, wo es entstanden war, in Omarska und Keraterm neben Kozara. 1992 wurden dort Konzentrationslager für Muslime und Kroaten errichtet. Die ersten Getöteten waren eigene Leute, Serben, die nicht mitmachen wollten. Die schlimmste Folter gab es für die Verräter.
Ein Überlebender berichtete bei einer Therapiesitzung in Berlin, dass im Dorf Kozara ein Lastwagen vor seine Fabrik kam, um die Männer abzuholen. An der Kühlerhaube war der Kopf eines Rindes befestigt. Die bärtigen, bewaffneten Männer schienen dem Mai 1945 entsprungen zu sein. Als sei die Zeit danach ausgelöscht gewesen, als zogen sie in den alten Krieg. Damals waren ihre Angehörigen grundlos getötet worden.
Es schien, als hätte das Tuch aus sozialistischer Ideologie über Jahrzehnte die Wunden zugedeckt. Als es zerrissen wurde, kam das Verdrängte hoch. Das befreite Wort ließ das Verschwiegene auferstehen, ließ den toten Vater, den Bruder und das Kind sichtbar werden in ihrem qualvollen Tod. Ich erfuhr, dass einer der Mörder mein beinloser Nachbar war, der mit Metallstückchen seine Türen zu Kunstobjekten verwandelte. Er hatte seine unaussprechlichen Worte unter den Metallstückchen versteckt, er hat sie ins Grab mitgenommen. Mit den Bildern in den Köpfen kam die Wucht des Hasses, der neue Menschen in die Gruben stürzte. Die Nichtbeweinten von damals schienen sich der Seelen der heutigen Menschen bemächtigt zu haben. Die Welle des eingestürzten Dammes prallte dort auf, wo es am wenigsten zu erwarten war, dort, wo die schwere Erinnerung in der Krise einen Gegendruck erzeugte. Jetzt, 10 Jahre danach, wird dort nicht mehr geschossen. Die Errungenschaften der Sieger des Zweiten Krieges sind im Feuer des neuen Krieges untergegangen. Unzählige Wunden, neue und alte, schmerzen. Die Filme der Kriege vermischen sich zu einem Bild, zu einer Zeit. Das Gift will ausgespült werden.
Wo Gelegenheiten gegeben werden, wo Gespräche gefördert werden, werden die Mauern langsam abgetragen und das Gift kommt heraus. Es wird von Zuhörenden aufgenommen, es bewegt sie. Es bringt auch das bisher von ihnen nicht bewusst wahrgenommene Gift in Bewegung, das sie als Kinder selbst oder ohne Worte von ihren Angehörigen aufgenommen haben. Das verdrängt Gewesene kann nicht mehr zurückgehalten werden, es sucht sich Wege nach außen. Bombenkeller, untergehende Schiffe voller Flüchtender im gefrorenen Meer, ins Wasser mit Menschen und Tieren stürzende Brücken, stehen nach 60 Jahren neben den Überlebenden der alten und neuen Lager, neben den Überlebenden der subtilen Folter in Gefängnissen. Die Betroffenheit wird von einigen als Chance gesehen, das Gift loszulassen, es anzusehen und zu benennen, damit es als Alptraum unsere Nächte nicht aufrüttelt. Viel Zeit brauchen wir dafür.
Bosiljka Schedlich - Jg. 1948; geb. in Split; nach Kindheit in einem Bergdorf und Jugend in einem Industrieort an der Adriaküste 1968 als Gastarbeiterin nach Westberlin; Studium der Germanistik, Leitung eines Wohnheims für jugoslawische Frauen, Tätigkeit als Dolmetscherin und Übersetzerin; in den 80er Jahren Gründung zweier Beratungs- und Begegnungsstätten für jugoslawische Frauen. 1991 Gründung des Vereins südost Europa Kultur e.V., 1992 des südost Zentrum in Berlin als Orte der Begegnung mit dem Ziel, durch Kulturarbeit der Kriegspropaganda entgegenzuwirken. Bosiljka Schedlich ist Mitglied des Vorstandes der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Das südost Zentrum ist Anlaufstelle für Menschen verschiedener ethnischer Herkunft, "eine Oase des Friedens im nationalistischen Meer" (taz). Dort wird geholfen, beraten und ausgebildet, dort werden traumatisierte Flüchtlinge therapeutisch betreut.
Die Arbeit von Bosiljka Schedlich wurde mehrfach gewürdigt, u. a. mit dem Moses-Mendelsohn-Preis des Landes Berlin (1996) und dem Bundesverdienstkreuz am Bande (2000). Der Verein südost Europa Kultur erhielt 1998 die Luise-Schröder-Medaille.
Bosiljka Schedlich gehört zu den 1 000 Frauen aus aller Welt, die von der in der Schweiz im Frühjahr 2003 geborenen Initiative "1 000 FriedensFrauen" für den Friedensnobelpreis 2005 vorgeschlagen worden sind.
Visionen von Bosiljka Schedlich: "Frieden ist keine Totenstille. Frieden ist der Weg zum solidarischen Zusammenleben ohne Gewalt und Krieg. Frieden ist möglich, wenn wir Mechanismen zur Verhinderung des Krieges entwickeln, wenn wir die Lehren aus der Geschichte begreifen. Der Zweite Weltkrieg wird jetzt, nach 60 Jahren, langsam zu Geschichte. Viele haben von außen die Entwicklung unserer demokratischen Gesellschaft unterstützt. In Südosteuropa sind die Kriegswunden noch frisch. und die Zeit ohne Nationalismus ist noch lange nicht erreicht. Um den Friedensprozess und die europäische Einigung langfristig zu unterstützen, gründen wir gerade eine Stiftung für Südosteuropa. Sie will Toleranz und Verantwortung fördern und neue Orte der Begegnung schaffen, sie will die Menschen dort abholen, wo sie stehen: ohne zu urteilen und zu richten."
UTOPIE kreativ, H. 180 (Oktober 2005), S. 867-875
aus dem Inhalt:
VorSatz; Essay BOSILJKA SCHEDLICH: Der Mauerfall oder Die Wende; 15 Jahre nach dem Anschluß STEFAN BOLLINGER: Sozialstaat DDR - nur Erinnerung oder auch Herausforderung?, JAN PETERS: Wolfgang Steinitz - ein "Seiltänzer"?, HELMUT BOCK: Vom Elend historischer Selbstkritik., HORST DIETZEL: Abkehr vom Klassenkampf? Die Idee eines neuen Gesellschaftsvertrages in der PDS, HELENO SAÑA: Don Quijote in Deutschland. Wie ein Spanier die deutsche Einheit erlebt BERND RUMP: 15 Jahre "Einheit" Betrachtungen eines Beteiligten, Standorte RICHARD SORG: Die Reichen und Mächtigen - Materialien und Vorschläge zu ihrer Erforschung; Konferenzen & Veranstaltungen WOLFRAM ADOLPHI: Kapitalismus zwischen Konsumismus und Krieg. IX. Internationale Konferenz des Berliner Instituts für kritische Theorie (InkriT); Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften John Kenneth Galbraith: Die Ökonomie des unschuldigen Betrugs. Vom Realitätsverlust der heutigen Wirtschaft (KLAUS MÜLLER) Heribert Prantl: Kein schöner Land. Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit (JAN SURMANN) Klaus Steinitz: Chancen für eine alternative Entwicklung. Linke Wirtschaftspolitik heute (CHRISTA LUFT) Dieter Wolf, Heinz Paragenings: Zur Konfusion des Wertbegriffs. Beiträge zur "Kapital"-Diskussion (ULRICH BUSCH) Hermann Weber, Ulrich Mählert, Bernhard H. Bayerlein, Horst Dähn, Bernd Faulenbach, Jan Foitzik, Ehrhart Neubert, Manfred Wilke (Hrsg.): Jahrbuch für historische Kommunismusforschung, Bd. 2004 (REINER TOSSTORFF) Christiane Brenner, Peter Heumos (Hrsg.): Sozialgeschichtliche Kommunismusforschung. Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und DDR 1948-1968 Arnd Bauerkämper: Die Sozialgeschichte der DDR (STEFAN BOLLINGER) Sören Niemann-Findeisen: Weeding the Garden. Die Eugenik-Rezeption der frühen Fabian Society (THOMAS GONDERMANN); Summaries