Wie viel Ökonomie steckt in der Gentechik-Kritik

 

Manche Gentechnik-KritikerInnen tun es, andere tun es nicht: sich explizit auf Ökonomie-Kritik beziehen. Wir haben uns deshalb gefragt, wie viel Ökonomie in der Gentechnik-Kritik steckt.


Anne Schweigler ist Ethnologin, selbstständig tätig im Bereich ländliche Entwicklung und aktiv bei der „BUKO-Kampagne gegen Biopiraterie” und dem „Aktionsnetzwerk globale Landwirtschaft”.


Thomas Lemke ist Heisenberg-Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe Universität Frankfurt am Main.


Ingrid Schneider ist Privatdozentin für Politikwissenschaft und wissenschaftliche Mitarbeiterin der Forschungsgruppe Medizin am Forschungs­schwerpunkt Biotechnologie, Gesellschaft und Umwelt (BIOGUM) der Universität Hamburg.



 

In der Vergangenheit reichten die Bezüge von einer allgemeinen Kapitalismuskritik bis zur Kritik an spezifischen Industrien, die gentechnologische Produkte vermarkten, der Kritik an Strategien des Zugriffs, der Privatisierung oder der Patentierung genetischer Ressourcen. Auch die spekulativen Dimensionen der Biotech-Industrie wurden in der Hochzeit der New Economy thematisiert. Neue Aspekte der Kritik richten sich gegen die Ökonomisierung immer weiterer gesellschaftlicher Bereiche und einer damit einhergehenden Individualisierung der Verantwortung für Gesundheit oder Er­nährung und der fortschreitenden Kommerzialisierung des Körpers.

Doch welche Rolle spielt Ökonomie-Kritik für eine technologiekritische Bewegung heute? Wir haben nachgefragt und stellen hier die Antworten von zwei Autorinnen und einem Autor des GID vor. Wir sind der Meinung, dass eine offensive Reflexion und Diskussion impliziter und auch fehlender Ökonomie-kritischer Dimensionen Gentechnik-Kritik weiter präzisieren und vorantreiben hilft.


Sind Ökonomie-kritische Fragen für Ihre Arbeit oder Ihre Aktivitäten zu gentechnischen Entwicklungen relevant? Auf welche Perspektiven, Aussagen oder Konzepte beziehen Sie sich dabei?


Anne Schweigler: In meiner aktivistischen und entwicklungspolitischen Bildungsarbeit geht es vor allem um gentechnische Entwicklungen in der Landwirtschaft und deren vielfältigen Auswirkungen. Wichtig ist mir dabei die Frage danach, wer von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) profitiert und wie Patentrechte die Macht- und Wirtschaftsinteressen der Industrie ab­sichern - und das auf Kosten der meisten Bauern und Bäuerinnen, KonsumentInnen und der Umwelt. Eine Lebensmittelproduktion, die nach kapitalistischen Ver­wertungskriterien organisiert und strukturiert ist, das heißt auf Profit- und Wachstumsmaximierung zielt, kann nicht - und will auch nicht - die Welt ernähren. Agrar-Biotech-Konzerne beschwören die wichtige Rolle von GVO für die Bekämpfung des Hungers in der Welt. Aber in dem Moment, in dem Landwirte abhängig von ihnen sind, erhöhen sie die Preise für das GVO-Saatgut (so zum Beispiel in den USA). Hier ist eine Ökonomie-kritische Perspektive wichtig.


Thomas Lemke: Ich verorte das Aufkommen des Gendiskurses und die zunehmenden Angebote geneti­scher Deutungen und Problemlösungen innerhalb einer neoliberalen „Regierung des Risikos“: An die Stelle des alten (wohlfahrts-)staatlichen Regimes, das Gesund-heitsrisiken kollektiv vorzubeugen und zu kompensieren suchte, trat eine neue Ökonomie des Risikos, die Bürger als mündige Patienten, aktive Nachfrager und souveräne Konsumenten adressierte. Das genetische Wissen ist integraler Bestandteil einer Wissensgesellschaft, die ökonomische Marktfreiheit mit moralischer Mündigkeit verknüpft. Ich beziehe mich dabei auf eine produktive Verbindung von Marx und Foucault, die die Kapitalismuskritik ergänzt und vertieft durch eine „Kritik der politischen Vernunft“. So kann das Zusammenspiel von Wissensgenese und Wertproduktion, Subjektivierungsweisen und Machtformen in den Blick genommen werden. Die aus meiner Sicht interessantesten Synthesevorschläge stammen von Kaushik Sunder Rajan, Melinda Cooper und Catherine Waldby. Ihre Begriffe des „Biokapitals“ oder des „Biowerts“ sind nützliche Werkzeuge für die Analyse und Kritik gen- und reproduktionstechnischer Praktiken.


Ingrid Schneider: Ich beziehe mich auf Ökonomie-Kritik in zwei Dimensionen: Erstens der ungleichen Verteilungswirkung von Technologien und politischen Maßnahmen, also sozialen Gerechtigkeitsfragen, und zweitens dem Prozess der Ökonomisierung und Kommerzialisierung von Gegenständen, Sektoren und sozialen Beziehungen, die bisher nicht über Markt und geldvermittelte Tauschverhältnisse eingebunden sind, wie zum Beispiel der menschliche Körper und das Wissen. Durch Ökonomisierung werden andere Formen der (Re-)Produktion sozialer Verhältnisse überlagert oder sogar verdrängt, zum Beispiel der über Anerkennung und Reputation organisierte Gabentausch in der Wissenschaft oder die Unveräußerlichkeit des menschlichen Körpers für Dritte außerhalb von Verwandtschaft, Liebe oder Familie. Die Verknappung des öffentlichen Guts „Wissen“ über Patente ermöglicht erst, dieses als Ware zu handeln und Investitionen zu amortisieren; gleichzeitig können Patente aber den wissenschaftlichen Austausch und die technische Weiterentwicklung behindern. Normativ beziehe ich mich auf egalitäre Gerechtigkeitspostulate und auf Vielfalt und Pluralität, also dass nicht alles einer Marktlogik unterworfen, sondern Differenzen gewahrt werden sollten. Bestimmte „Dinge“, wie Körperteile, müssen unveräußerlich bleiben, um sozial verträgliche Beziehungen zu erhalten.


Welchen Stellenwert sollte Ökonomie-Kritik im Verhältnis zu anderen Dimensionen der Gentechnik-Kritik einnehmen?


Anne Schweigler: Um das zu beurteilen, ist zunächst zu klären, was „Ökonomie-Kritik” bedeutet. Es reicht nicht zu fragen, ob sich im herrschenden Wirtschaftssystem etwas „rechnet“. Es muss darum gehen, die Mängel der bisherigen „Rechnungen“ aufzuzeigen. Für eine umfassende ökonomische Beurteilung der Technologie sind zum Beispiel die vielen externalisierten Kosten, die Vergiftung der Umwelt durch den obligatorischen Pestizideinsatz bei GVO oder die Zerstörung der biologi­schen Vielfalt mit „einzurechnen“. Hier werden Werte zerstört, die sich schlecht in Zahlen fassen lassen. Die Ökonomie darf aber nicht das einzige Kriterium sein. Für die Landwirtschaft ist die alleinige Ausrichtung auf Ertragssteigerung ganz grundsätzlich in Frage zu stellen (Qualität statt Masse). Auch soziale, kulturelle, gesundheitliche, biologische und naturschützerische Aspekte sind bei Entwicklungen in der Landwirtschaft zu berücksichtigen, um ihren vielfältigen Funktionen gerecht zu werden. Subsistenz-Landwirtschaft lässt sich ökonomisch schlecht „rechnen“; für die Ernährung der Welt spielt sie aber eine herausragende Rolle, wie der Weltagrarbericht zeigt.


Thomas Lemke: Eine Perspektive, die Einsichten poststrukturalistischer Kritik mit Elementen materialistischer Theorie verbindet, bricht mit ökonomistischen und essentialistischen Konzepten. Die „Ökonomie“ ist nicht einfach ein gesellschaftliches System, das sich automatisch reproduziert. Poststrukturalistische, feministische und postkoloniale Theorien haben aufgezeigt, dass die „Dominanz des Ökonomischen“ ganz wesentlich von nicht-ökonomischen Verhältnissen abhängig und in vielfältiger Weise etwa mit Formen von Sexismus und Rassismus verwoben ist. Wichtig ist auch zu klären, worin Kritik in die­sem Zusammenhang besteht. Zusätzlich zur Zurückwei­sung und Verurteilung des Bestehenden braucht es Formen der Auseinandersetzung und Analyse, die neue Mög­lichkeiten und Perspektiven sichtbar machen. Es geht darum, die in institutionellen Präferenzen und norma­ti­ven Werthaltungen eingeschriebenen Ein- und Aus­schlüs­se, Ungleichheiten, Zumutungen und Zwänge kennt­lich zu machen, um der Banalisierung der Gentechnologie - als bruchlose Verlängerung herkömmlicher (Re-)Produktionsformen - wie ihrer Dramatisierung als katastrophisches oder widernatürliches Projekt zu entkommen.


Ingrid Schneider: Ökonomie-Kritik sollte einen wichtigen, aber nicht dominanten oder ausschließlichen Stellenwert einnehmen. Wir sollten uns davor hüten, in einen ökonomischen Determinismus zu verfallen oder alles mit dem Etikett „Neoliberalismus“ zu versehen. Risiko-Ansätze, Wertfragen und ethische Prinzipien sowie die Ambivalenzen des „technischen Fortschritts“ bleiben gleichermaßen wichtig.


Könnte Ökonomie-Kritik ein verbindendes Element für die Kritik an grüner und roter Gentechnik sein und wenn ja, inwiefern?


Anne Schweigler: Die Akteure sind zum Teil die gleichen und sie bedienen sich der gleichen rechtlichen Grundlagen zum Schutz ihrer Interessen. Wenn es darum geht, die treibenden Kräfte hinter den momentanen gentechnischen Entwicklungen - Forschung, Medizin, Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie - und ihren Einfluss auf nationale und internationale Gesetzesänderungen zu thematisieren, kann ein Ökonomie-kritischer Ansatz verbinden. Letzten Endes funktioniert Gentechnik als Herrschaftstechnologie im modernen Kapitalismus. Nur wenige Menschen - global gesehen - beherrschen diese Technologie und können sie sich leisten. Mit der Gentechnik ist eine neue Ware entstanden: Genetische Ressourcen und die Patentrechte sichern den Patentinhabern exklusive Nutzungsrechte sowohl an der Technologie als auch an den genetischen Ressourcen. Allerdings sind die „Heilsversprechungen” der roten und der grünen (besser Agro-) Gentechnik emotional sehr unterschiedlich gelagert. Außerdem gibt es in der Landwirtschaft wirkliche Alternativen zu GVO wie den ökologischen Landbau. Für unheilbare Krankheiten gibt es diese leider nicht.


Thomas Lemke: Eine anti-essentialistische Perspektive ermöglicht es, die Unterscheidung zwischen grüner und roter Gentechnik selbst kritisch zu hinterfragen. Es reicht nicht aus, allein Gentechnik im engeren Sinn in den Blick zu nehmen. Zu untersuchen ist vielmehr, welche Rolle sie bei der „Regierung“ (Foucault) der menschlichen und nicht-menschlichen Natur spielt. Wie sind Genese und Einsatz genetischer Techniken an Veränderungen politischer Rationalitäten und Technologien gekoppelt? In welchen gesellschaftlichen Kontexten werden sie entwickelt, aufgegriffen und verbreitet? Die massive finanzielle Förderung und gesellschaftliche Akzeptanz (human-)genetischer Forschung in den vergangenen Jahrzehnten können als Teil eines umfassenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses begriffen werden. Zwei Aspekte sind dabei zentral: Erstens trägt die „neue Genetik“ zur Entstehung eines „neoliberalen Selbst“ bei, das bereit ist, die individuelle Verantwortung für Prävention und Management von bislang als kollektive Risiken angesehenen Gesundheitsgefährdungen zu übernehmen. Zweitens ist die „neue Genetik“ aber auch von strategischer Bedeutung, um die industriellen Potentiale der von der Europäischen Union und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) anvisierten wissensbasierten Bioökonomie zu realisieren, die von Umwelttechnologien und der Nahrungsmittelproduktion bis hin zu Gesundheitsmärkten reichen.


Ingrid Schneider: Die Kritik an der Patentierung von pflanzengenetischen Ressourcen, menschlichen Genen und traditionellem Wissen verbindet rote und grüne Gentechnik. „Gemeingüter“ („Commons“) oder „Kollektivgüter der Menschheit“ bilden ein Gegenkonzept gegen die Privatisierung und Monopolisierung von Wissen und Ressourcen. Eine weitere Leitidee ist die einer „Public Domain“, einer Zone, in der ein freier Zugang zu Wissensbeständen garantiert ist und nichtkommerzielle Formen der Wissenserzeugung, Wissensvalidierung und des sozialen Austauschs gelebt werden können. In der angelsächsischen Diskussion ist „Public Domain“ ein verbindendes Element für unterschiedliche Bewegungen geworden, die sich kritisch mit der „Wissensgesellschaft“ auseinandersetzen. Der hierzulande verwendete Begriff der „Wissensallmende“ ist sperrig, erlaubt aber eine Zusammenarbeit mit der „Access to Knowledge“ (A2K)-Bewegung und anderen Organisationen, die sich zum Beispiel gegen Softwarepatente und gegen überzogenen Urheberrechtsschutz im Internet und im Medienbereich einsetzen (Creative Commons, Piratenparteien etcetera). Wie James Boyle hervorgehoben hat, könnte „Public Domain“ etwas sein, das es - ähnlich wie der Begriff „Umwelt“ in den 1970er Jahren - erlaubt, viele ganz unterschiedliche Phänomene zusammenzudenken. Die „Public Domain“ als gemeinsamer Bezugspunkt kann neue Diskurskoalitionen und politische Allianzen ermöglichen.


Welche blinden Flecken gibt es - wie sollte eine Gentechnik-kritische Bewegung dazu aktiv werden?


Anne Schweigler: Neben anderem finde ich eine grundsätzliche Wissenschaftskritik besonders notwendig. Allerdings scheint der „Zeitgeist“ daran nicht sehr interessiert zu sein. Die Verschulung der Universitäten fördert jedenfalls kein kritisches Bewusstsein gegenüber der Entwicklung neuer Technologien und dem Umgang mit diesen. Für eine Gentechnik-kritische Bewegung ist es wichtig, einen positiven Bezugspunkt zu haben. In der Landwirtschaft sind die Alternativen schon benannt und „greifbar”. Ob das für die rote Gentechnik so einfach geht, bezweifle ich leider.


Thomas Lemke: Es ist notwendig, die Ökonomie-Kritik in eine umfassendere Machtkritik einzubetten. Im Fokus stünde dann nicht allein, dass Lebensprozesse zur Ware gemacht und vermarktet werden, sondern auch, dass damit unterschiedliche „Wertigkeiten“ von Lebensformen etabliert werden: Welches - menschliche und nicht-menschliche - Leben wird als schützens- und erhaltenswert und welches als „lebensunwert“ betrachtet? Wohlgemerkt: Das soll Ökonomie-Kritik nicht ersetzen, sondern erweitern. Um diese Perspektive fruchtbar zu machen, sind drei Fallstricke und Verkürzungen zu vermeiden: Essentialismen, die Verhältnisse fixieren und die Dynamik und Veränderbarkeit der Beziehungsgeflechte ausblenden; Technikdeterminismen, die auf die gesellschaftlichen Folgen der Gentechnik fokussieren, ohne deren Entstehungs- und Aneignungsbedingungen zu thematisieren; Anthropozentrismen, die die Differenz von menschlichem und nicht-menschlichem Leben unreflektiert voraussetzen, statt sie zum Gegenstand der Analyse zu machen.


Ingrid Schneider: Ein wichtiger Punkt ist die spekulative Ökonomie des „genetischen Kasinos“, die von Hope und Hype lebt, aber viele ihrer Versprechen bisher nicht eingelöst hat. Es gibt durchaus Verbindungen zwischen den entfesselten Finanzmärkten mit ihrer Ablösung von der „Realwirtschaft“ und dem in den Genlabors vorherrschenden Machbarkeitsglauben. Die genkritischen Bewegungen stehen hier in dem Dilemma, auf das Riskante und Bedeutsame dieser Forschung in ihren gesellschaftlichen Dimensionen aufmerksam machen zu wollen, aber diese nicht überzeichnen zu dürfen, weil sie sonst selbst in die „Genomfalle“ tappen. Wir sollten Heil(ung)sversprechen und Mythen dekonstruieren, statt sie unsererseits zu überhöhen, indem etwa das Klonen „dämonisiert“ oder Ängste vor einer „Diktatur der Gene“ geschürt werden. Hier ist nüchterne empirische, nicht zuletzt auch ökonomische Forschung hilfreich. Zudem ist es wichtig, über Forschungspolitik zu reden, also darüber, wie Markt und staatliche Intervention ineinander verflochten sind und dass Regulierung notwendig bleibt.


Die Fragen stellte Vanessa Lux.