Kohlenstoffmärkte und Finanzmärkte: Variationen über Polanyi

Das Argument 283 "Klimapolitik / Krisenantworten 1929/30" (5/2009), S. 723-35

Obwohl Kohlenstoffmärkte mit einem derzeitigen Volumen von über 100 Mrd US-Dollar bei weitem noch nicht den Nominalwert der globalen Finanzderivatemärkte - über 680 Bio US-Dollar in 2008[1] - erreichen, könnte ihr „Volumen innerhalb eines Jahrzehnts mit dem der Kreditderivate vergleichbar" sein (Kanter 2007). Kohlenstoffmärkte im Zusammenhang mit der Finanzkapitalisierung (financialization) werden jedoch unter kritischen Intellektuellen und in sozialen Bewegungen bislang wenig diskutiert. Um diese Diskussion voranzubringen ist es nützlich, Parallelen aufzuzeigen zwischen den zügellos sich entwickelnden Finanzmärkten, die zur gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise beitrugen, und dem Emissionshandel, der für das bisherige Versagen der offiziellen Klimapolitik wesentlich verantwortlich ist. Eine Kritik des Emissionshandels eröffnet so den Blick für emanzipatorische und wirkungsvolle klimapolitische Alternativen.

Finanzkapitalisierung

Seit dem Ende des Bretton-Woods-Systems Anfang der 1970er Jahre spielen Finanzmärkte und Finanzinstitutionen eine immer größere Rolle. Während der Anteil der Finanzrenditen an den Gesamtprofiten in den USA 1970 nur etwa 15% betrug, erreichte er 2005 etwa 40% (Foster 2008). Die Finanzkapitalisierung „durchdringt das Alltagsleben" in Form von Studienkrediten, privater Altersvorsorge, Kreditkarten oder Hypotheken wie nie zuvor (Blackburn 2006, 39). Entscheidend dafür war ein ›Wettrüsten‹ der Finanztechnologien, die v.a. auf Informations- und Kommunikationstechnologien sowie auf mathematischen Preismodellen beruhen, und zur Einführung innovativer Derivate wie z.B. Terminkontrakten und Optionen auf Zinssätze, Währungen und Waren oder sog. Credit Default Swaps (Kreditderivate zum Handeln von Ausfallrisiken von Krediten, Anleihen oder Schuldnern) führten.

Einen analytischen Ausgangspunkt zum Verständnis dieser Entwicklungen bietet Polanyis Konzept von Boden, Arbeitskraft und Geld als „fiktive Waren" (1944, 102), deren „Einrahmung" (framing) als Waren - in den Worten von Michel Callon (1998) - stets auch zum „Überschreiten" (overflowing) des Rahmens führt. Diese Waren sind „völlig fiktiv", weil diese nicht wie andere Waren „zum Zwecke des Verkaufs produziert werden" (107f). Vielmehr besteht ein scharfer Widerspruch zwischen ihrem Warencharakter und ihren Reproduktionserfordernissen (vgl. Braun 1999, 483). Diese fiktiven Waren „in den Marktmechanismus einzubeziehen" heißt, „die Gesellschaftssubstanz schlechthin den Gesetzen des Marktes unterzuordnen" (Polanyi 1944, 106).[2] Ihr Zur-Ware-Werden ist begrenzt - die Bedingungen ihrer Reproduktion überschreiten den Rahmen der Warenform. Daher folgen ihrer Einbeziehung in ein System selbstregulierter Märkte stets Versuche gesellschaftlicher Selbstverteidigung. Polanyi bezeichnet dies als „Doppelbewegung": „Während sich die Marktorganisation in Bezug auf echte Waren ausweitete, wurde sie in Bezug auf die fiktiven Waren eingeschränkt" (112). Seit Ende der 1970er Jahre kommt es jedoch zu einer zunehmenden Entbettung des Marktes aus dem „Schutzmantel der kulturspezifischen Institutionen" (108) und zur verstärkten Integration ›fiktiver Waren‹ in den Markt. So wurde der Umgang mit Unsicherheit seit den 1970er Jahren zunehmend den Finanzmärkten überlassen. Indem Unsicherheit zur Ware gemacht wird, könne sie am produktivsten und effizient verteilt werden. In Form von Derivaten wurden Unsicherheiten vom zugrundeliegenden Objekt abgetrennt, neu verpackt, mathematisch mess- und vergleichbar gemacht und in neue Kreisläufe eingespeist - jederzeit zum richtigen Preis handelbar. Angesichts des Abbaus staatlicher Sozialsysteme wurde damit auch einem Bedürfnis entsprochen, sich individuell gegen Unsicherheit - zumindest scheinbar - abzusichern. Zudem vergrößerten sich im Zuge der Globalisierungswelle seit Anfang der 1970er Jahre die Risiken im grenzüberschreitenden Geschäft auch für Unternehmen, z.B. bei Wechselkurs- und Zinsverschiebungen, denen „nicht mit den konventionellen Versicherungsformen begegnet" werden konnte (LiPuma/Lee 2004, 20). Denn die Industriestaaten verabschiedeten sich gleichzeitig davon, feste Wechselkurse, stabile Zinssätze und Warenpreise zu garantieren.

Allerdings stieß die Einführung von Derivaten zunächst auch auf Widerstände. Obgleich jede Form von Wettgeschäft Unsicherheit zur Ware macht, unterlagen zumindest die unehrenhafteren Formen des Glückspiels seit jeher verschiedenen gesetzlichen, moralischen und vernünftigen Beschränkungen, um einzelne Menschen und ganze Gesellschaften vor dem Ruin zu schützen - genauso wie das Zur-Ware-Machen von Boden, Nahrung, Arbeitskraft und anderen Dingen überall auf der Welt in verschiedenem Maße beschränkt war. In den USA wurde der Handel mit Derivaten bis in die 1970er Jahre als Glücksspiel angesehen, es sei denn, es handelte sich um verbindliche Terminkontrakte (Futures oder Forwards), die durch „physische Lieferung der zugrundeliegenden Ware, z.B. Getreide, erfüllt werden konnten"; es war verboten, Wertpapiere ausschließlich auf Kredit zu kaufen; Leerverkäufe waren gesetzlich beschränkt (MacKenzie 2006, 142ff). Erst später setzte sich das Narrativ durch, wonach der Derivate-Handel kein Glücksspiel, sondern der natürliche Auswuchs des Verlangens nach Zahlungsfähigkeit und ›Effizienz‹ sei. So gelang es, Finanzderivate aus ihrem ursprünglichen Kontext zu entbetten und in die neoliberale ökonomische Theorie und Politik mitsamt ihren Preismodellen einzubetten -  besonders einflussreich war dabei das 1973 eingeführte Black-Scholes-Modell zur Bewertung von Optionen, das dem Konzept der effizienten Preisbildung enorme Legitimität verlieh (119ff). Die „Finanzprodukte" - ein Begriff, der sich in den 1990er Jahren flächendeckend ausbreitete - entspringen einer ›Produktionsweise‹, die als Quantisierung (quantism) bezeichnet werden könnte, verstanden als der materielle und soziale Prozess der Isolation, Verdinglichung, Vereinfachung, Zerstückelung, Vergleichbarmachung, Preisfindung und Zusammenfassung von Unmengen von Unbekannten, durch den Unsicherheit in Form von Derivaten zur Ware wird - unter exzessivem Einsatz von Computern und mathematischem Expertenwissen. Der Versuch, alle Unsicherheiten zu Waren zu machen, hat jedoch den Charakter der Dinge, die zur Ware gemacht werden sollten, auf verhängnisvolle Weise verändert. Anstatt die Risiken zu verringern und zu verteilen, haben die Derivatemärkte sie vergrößert und unsichtbar gemacht. Ihr katastrophaler Zusammenbruch war folglich nur eine Frage der Zeit.

Emissionshandel

Die Boomjahre der Finanzkapitalisierung fielen mit dem Aufkommen der Verschmutzungsrechte-Märkte und schließlich der Kohlenstoffmärkte zusammen. Letztere wurden zur offiziellen Antwort auf die Klimakrise. Die USA haben 1997 unter Clinton erfolgreich darauf gedrängt, das Kyoto-Protokoll zu einem Ensemble von Handelsinstrumenten zu machen. In Europa wurde daraufhin 2005 mit dem EU-Emissionshandel der derzeit größte Kohlenstoffmarkt der Welt eingerichtet. Auch hier handelt es sich in gewissem Sinne um die Schaffung einer ›fiktiven Ware‹ (vgl. Altvater 1991, 245; Braun 1999, 483). Bei der konkreten Ausgestaltung von Derivate- und Emissionshandel waren teilweise die gleichen ›Bastler‹ am Werk - eines der prominentesten Beispiele ist Richard Sandor, der in den 1970er Jahren maßgeblich am Aufbau von Derivatemärkten in den USA beteiligt war, und 2003 mit der Chicago Climate Exchange das größte Emissionshandelssystem in den USA gegründet hat. Auch die handelbaren Objekte selbst sind ähnlich konstruiert: Kohlenstoff-Optionen sind seit 2005 gebräuchlich, Kohlenstoff-Swaps gibt es seit kurzem, Vorschläge zur Verbriefung von Emissionszertifikaten liegen seit 2007 vor und die Firma EcoSecurities hat 2008 für Kohlenstoff ein Finanzinstrument nach dem Vorbild der berüchtigten Collateralized Debt Obligations erfunden. Folglich sind viele Finanzinstitutionen, die im Derivatehandel aktiv sind, auch in den Handel mit Emissionsrechten eingestiegen. Zudem gibt es zahlreiche neue nur auf letzteren spezialisierte Unternehmen. 2008 gab es bereits etwa 80 Kohlenstoff-Investmentfonds mit einem Gesamtvolumen von knapp 13 Mrd US-Dollar.

Es gibt weitere Parallelen zwischen den Derivate- und den Kohlenstoffmärkten. Die auf letzteren gehandelte Ware sind Emissionszertifikate. Diese werden üblicherweise zu den Derivaten gerechnet und können auf verschiedene Weise konzipiert werden - da sie nicht im eigentlichen Sinne kapitalistischer Warenproduktion hergestellt werden, sondern erst in die Warenform gepresst werden müssen, sind sie eben ›völlig fiktiv‹. Einem Verständnis zufolge sind sie zur Ware gemachte klimatische Nutzen bzw. Schäden, die teil-, mess- und austauschbar sein müssen. Regierungen machen die Ware durch Festlegung ihrer Gesamtmenge zu einem ökonomisch knappen Gut und verkaufen, versteigern oder - wie bisher meist - verschenken sie an die industriellen Emittenten. Der Emissionshandel soll dann dafür sorgen, größtmögliche Effizienz beim Klimaschutz zu erreichen. Einem anderen Verständnis zufolge sind Emissionszertifikate das Ergebnis der staatlichen Einhegung und Zuteilung des Bindungsvermögens des Erdsystems für Treibhausgase, d.h. seiner Fähigkeit, der Atmosphäre Treibhausgase zu entziehen und somit das Klima stabil zu halten. Wiederum entscheiden Regierungen, welcher Anteil dieses Bindungsvermögens in Privateigentum verwandelt und handelbar gemacht werden soll. Einem dritten Verständnis zufolge handelt es sich um allgemein austauschbare Treibhausgas-Emissionsrechte, wobei davon ausgegangen wird, dass eine optimale ›klimatisch sichere‹ Gesamtmenge im Prinzip bestimmbar ist und dann ausgegeben werden kann.

Die Erzeugung von Emissionszertifikaten erfolgt auf zwei Ebenen. Einerseits werden in den Industrieländern Emissionszertifikate ausgegeben, deren ›effiziente‹ Allokation durch sog. Cap-and-Trade-Systeme gewährleistet und deren Gesamtmenge schrittweise verringert werden soll, um national festgelegte Emissionsreduktionen zu erreichen. Andererseits können in Industrieländern und v.a. in Entwicklungsländern sog. Offsets erzeugt werden, die mit den festgelegten ›Reduktionen‹ verrechenbar sind und deren Erwerb es wohlhabenden Industrien und Industrieländern erlaubt, die Reduktion ihrer eigenen Emissionen weiter aufzuschieben - auch dies im Namen größtmöglicher ›Effizienz‹. Die Offsets werden in Projekten generiert, durch deren Einrichtung vorgeblich weniger Treibhausgase freigesetzt werden als dies ohne sie der Fall wäre, wie z.B. Aufforstungsprojekte (die CO2 aus der Atmosphäre binden) oder Energieträgerwechsel (die den Verbrauch fossiler Energieträger reduzieren oder ersetzen sollen). Die im Kyoto-Protokoll angelegte Verrechenbarkeit dieser beiden Ebenen schafft die neue, abstrakte und allgemeine Kategorie der Reduktionen/Offsets. Trotz des folgenschweren Charakters und Ausmaßes der zahlreichen dazu nötigen Schritte der Verrechenbarmachung - analog nicht nur zur entbetteten und aggregierten Kategorie Risiko der neuen Finanzmärkte, sondern auch zur historisch spezifischen Kategorie der abstrakten Arbeit, deren Auftauchen Marx beschrieben hat -, wird die neue Kategorie vom Großteil der Regierungen und vielen Umwelt-NGOs fraglos akzeptiert. Auf beiden Ebenen folgt die Dynamik von „Einrahmung" und „Überschreiten" einem etwas unterschiedlichen Muster, obwohl beide Dynamiken ähnliche politische und klimatische Auswirkungen haben.

Cap-and-Trade

Ein Cap-and-Trade-System besteht aus zwei wesentlichen Komponenten. Die Emissionsobergrenzen (caps), d.h. die ausgegebenen Emissionszertifikate, sind die ›ökologische‹ Komponente und werden per politischem Beschluss üblicherweise für jede einzelne Industrieanlage separat festgelegt. Die Handels-Komponente soll dafür sorgen, die Emissionsobergrenzen für alle Beteiligten billiger zu erreichen. Indem diejenigen Emissionsreduktionen zuerst getätigt werden, die am einfachsten erreichbar sind, verspricht das Cap-and-Trade-System ein vorgegebenes Emissionsziel auf die gesamtgesellschaftlich effizienteste Art und Weise zu erfüllen. Der Markt soll also die optimale Lösung für die Klimaproblematik finden - und auf diese Weise der Lösungsweg ›entpolitisiert‹ werden.

Diese Form der Warenbildung hat zahlreiche unmittelbare negative politische und klimatische Konsequenzen. Erstens wird das Klimaproblem so von der geschichtlichen Aufgabe entkoppelt, die gegenwärtige Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, deren Verbrennung bei weitem am meisten zum anthropogenen Klimawandel beiträgt, zu überwinden. Vor allem die Industrieländer müssen unverzüglich langfristige strukturelle Veränderungen in den Bereichen Energie, Verkehr, Landwirtschaft, Handel, Infrastruktur, Organisation des Gemeinwesens u.a. einleiten und die staatliche Unterstützung vom fossilen Entwicklungspfad auf diejenigen gesellschaftlichen Bewegungen umlenken, die emissionsarme Lebensmodelle entwickeln oder verteidigen. Dazu sind sowohl eine breite politische Mobilisierung nötig als auch historisch-informierte Analysen darüber, wie ein solcher gesellschaftlicher und technologischer Strukturwandel vonstatten gehen kann. Handelbare Emissionszertifikate zielen jedoch in eine ganz andere Richtung, denn sie abstrahieren davon, wie Emissionsreduktionen zustande kommen - genauso wie Bodenmärkte tendenziell davon abstrahieren, wie der Boden genutzt wird. Dadurch werden diese eigens eingeführte Ware und Klimaschutz grundlegend voneinander entkoppelt. Emissionsreduktionen durch routinemäßige Effizienzsteigerungen, die die fossilen Infrastrukturen unangetastet lassen, haben z.B. eine völlig andere langfristige Klimaschutzwirkung als solche, die durch Investitionen in erneuerbare Energien oder emissionsarme Nahrungsmittelproduktion erreicht werden. Die Käufer von großen Mengen von Emissionszertifikaten werden aber gerade diejenigen Industrien sein, die am meisten von fossilen Energien abhängen und bei denen ein struktureller Umbau am dringendsten nötig wäre; durch den Emissionshandel können z.B. die großen Energieversorger, die Milliarden in fossilen Kraftwerken mit Laufzeiten von Jahrzehnten versenkt haben, diesen weiter hinauszögern. Zwar bietet der Emissionshandel auch Anreize, emissionsärmere Technologien zu entwickeln. Insgesamt wird er den entscheidenden technologischen und v.a. gesellschaftlichen Umbau jedoch verzögern. Auch innerhalb der Klimafolgenforschung wird vielfach angezweifelt, dass ein Preis für Kohlenstoff die „notwendige Fluchtgeschwindigkeit liefert, um Investitionen in technologische Innovationen rechtzeitig in die Umlaufbahn zu bringen", v.a. solange „zu wenig öffentliche Gelder für die Beforschung und Entwicklung emissionsarmer Technologien bereitgestellt werden" (Prins/Rayner 2007, 974). Solche Einschätzungen passen zu Befunden von unkonventionelleren Ökonomen wie W. Brian Arthur, der Anfangsbedingungen und Pfadabhängigkeiten der ökonomischen Entwicklung betont: werde die Entwicklung entscheidender Technologien weitgehend der Privatwirtschaft durch Preisanreize überlassen - eine der Grundannahmen des Emissionshandels -, so ist nicht sichergestellt, dass „die langfristig beste Technologie überlebt" (1994, 27). Empirische Hinweise in diese Richtung liefert der Verschmutzungsrechte-Handel, der in den 1990er Jahren in den USA zur vorgeblich kosteneffizienten Reduktion von Schwefeldioxid-Emissionen eingeführt wurde und das wesentliche Vorbild für den Emissionshandel im Rahmen des Kyoto-Protokolls war. So weisen etwa Mitarbeiter der US-Umweltschutzbehörde (Environmental Protection Agency) darauf hin, dass „die wenigen und relativ unbedeutenden Emissionshandels-Experimente in den USA praktisch keine technologische Innovation hervorgebracht haben" (Williams/Zabel 2008).

Hinzu kommen die bisherigen Erfahrungen mit dem EU-Emissionshandelssystem, bei dem in der ersten Phase (2005-7) die Emissionszertifikate viel zu großzügig ausgegeben wurden. Die Folge war der erste große Preiseinbruch auf dem Emissionsmarkt (auf nahezu Null) im April 2007. Beigetragen zu dieser Misere haben auch Mess- und Beglaubigungsfehler, u.a. gefälschte Emissionsverläufe. Emissionshandel benötigt einen weitaus empfindlicheren, zentralisierteren und leistungsfähigeren staatlichen Apparat als konventionelle Regulation (vgl. Lohmann 2006, 94-101 u. 187-90) - aber oftmals können die Messungen der Emissionen, die für den Handel oder die Feststellung des Erreichens von Reduktionszielen nötig wären, nicht durchgeführt werden, so dass die existierenden Emissionszertifikate noch in diesem zweiten Sinne ›fiktive‹ Waren sind. Genauso bedeutsam ist das Streben nach politisch geschaffenen Renteneinkommen, das in den Kohlenstoffmärkten angelegt ist. Im EU-Emissionshandelssystem können Stromversorger wie RWE, ČEZ oder Scottish Power - gemäß den geltenden Bilanzierungsbestimmungen - die nominellen Opportunitätskosten dafür, dass sie die ihnen zuvor kostenlos zugeteilten Emissionszertifikate nicht verkaufen, an die Kunden in Form höherer Strompreise weitergeben. Diese sog. windfall profits belaufen sich in Großbritannien, Deutschland, Spanien, Italien und Polen insgesamt auf schätzungsweise bis zu über 100 Mrd US-Dollar im Zeitraum 2008-12.

Zweitens abstrahiert Emissionshandel davon, wo die Emissionsreduktionen gemacht werden. Die Erfahrung des US-Verschmutzungsrechte-Handels offenbart die ›Kosten‹ dieser Art von Kosteneffizienz: da die schmutzigen Industrien, die am stärksten von fossilen Energieträgern abhängen, überproportional oft in der Nähe von ärmeren und benachteiligten Wohngegenden angesiedelt sind, verstärkt der Emissionshandel die bestehende „Umwelt-Ungerechtigkeit" (Drury u.a. 1999). Obwohl in den USA die Schwefeldioxid-Emissionen von Kraftwerken im Rahmen des Verschmutzungsrechte-Handels um insgesamt 10% im Zeitraum 1995-2003 gesunken sind, hat gleichzeitig mehr als die Hälfte der schmutzigsten Kraftwerke ihren rußbildenden Schwefeldioxid-Ausstoß erhöht - mit gesundheitlichen Folgen für die in der Nähe lebenden Menschen (US PIRG 2005). Da Emissionshandel zudem die unterschiedlichen ökologischen Effekte, die Umweltverschmutzung auf verschiedene Lebensräume und Organismengruppen haben kann, nicht berücksichtigt, können zusätzliche ökologische und soziale Probleme entstehen.

Eine dritte negative Begleiterscheinung des Emissionshandels hängt mit der Privatisierung und Einhegung der Atmosphäre - einer Form von „ursprünglicher Akkumulation" - zusammen. Falls Emissionszertifikate als Anteile an der Fähigkeit des Erdsystems verstanden werden, die atmosphärische Treibhausgas-Konzentration zu regulieren und somit das Klima stabil zu halten, dann muss diese Fähigkeit quantifiziert werden. Wie groß ist die globale Aufnahmekapazität der Ozeane, Böden und Vegetation für die Verbrennungsrückstände der fossilen Energieträger? Die Antwort hängt sowohl davon ab, welcher Zustand der Welt als erträglich angesehen wird, als auch davon, wie das Erdsystem auf die zunehmenden Treibhausgas-Emissionen rein physisch reagiert. Auf die erste Frage gibt es keine nicht-politische Antwort und auf die zweite Frage kann es aufgrund der vielen Unbekannten und Nichtlinearitäten im Erdsystem niemals eine sichere Antwort geben - sicher ist nur, das mit steigender Treibhausgas-Konzentration die Gefahr des irreversiblen Umkippens wichtiger Elemente des globalen Klimasystems und damit von sich selbst verstärkendem Klimawandel mit unabsehbaren Konsequenzen wächst. Sowohl aus politischer als auch aus klimawissenschaftlicher Sicht ist die Einführung einer solcherart quantifizierbaren ›Klima-Ware‹ folglich unhaltbar. Nichtsdestoweniger hat das Drängen auf die Schaffung eines Marktes - zusammen mit der tief verwurzelten Gewohnheit, linear zu denken - zu vielfältigen Versuchen geführt, eine ›sichere‹ atmosphärische Treibhausgas-Konzentration zu bestimmen sowie Kosten-Nutzen-Analysen durchzuführen, die mögliche Klimaschäden gegen ökonomische Gewinne und Verluste aufgrund von emissionssenkenden Maßnahmen aufrechnen.

Zudem wirft der Versuch, das Treibhausgas-Bindungsvermögen des Erdsystems zu privatisieren, Verteilungsfragen auf, die letztlich zu internationalen politischen Konflikten führen. So ist etwa allein die Gesamtmenge der heute EU-weit ausgegebenen Emissionszertifikate bereits weitaus größer als derjenige Anteil an diesem bislang nicht aufgeteilten globalen Gut, der ihr bevölkerungsmäßig zustehen würde. Dieser Überschuss entspricht - selbst wenn ein sehr niedriger Preis für die Emissionszertifikate zugrunde gelegt wird - der unilateralen Aneignung von Vermögen im Wert von jährlich mehreren Milliarden US-Dollar (Lohmann 2005, 207).

Die strukturelle Begünstigung kurzfristiger Interessen stark verschmutzender Industrien und der Reichen werden oft als politische Stärken des Emissionshandels dargestellt. Demzufolge sei die Einführung des Emissionshandels, der einen sofortigen Übergang zu nicht-fossilen Energieträgern blockiert, der Preis, den Regierungen dafür bezahlen müssten, um die Wirtschaft dazu zu bringen, später angemessene Reduktionsverpflichtungen zu akzeptieren. Die zugehörige Gleichsetzung von Lösungen der Klimaproblematik mit Emissionsreduktionen (egal wie und wo) und -bepreisung weist darauf hin, wie sehr marktförmiger Klimaschutz in wenig mehr als einer Dekade hegemonial geworden ist. Die lange Geschichte der nicht-marktförmigen staatlichen Umweltregulation - z.B. Beschränkung von Emissionen durch Ge- und Verbote - sowie ihre gegenwärtigen Erfolge werden dabei weitgehend ausgeblendet.

Offsets

Offsets verstärken die klimatischen, politischen und sozialen Nachteile von Cap-and-Trade-Systemen und fügen weitere hinzu. Eine Motivation zur Einführung von Offsets im Kyoto-Protokoll war die Schaffung eines Ausgleichs zwischen dem Wunsch der reichen Industrien und Staaten, eine zusätzliche Quelle von Emissionszertifikaten zur Hinauszögerung ihrer eigenen Reduktionen zu konstruieren, und dem Wunsch des globalen Südens, von einem internationalen Klimaregime finanziell zu profitieren. Außerhalb des Kyoto-Rahmens dienen Offsets u.a. als Bildungsinstrument und zu Werbezwecken, v.a. aber als moderne Form der Ablassbriefe (vgl. Smith 2007).

Offsets beruhen auf der Schaffung einer Äquivalenz zwischen direkten Emissionsreduktionen und vorgeblich ›emissions-sparenden‹ Projekten. Die Industrieländer finanzieren dabei entweder Projekte zur Bindung des atmosphärischen CO2 (z.B. Waldplantagen, Ozeandüngung) oder Projekte zur Einsparung oder Ersetzung von fossilen Energieträgern (z.B. Staudämme zur Wasserkraftnutzung, Windenergieparks, Energieeffizienzprogramme, Wiederverwendung von Flugasche als Zementersatz) oder andere Projekte, die die Freisetzung von Treibhausgasen zu verringern versprechen. Viele Offset-Projekte machen dabei die - zumindest kurzfristige - Fähigkeit von Böden, Pflanzen, Wasser, Genen usw. zur Ware, das Treibhausgas-Bindungsvermögen des Erdsystems zu ›vergrößern‹, um mehr fossile Energieträger verbrennen zu können. Offset-Projekte gibt es auch in den Industrieländern (Kyoto-Instrument „Joint Implementation"), die meisten sind aber im globalen Süden angesiedelt (Kyoto-Instrument „Clean Development Mechanism", im folgenden CDM), v.a. in China, Indien, Südkorea und Brasilien. So plant etwa RWE, seine Reduktionsverpflichtungen zum größten Teil durch Investition in Projekte zur Zersetzung von Lachgas (N2O) in Fabriken in Ägypten und Südkorea und zur Zersetzung von Flouroform (HFC-23) in Chemiewerken in China zu erfüllen. Die Grundlage solcher Industriegas-Projekte - und ähnlicher Projekte, bei denen z.B. Methan aus Ölbohrlöchern, Kohlegruben oder Mülldeponien zu CO2 verbrannt wird - ist die Schaffung von Äquivalenzen zwischen den sechs im Kyoto-Protokoll erfassten (Gruppen von) Treibhausgasen. Sie stellen eine spektakulär ›kostengünstige‹ Variante des Klimaschutzes dar. So wird einem einzigen Methan-Molekül das gleiche Treibhauspotenzial (über 100 Jahre gerechnet) zugeschrieben wie 25 CO2-Molekülen - obwohl zahlreiche Unterschiede zwischen den beiden Substanzen hinsichtlich Verweilzeit und Aufenthaltsort in der Atmosphäre und den physikalischen und chemischen Wechselwirkungen diese Äquivalenz wissenschaftlich fragwürdig machen. Das offizielle Treibhauspotenzial von N2O beträgt gegenwärtig 298 und das von HFC-23 sogar 14800. Die große Beliebigkeit solcher Äquivalenzen spiegelt sich u.a. darin wider, dass letzteres vom IPCC jüngst um etwa 25% nach oben korrigiert wurde, wodurch auf einen Schlag die Erzeugung von Millionen Tonnen zusätzlicher Offsets ermöglicht wurde.

Die EU hat vorgeschlagen, dass ihre Mitgliedsstaaten bis zu 25% ihrer nationalen Emissionsreduktionsverpflichtungen bis 2020 durch Offsets erreichen können. Tatsächlich plant die Gruppe der EU-15-Staaten sogar, mindestens 38% ihres Reduktionsziels für 2008-12 durch Offsets zu erfüllen.[3] Der sog. Waxman-Markey-Gesetzentwurf zur Einführung eines US-Emissionshandelssytems, der im Juni 2009 vom Repräsentantenhaus bereits angenommen wurde, würde ebenfalls einen beträchtlichen Import von Offsets erlauben. Dies hat schon jetzt zum Aufkauf von Ländereien in Indonesien, Papua-Neuguinea und Zentralafrika durch Spekulanten geführt, die hoffen, durch Erhalt oder Aufforstung von dortigen Wäldern Offsets für den US-Markt generieren zu können.

Offsets versprechen gewöhnlich, dem globalen Süden einen ›grüneren‹ Entwicklungspfad zu ermöglichen und gleichzeitig die Industrieländer dazu anzuregen, innovative erneuerbare Energietechnologien zu entwickeln und zu exportieren. Doch die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Offsets die fossil-industrielle Entwicklung sowohl im Süden als auch im Norden weiter verstärken - und damit auch den Klimawandel. So wurden bis August 2009 76% aller CDM-Offsets von meist großen Unternehmen erzeugt, die durch kleine technische Eingriffe in wenigen Industrieanlagen verschiedene Fluorkohlenwasserstoffe und N2O zersetzen, während z.B. durch Solar- oder Gezeitenenergie-Projekte keine Offsets geschaffen wurden. Bis 2012 wird zwar erwartet, dass der Anteil ersterer auf etwa ein Viertel abnimmt (während er sich absolut verdreifacht) und immerhin 35% der CDM-Offsets durch Erneuerbare-Energien-Projekte generiert werden. Allerdings sind letztere großteils Staudamm-Projekte - wobei fast alle davon schon vor Einführung des CDM geplant wurden, die meisten davon in China (Haya 2007) - und Windenergieparks, bei denen jeweils umstritten ist, ob sie überhaupt fossile Energieträger ersetzen oder diese nicht vielmehr bloß ergänzen. Die restlichen Offsets werden aus Projekten stammen, die ebenfalls keine nachweisliche Verringerung des Abbaus fossiler Energieträger zur Folge haben, z.B. 8% aus Deponiegas-Projekten, 6% durch fossilen Energieträgerwechsel und 5% durch Verbrennung von Methan, das aus Kohlegruben entweicht (alle Zahlen und deren ständige Aktualisierung finden sich unter www.cdmpipeline.org). Zudem wird derzeit hartnäckig durchzusetzen versucht, auch mit Kohlekraftwerken mittels der sog. CCS-Technologie (Carbon Capture and Storage) Offsets erzeugen zu dürfen. Bei diesem noch in der Entwicklungsphase befindlichen Verfahren soll das CO2 direkt am Kraftwerk abgeschieden, verflüssigt und das stark basische Produkt anschließend auf unterirdischen ›Giftmüllkippen‹ gelagert werden, um so zumindest vorübergehend nicht in die Atmosphäre zu gelangen.

Eine weitere ökologische Problematik des Offset-Handels illustriert ein südkoreanisches Adipinsäure-Werk des französischen Chemiekonzerns Rhodia. Durch Investition von etwa 15 Mio US-Dollar in Anlagen zur Zersetzung von N2O kann Rhodia dort innerhalb der nächsten sieben Jahre Offsets im Wert von bis zu 1 Mrd US-Dollar ›erwirtschaften‹ (Forelle 2008). Für die Entkarbonisierung Südkoreas ist dieses Projekt bestenfalls irrelevant, schlimmstenfalls ermutigt es allerdings dazu, weitere schmutzige Chemiewerke zu errichten, mit deren ›Reinigung‹ später Geld gemacht werden kann - so wie dies bereits bei der Erzeugung von HFC-23, einem Nebenprodukt bei der Herstellung von Kühlmitteln, geschehen ist (Wara 2007). Üblicherweise wird behauptet, dass sobald diese tiefhängenden Früchte aus dem Offset-Garten gepflückt sind, nach und nach teurere und nützlichere Projekte umgesetzt werden. Das hieße jedoch, die Anreizstruktur des Offset-Handels gründlich misszuverstehen, regt diese doch v.a. dazu an, neue ›Emissions-Äquivalente‹ zu finden oder zu erfinden, um möglichst billig Offsets zu produzieren. Der Einfallsreichtum reichte diesbezüglich in den letzten Jahren von der Umgruppierung von Verkehrsampeln über die Ozeandüngung mit Harnstoff zur Anregung von Algenwachstum bis zur Nichtbenutzung von Fahrstühlen.

Ben Fine zufolge sind Offsets die „bizarrste Form von Futures": sie bevölkern „einen Markt für Dinge, die in Zukunft nicht erzeugt werden" (2008, 6). Offsets beruhen, wie Derivate allgemein, auf der Zähmung, Vereinfachung und Quantifizierung von Unbekannten - in diesem Fall v.a. auf Experteneinschätzungen kontrafaktischer Zukunftsszenarien. Offsets berechnen sich immer als Emissionsreduktionen gegenüber einer imaginären Basislinie (baseline), gemäß der alles so weiterginge wie bisher. Diese wird nicht als prinzipiell unbestimmbar und abhängig von politischen Entscheidungen, sondern als ökonomisch und technisch vorhersag- und messbar aufgefasst. Der so zu erbringende Nachweis der ›Zusätzlichkeit‹ der Emissionsreduktionen kann jedoch - wie viele Offset-Zertifizierer privat selbst zugeben - keine wissenschaftlich-objektive Grundlage haben. Zusätzliche Schwierigkeiten der Messbarkeit gibt es bei Offsets durch Aufforstungsprojekte, u.a. da dort die CO2-Bilanz der Bodenorganismen mitberücksichtigt werden muss. Diese zahlreichen Nicht-Nachprüfbarkeiten machen es gut ausgebildeten und bezahlten und von der Öffentlichkeit weitgehend abgeschirmten Kohlenstoff-Zertifizierern relativ einfach, durch „›kreative‹ Kohlenstoff-Buchführung" (Brunnengräber 2006, 224) große Mengen an Offsets für die Industriestaaten zu erzeugen - und dadurch den Klimawandel weiter zu verschärfen. Bedenklich ist auch, dass die Weiterentwicklung der Zertifizierungs-Kriterien zunehmend durch private Offset-Berater, große Offset-Käufer, Banken und Fondsmanager beeinflusst und somit Interessenkonflikte ausgeblendet werden. Wie Rating-Agenturen bei Finanzmärkten haben private Offset-Zertifizierer ein starkes Interesse daran, auch zukünftig mit ihren Auftraggebern zusammenzuarbeiten und genehmigen die zu prüfenden Projekte üblicherweise großzügig. So passieren diese Experten unablässig die Drehtüren zwischen privaten Offset-Beratern, Regierungen, internationalen Organisationen wie UN und Weltbank, Umweltschutzorganisationen, Handelsverbänden und Industrieunternehmen. All dies macht jegliche Unterscheidung zwischen Betrug und Nicht-Betrug kaum möglich. Das so entstehende Problem der Bewertung von Vermögen ist wohl noch offenkundiger als dasjenige der Subprime-Hypothekendarlehen vor dem Zusammenbruch 2007/8. Die Akkumulation von ›Giftpapieren‹ bzw. die Emission immer neuer Emissionsrechte macht die Kohlenstoffmärkte zunehmend anfällig gegenüber Spekulationsblasen und Zusammenbrüchen - in diesem Fall allerdings mit möglicherweise  besonders schwerwiegenden und irreversiblen Folgen, denn, wie britische Klimacamp-Aktivisten formulierten, „nature doesn't do bailouts".

Eng verknüpft mit der Ausblendung von Unbekannten ist die Ausblendung klimapolitischer Alternativen, wobei insbesondere das lokale Wissen um die Vielfalt möglicher Zukünfte unterdrückt wird. Die Zerstörung von Wissen findet dabei oft auf brutale physische Weise statt. Am Fluß Bhilangana etwa, in der Nähe des Dorfes Sarona im nordindischen Bundesstaat Uttarakhand, baut die Swasti Power Engineering Ltd. einen Staudamm mit einem 22,5-MW-Wasserkraftwerk, um CDM-Offsets zu generieren. Dieses Projekt würde das lokale, außergewöhnlich emissionsarme Landwirtschaftssystem mit fein abgestimmten Bewässerungsterrassen zerstören, das die Bevölkerung u.a. mit Reis, Weizen, Früchten und Gemüse versorgt. Die Dorfbewohner erfuhren von dem Projekt erst, als 2003 die Baumaschinen anrückten. Viele von ihnen wurden während der folgenden Proteste geschlagen, inhaftiert und gefoltert, damit sie ihren Widerstand aufgeben. In den bergigen Tälern von Uttarakhand sind 146 weitere solcher Staudamm-Projekte geplant oder bereits begonnen worden, und Hunderte weitere in China, Brasilien und anderswo warten auf ihre Finanzierung im Rahmen des CDM. Viele davon werden vermutlich - wie in Sarona - dazu beitragen, das lokale Wissen über emissionsarme Lebensweisen, das für eine nicht-fossile Zukunft immer wichtiger wird, zu vernichten.

Darüber hinaus setzt das Verfahren der Offset-Zertifizierung perverse Anreize, extrem emissionsintensive Baseline-Szenarios nicht nur auf dem Papier zu postulieren, sondern auch Realität werden zu lassen, damit die vorgeschlagenen Projekte (scheinbar) möglichst viel Emissionen einsparen (Wara 2007). So werden z.B. in vielen Ländern, in denen Offset-Projekte durchgeführt werden oder geplant sind, die geltenden emissions-relevanten Umweltgesetze nicht durchgesetzt bzw. neue Umweltgesetze nicht eingeführt, um die Baseline möglichst hoch zu halten. Umgekehrt wollen z.B. in Nigeria tätige Ölkonzerne dadurch Offsets erhalten, dass sie das bei der Ölgewinnung entweichende Erdgas nicht abfackeln, obwohl dies dort bereits sowieso gesetzlich verboten ist.

Ausblick

Die ›warenförmigen Lösungen‹ für das Problem der wachsenden politisch-ökonomischen Unsicherheiten, d.h. die Finanzderivate und ihre Märkte, und diejenigen für das Problem des anthropogenen Klimawandels, d.h. die Emissionszertifikate und ihre Märkte, sind in eine tiefe Krise geraten. Die politischen Antworten auf beide Krisen lassen sich grob in zwei Gruppen einteilen. Die eine, inspiriert durch die Neoklassik und die Doktrin des Marktversagens, nimmt an, dass die Schwierigkeiten bei Produktion und Austausch der neuen fiktiven Waren durch die ›Internalisierung von Externalitäten‹, d.h. durch weiteres Zur-Ware-Machen, erfolgreich geregelt werden können, wobei die grundlegende Struktur der Märkte beibehalten bzw. ausgebaut werden kann. Die andere, eher pragmatisch orientiert, zielt auf ein teilweises oder vollständiges Rückgängigmachen des Zur-Ware-Machens (decommodification). Letzteres erinnert an die zweite Phase von Polanyis „Doppelbewegung": auf den Versuch, lebenswichtige Güter vollständig zu fiktiven Waren zu machen, folgen unweigerlich Bewegungen gesellschaftlicher Selbstverteidigung gegen die dadurch drohenden systemischen Gefahren, die diese Entbettungen rückgängig machen wollen.

Im Falle der Klimaproblematik könnte ein Entkommodifizierungs-Ansatz z.B. damit beginnen, keine Emissionsreduktionen mehr durch Offsets zu erlauben und die vorgebliche Äquivalenz, und damit Austauschbarkeit, zwischen Emissionsreduktionen in verschiedenen Industriezweigen und technologischen Kontexten, an verschiedenen Orten und bei verschiedenen Treibhausgasen schrittweise wieder aufzuheben. Netzwerke wie die Durban Group for Climate Justice gehen noch weiter und lehnen das Zur-Ware-Machen des Treibhausgas-Bindungsvermögens des Erdsystems, und folglich auch jeglichen Emissionshandel, rundweg ab (vgl. www.carbontradewatch.org/durban). Sie argumentieren zu Recht, dass dies undurchführbar und kontraproduktiv ist, eine neue Welle der Einhegung nicht nur der Atmosphäre, sondern auch des Bodens und des Wissens im globalen Süden darstellt, und den Zustand der Brennpunkte der Umweltverschmutzung in den Industrieländern weiter verschlechtert, während es kaum ›grüne‹ Arbeitsplätze schafft. Außerdem haben nicht-marktförmige Regulierungen mehr und schneller zur Begrenzung (des Anstiegs) von Emissionen beigetragen als der Emissionshandel.

Angesichts der eigennützigen Interessen, die Politik und Wirtschaft mit dem warenförmigen Ansatz verfolgen, betonen solche radikaleren Netzwerke, dass nur eine gesellschaftliche Bewegung in der Lage ist, wirkungsvolle und gerechte klimapolitische Alternativen zu formulieren. Klimapolitischer Aktivismus kann sich nicht darauf beschränken, auf global ausgehandelte Emissionsreduktionsziele zu drängen, eine Liste zulässiger Technologien zusammenzustellen, neue Waren zu konstruieren und dann die Investitionen den Finanzinstitutionen und Regierungen zu überlassen, die nur versuchen, die Preise richtig zu justieren, während alle Macht- und Wissensstrukturen im wesentlichen unverändert bleiben. Stattdessen müsste damit begonnen werden, eine breite politische Bewegung aufzubauen, die sich für eine demokratische, post-fossile und langfristige gesellschaftliche Planung - gestützt auf gemeinschaftliche Untersuchungen - einsetzt. Tiefgreifender gesellschaftlicher Wandel ist dabei unausweichlich. Es müssen Verfahren gefunden werden, um einen demokratischen Konsens darüber zu ermitteln und durchzusetzen, welche Ressourcen wo und wann zum langfristigen Wohl gemeinsam genutzt werden dürfen, welche Institutionen folgerichtig abzuschaffen und durch welche neuen zu ersetzen sind und v.a. wie dieser politische Übergang stattfinden soll.

Aus dem Englischen von Oliver Walkenhorst

Der Aufsatz ist eine umgearbeitete und ergänzte Fassung von »Uncertainty Markets and Carbon Markets. Variations on Polanyian Themes«, The Corner House, August 2009; www.thecornerhouse.org.uk.

Literatur

Altvater, Elmar, Die Zukunft des Marktes, Münster 1991

Arthur, W. Brian (Hg.), Increasing Returns and Path Dependence in the Economy, Ann Arbor 1994

Blackburn, Robin, „Finance and the Fourth Dimension", in: New Left Review 39, Mai/Juni 2006, 39-70

Braun, Anneliese, „fiktive Waren", in: HKWM, Bd. 4, Hamburg 1999, 480-84

Brunnengräber, Achim, „The Political Economy of the Kyoto Protocol", in: L.Panitch u. C.Leys (Hg.), Socialist Register 2007: Coming to Terms with Nature, London 2006, 213-30

Callon, Michel, „An Essay on Framing and Overflowing: Economic Externalities Revisited by Sociology", in: ders. (Hg.), The Laws of the Markets, Oxford 1998, 244-69

Drury, Richard Toshiyuki, u.a., „Pollution Trading and Environmental Injustice: Los Angeles' Failed Experiment in Air Quality Policy", in: Duke Environmental Law and Policy Forum 9, 1999, H. 2, 231-89

Fine, Ben, „Looking at the Crisis through Marx: Or Is It the Other Way about?", 2008, https://eprints.soas.ac.uk/5921 (auch in: International Socialist Review 64, März/April 2009)

Forelle, Charles, „French Firm Cashes In Under U.N. Warming Program", in: Wall Street Journal, 23.7.2008

Foster, John Bellamy, „The Financialization of Capital and the Crisis", in: Monthly Review 59, April 2008, H. 11

Haya, Barbara, Failed Mechanism: How the CDM is Subsidizing Hydro Developers and Harming the Kyoto Protocol, Berkeley/CA 2007, www.internationalrivers.org/files/Failed_Mechanism_3.pdf

Kanter, James, „In London's Financial World, Carbon Trading Is the New Big Thing", in: New York Times, 6.7.2007

LiPuma, Edward, u. Benjamin Lee, Financial Derivatives and the Globalization of Risk, Durham/NC 2004

Lohmann, Larry, „Marketing and Making Carbon Dumps: Commodification, Calculation and Counterfactuals in Climate Change Mitigation", in: Science as Culture 14, 2005, H. 3, 203-35

ders., Carbon Trading: A Critical Conversation on Climate Change, Privatization and Power, Development Dialogue No. 48, Uppsala 2006

MacKenzie, Donald, An Engine, Not a Camera: How Financial Models Shape Markets, Cambridge/MA 2006

Polanyi, Karl, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (1944), Frankfurt/M 1978

Prins, Gwyn, u. Steve Rayner, „Time to ditch Kyoto", in: Nature 449, 2007, 973-75

Smith, Kevin, The Carbon Neutral Myth: Offset Indulgences for your Climate Sins, Transnational Institute, Amsterdam 2007

United States Public Interest Research Group (US PIRG), Pollution on the Rise: Local Trends in Power Plant Pollution, Washington/DC 2005

Wara, Michael, „Is the Global Carbon Market Working?", in: Nature 445, 2007, 595-96

Williams, Laurie, u. Allan Zabel, „Climate Change Legislation - Urgent Plea for Enactment of Carbon Fees and Ban on New Coal-Fired Power Plants without Carbon Sequestration", Open Letter, 4.5.2008, www.carbonfees.org/home



[1] Bank of International Settlements, Quarterly Review, 12/2008, Statistical annex, A103.

[2] Anmerkung der Red.: „Polanyi kritisiert zwar wie Marx „, wie Anneliese Braun im Stichwort „fiktive Waren" im HKWM schreibt, „dass im Kapitalismus nicht die Ökonomie dem Menschen, sondern diese der Ökonomie untergeordnet sind. Auf theoretischer Ebene verbleibt er aber bei der liberalen Lehre von Boden, Kapital und Arbeit als den drei Faktoren der Ökonomie. Dass er diese als fiktive Waren begreift, bringt ihn aber nicht dazu, die Einkommen, die entsprechend den Produktionsfaktoren die Formen Löhne, Bodenrente und Zins annehmen, wert- und mehrwerttheoretisch auf ihre Quellen zu befragen. Er begnügt sich mit der Annahme, dass Preise sich auf dem Markt durch das Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage bilden. Die Theorie der fiktiven Waren bleibt dadurch ohne ökonomisches Fundament." Mit Marx lässt sich der Begriff der fiktiven Waren jedoch theoretisch untermauern (vgl. Braun 1999, 482ff).

[3] „EU on Track to Surpass Kyoto Cuts Commitments", ENDS Report, 11/2008, 17f.