Exklusionsmanagement: Soziale Arbeit im Neoliberalismus

Der tiefgreifende Umbau der sozialen Sicherungssysteme im Namen einer neoliberalen »Neuen Sozialen Marktwirtschaft« hat weitreichende Auswirkungen für die Soziale Arbeit. Unsere These ist, dass sich eine Funktionsverschiebung von einem gesellschaftlichen Integrationsversprechen hin zu einem Exklusionsmanagement vollzieht. Damit gewinnt die Bearbeitung und Ruhigstellung der sich aus den gesellschaftlichen Spaltungstendenzen neoliberaler Politik ergebenden Konflikte zunehmend an Bedeutung. In dem Maße, wie sich das neoliberale Projekt durchsetzt, gerät auch der institutionelle Rahmen der Sozialen Arbeit unter Druck und droht durch ökonomische Vorgaben vereinnahmt zu werden. Somit ist Soziale Arbeit doppelt mit dem Neoliberalismus konfrontiert. Zum einen besteht ein großer Teil der Klientel aus denen, die im forcierten Wettbewerb nicht mithalten können oder wollen, und zum anderen geraten zunehmend die Institutionen und Mitarbeiter des Arbeitsfeldes in den Strudel von Wettbewerb, ökonomischer Effizienz, Kundenorientierung, Produktbeschreibung und unsicherer werdenden Arbeitsplätzen. Das Terrain freilich ist umkämpft.

Vom fordistischen Integrationsversprechen zum Sozialmanagement gesellschaftlicher Spaltungen

Das bis in die 1970er Jahre hinein dominierende fordistische Entwicklungsmodell zeichnet sich durch Standardisierung sowohl des Produktions- als auch des Konsumbereichs aus. Damit verbunden ist eine Standardisierung der Lebensläufe. So kann ein gesellschaftlich regulierter und (sozial-)staatlich gestützter Lebenslauf als Normalfall des Fordismus identifiziert und als Norm formuliert werden. Diese Homogenisierungseffekte sind freilich mehrfach gebrochen durch andere strukturelle Verhältnisse wie etwa hierarchischen Geschlechterverhältnissen.

Dennoch wird mit Hilfe des institutionalisierten Lebenslaufs die Differenz zwischen gesellschaftlich hergestellter Normalität und Abweichung diagnostizierbar und zum Ansatzpunkt sozialpädagogischer Intervention. Zwar ist das Normalarbeitsverhältnis für die gesamte Bevölkerung genauso wenig realisiert wie das Ziel der Vollbeschäftigung, beide bilden jedoch den fiktiven Hintergrund für die Vorstellung einer gelungenen gesellschaftlichen Integration. Abweichungen (z.B. Arbeitslosigkeit) werden dementsprechend als Desintegrationsprozesse verstanden, die es durch sozialpädagogische Maßnahmen aufzuheben gilt. Dabei ist es zweitrangig, ob die Ursachen von Abweichung auf der gesellschaftlichen (›Arbeitslosigkeit durch Rezession‹) oder auf der individuellen Ebene (›Arbeitsunwilligkeit‹) verortet werden. Ihrer Klientel tritt Soziale Arbeit als Normalisierungsarbeit (Galuske 1993, 103) in doppelter Gestalt gegenüber. Einerseits eröffnet sie eine reale (Re-)Integrationsperspektive und darüber die Möglichkeit umfassenderer gesellschaftlicher Partizipation. Andererseits liegt diese Perspektive lediglich im Rahmen der gesellschaftlich etablierten Normalitätsmuster, an die die Lebensentwürfe und -strukturen der Betroffenen unter Umständen auch gegen deren Interesse anzupassen sind. Sie hilft den Subjekten bei der Stabilisierung ihrer Lebenslagen genauso, wie sie kapitalistische Machtstrukturen durch Herstellung und Sicherung der Lohnarbeiterexistenz sowie der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung festigt. Dabei agiert Soziale Arbeit den primären Normalisierungsinstanzen, wie Familie, Schule, erster Arbeitsmarkt, nachgeordnet. Sie greift vor allem dort ein, wo eine primäre Normalisierung gescheitert ist bzw. zu scheitern droht, und wird deshalb auch als sekundäre Normalisierung (Böhnisch/Schefold 1985, 40) bezeichnet.

Die Funktion Sozialer Arbeit im Fordismus lässt sich damit vor allem als Herstellung und Sicherstellung gesellschaftlicher Integration in ihrer Ambivalenz von Hilfe und Kontrolle bezeichnen. Damit einher geht eine Professionalisierung Sozialer Arbeit, die im Rahmen des sozialstaatlichen Ausbaus möglich und mit dem Anstieg ihrer funktionalen Bedeutung für die Regulation des Kapitalismus notwendig geworden ist. Mit ihrem Fokus auf Abweichung und Ausgrenzung bleibt Soziale Arbeit jedoch in erster Linie »Nothilfepädagogik« (Hamburger 1995, 20) im Unterschied zu anderen sozialstaatlichen Institutionen (wie Bildungswesen, Sozialversicherungen), die die ganze Gesellschaft durchziehen.

Mit der Krise des Fordismus gerät auch Soziale Arbeit in ein Orientierungsdilemma. Die zunehmende Flexibilisierung und Rationalisierung im Produktionssektor leitet eine Heterogenisierung und Fragmentierung der Lohnarbeiterschaft ein und zieht den Anstieg von Arbeitslosigkeit nach sich. In dieser Umbruchsituation zeichnet sich eine Spaltung der Gesellschaft in einen Kern von ›Integrierten‹ und einen Rand von dauerhaft ›Ausgeschlossenen‹ mit einem breiten Übergangsfeld ab. Vor diesem Hintergrund wird das Normalarbeitsverhältnis und das mit diesem verknüpfte Familienernährermodell zunehmend brüchig. Damit verliert Soziale Arbeit ihren normativen Bezugspunkt in doppelter Weise: Sie kann ihrer Klientel keine reale, sondern allenfalls noch eine fiktive Integrationsperspektive anbieten, und ihr selbst kommt der handlungsleitende Bezugsrahmen von gesellschaftlicher

Normalität abhanden. Ein neues gesellschaftliches Leitbild wird implizit durch den sich durchsetzenden Neoliberalismus vorgegeben: der Mensch als eigenverantwortlicher Unternehmer seiner selbst. In den 80er Jahren wird dementsprechend im sozialpädagogischen Diskurs das Integrationsparadigma abgelöst durch neuere Überlegungen, die die Aufgaben der Sozialen Arbeit verallgemeinert als ›Hilfen zur Lebensbewältigung‹ (vgl. Böhnisch/Schefold 1985) fassen. Mit dieser Wende macht Soziale Arbeit einerseits das Leben und den Alltag ihrer Klientel zum zentralen Bezugspunkt, andererseits hält sie ihren Zielhorizont weitgehend offen. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Spaltungsprozesse im Postfordismus bedeutet diese Ausrichtung allerdings vor allem, prekäre Lebensverhältnisse derart zu stützen, dass der gesellschaftliche Reproduktionszusammenhang auch durch den zeitweiligen oder dauerhaften Ausschluss einzelner Bevölkerungsgruppen nicht in Frage gestellt wird. Damit verlagert sich der Aufgabenbereich Sozialer Arbeit von der ›sekundären‹ hin zur ›tertiären Normalisierung‹, bei der es darum geht, »dass alle Optionen arbeitsgesellschaftlicher Anforderungen offengehalten werden müssen, ohne dass bei deren Nicht-Realisierung die Subjekte psychosozial zerbrechen und/oder die Systemstabilität gefährdet wird« (Galuske 1993, 139). Für die gesellschaftliche Funktion Sozialer Arbeit bedeutet dies eine Verschiebung von ihrer Integrationsfunktion hin zum ›Management gesellschaftlicher Spaltungen‹ (Schaarschuch 1999a, 64).

Die Konsequenzen für die Soziale Arbeit sind durchaus zwiespältig. Einerseits erlangt sie im Rahmen der ›tertiären Normalisierung‹ einen größeren Handlungsspielraum, weil sie nicht mehr unmittelbar an sozialpolitische Forderungen gebunden ist. In dieser Hinsicht kann sie sich aus ihrer sozialpolitischen Umklammerung teilweise befreien, wodurch der Perspektivenwechsel hin zu den Lebensverhältnissen der Adressaten überhaupt erst möglich wird (vgl. Schaarschuch 1994, 59f). Andererseits droht ihr realer Nutzen für die Adressaten zu schwinden, indem die Integrationsperspektive hinfällig wird und allenfalls noch der ideologischen Legitimierung Sozialer Arbeit dient.

Diese Ambivalenz spiegelt sich auch in der zunehmenden Verlagerung sozialstaatlicher Aufgaben und Zuständigkeiten von der nationalstaatlichen auf die kommunale Ebene. Bitzan u.a. (1995, 13) analysieren, wie sich einerseits die Handlungsspielräume der Professionellen (sowie der Betroffenen) durch die Kommunalisierung sozialpolitischer Verantwortung erweitern, indem ihre Einflussmöglichkeiten und Mitspracherechte in lokalen Planungsprozessen gestärkt werden. Andererseits schränkt sich dabei der Gestaltungsspielraum auf kommunaler Ebene insgesamt ein, da die Kommunen durch die wachsenden Aufgaben in systematische Finanzierungsprobleme geraten. Somit wird durch die Kommunalisierung zwar suggeriert, dass die gesellschaftlichen Spaltungstendenzen auf kommunaler Ebene behoben werden können. Gleichzeitig stellt sie jedoch den Versuch dar, die gesamtstaatliche Verantwortung für den Reproduktionsbereich zu reduzieren und unter dem Slogan ›neue Subsidiarität‹ in die private Verantwortung zu verlagern. Insofern kann die Kommunalisierung als Teil der sozialpolitischen Strategie des ›aktivierenden Sozialstaats‹ (vgl. Dahme/Wohlfahrt 2002) interpretiert werden, mit der sowohl die im Neoliberalismus geforderte ›Eigenverantwortung‹ - also die Privatisierung sozialer Risiken - vorangetrieben, als auch die Kontroll- und Disziplinierungsinstrumentarien im sozialen Bereich ausgebaut werden.

Die Expansion der Sozialen Arbeit in den letzten Jahrzehnten resultiert vor diesem Hintergrund nicht aus einer gestiegenen gesellschaftlichen Akzeptanz, sondern im Wesentlichen aus einem erhöhten gesellschaftlichen Regulationsbedarf in Zeiten der postfordistischen Gesellschaftstransformation. Zugespitzt lässt sich sagen, dass sich nicht Soziale Arbeit normalisiert hat, sondern gesellschaftliche Spaltungstendenzen zur Normalität geworden sind. Bildlich gesprochen bleibt ihr als Aufgabe die Konkursverwaltung der im neoliberalen Wettbewerb auf der Strecke gebliebenen Ich-AGs.

Ökonomisierung und Deprofessionalisierung

Die Funktionsverschiebung der Sozialen Arbeit geht einher mit einer Umstrukturierung ihres institutionellen Rahmens. Die Auflösung des sozialstaatlichen Konsenses, der mit dem Niedergang der fordistischen Phase einsetzt, sich durch den Zusammenbruch des sog. ›real existierenden Sozialismus‹ und dem daraus resultierenden Wegfall der Systemkonkurrenz verstärkt und durch den Siegeszug des neoliberalen Paradigmas bis in die Sozialdemokratie hinein beschleunigt, setzt auch die Institutionen der Sozialen Arbeit zunehmend unter Kostendruck. Gleichzeitig steigt jedoch der sozialstaatliche Regulationsbedarf. Daher ist Soziale Arbeit mit der paradoxen Situation konfrontiert, mit geringeren finanziellen Mitteln mehr leisten zu sollen. Um dies zu bewerkstelligen, findet seit Ende der 80er Jahre unter dem Label ›New Public Management‹ bzw. ›Neue Steuerung‹ eine Umstrukturierung des organisatorischen Rahmens Sozialer Arbeit statt, die allgemein als Ökonomisierung bezeichnet werden kann und die faktisch auf eine Deprofessionalisierung und Entpolitisierung des sozialen Sektors hinausläuft.

Wurde bislang der Sozialstaat als Gegenpol zu und Korrekturinstanz gegenüber der kapitalistischen Ökonomie gesehen, so soll nun der soziale Sektor über den Versuch, soziale Dienstleistungen als marktförmige Produkte in Bezug auf Art, Leistungsumfang und Kosten im Rahmen eines Produktkatalogs umfassend zu definieren (vgl. KGSt 1994, 21ff), effektiver und effizienter zugleich werden. Die bisherige staatliche Steuerung über Inputs (Regeln und Ressourcen) wird dabei ersetzt durch eine ziel- und ergebnisorientierte Steuerung: die aus der Produktbeschreibung ableitbaren und vertraglich festgeschriebenen Zielformulierungen werden zum zentralen Handlungsmaßstab; auf der Basis quantifizierbarer Daten (Anzahl der Fälle und Kontakte, Summe der Kosten) wird kontrolliert, inwiefern die Zielvorgaben eingehalten wurden; durch Budgetierung wird die Verantwortung für einzelne Bereiche delegiert und dezentralisiert, während zugleich die Kontrolle über die Ausgaben in zentraler, staatlicher Hand verbleiben; schließlich soll durch die Konkurrenz unter den sozialen Dienstleistungsanbietern und den damit gegebenen Wahlmöglichkeiten seitens der Kunden eine optimale Steuerung des Dienstleistungsangebots stattfinden. Mit dieser Umstrukturierung der sozialen Dienste werden ökonomische Prinzipien handlungs- und entscheidungsleitend und der professionelle Handlungsspielraum sowie die Partizipationsmöglichkeiten der Adressaten eingeschränkt (vgl. White 2000). Indem die Sozialarbeiter verantwortlich gemacht werden für das Management des Budgets, welches zu einem zentralen Bestandteil der - externen - Bewertung ihrer Arbeit wird, drohen fachliche Entscheidungen überlagert zu werden von finanziellen Kalkülen, die in erster Linie am Eigeninteresse der Organisation und den staatlichen Kostenvorgaben ausgerichtet sind. Gleichzeitig bedeuten die festgeschriebenen Zielvorgaben eine ökonomische Standardisierung sozialer Dienstleistungen, durch die die sozialpädagogischen Reaktionsweisen vordefiniert sind. Dadurch reduziert sich praktische Soziale Arbeit im Wesentlichen auf eine den Dienstleistungsprodukten entsprechende Klassifizierung der Adressaten, um diesen die passende ›Hilfe‹ zu verordnen. Ein Aushandlungsprozess zwischen Sozialarbeiter und Klient über die Problemlage und Art der Hilfe erscheint nicht mehr notwendig (vgl. Otto/Schnurr 2000, 16). Die Mitsprache und Mitgestaltung der Hilfemaßnahme durch das Klientel wird damit vollends ausgeschlossen und Soziale Arbeit fällt zurück auf ein technokratisches Professionsverständnis, das bereits in den 80er Jahren als überwunden gegolten hat.

Darüber hinaus erbringen soziale Dienste immer auch allgemeine öffentliche Leistungen (z.B. in der Gemeinwesenarbeit) und sind daher nicht über Marktmechanismen angemessen steuerbar, sondern nur in politischer Auseinandersetzung und als politische Entscheidung festzulegen. Mit der Privatisierung sozialer Dienstleistungen wird aber gerade solch eine Auseinandersetzung umgangen (vgl. Muetzelfeldt 2000). Über die Budgetierung, die in den meisten Fällen nichts anderes als eine Deckelung der Ausgaben ist, droht auch im sozialen Bereich eine neoliberale Argumentationsfigur dominant zu werden, die den Sachzwang der leeren Kassen postuliert und dadurch eine Diskussion über die Verteilung gesellschaftlichen Reichtums zu ersticken versucht.

Europaweit ist im Zuge der Öffnung des ›Sozialmarkts‹ eine Angleichung der verschiedenen Sozialstaatsmodelle zu erwarten. Sollte sich dabei der Trend zu Privatisierung und Wettbewerb fortsetzen, prognostiziert Karl-Heinz Boeßenecker (1999, 46f) die Etablierung eines »konzeptionslosen Mischsystems« mit einer vierstufigen Hierachisierung der Angebote und deren Adressaten: Am untersten Ende fände sich dann die Gruppe der Armen und dauerhaft Ausgegrenzten, deren soziale Sicherung sich auf eine Almosenfürsorge reduziert, die vor allem durch ehrenamtliches Engagement aufrechterhalten wird, ergänzt durch ordnungspolitische Maßnahmen, die das System von Ausgrenzung, Bestrafung und Kriminalisierung zementieren. Darüber befände sich die Gruppe am Rande der Armutsgrenze, also Sozialhilfeempfänger und Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Ihr Status würde durch Beschäftigungsintegrationshilfen gestützt, ohne dabei jedoch eine dauerhafte soziale Absicherung gewährleisten zu können. Die dritte Gruppe bestünde aus der breiten Schicht der prinzipiell sozial- und marktintegrierten Arbeitnehmer und Familien. Diese hätten neben einer staatlich gesicherten Grundversorgung zudem die Möglichkeit, durch Eigenfinanzierung auch qualitativ höherwertige Hilfe und Beratung im gewerblichen sozialen Dienstleistungssektor in Anspruch zu nehmen. Am oberen Ende schließlich stünde die kleine, aber zahlungskräftige Gruppe von Menschen, die sich eine ›Sozialarbeit de luxe‹ leisten könnten. Hier - aber leider nur hier - wären die Verheißungen der Verfechter des Neoliberalismus von den autonomen und selbstbewussten Kunden, nach deren Interessen und Ansprüchen sich die sozialen Dienstleistungen zu richten haben, tatsächlich verwirklicht.

Die skizzierten Transformationsprozesse sind bislang freilich noch nicht abgeschlossen und gesellschaftlich umstritten. Sozialer Protest formiert sich zum einen im Rahmen der globalisierungskritischen Bewegung und der Gewerkschaften. Zum anderen finden aber auch die Sozialarbeiter in ihrem konkreten Alltagsgeschäft immer wieder Möglichkeiten und Strategien, ihre professionellen Handlungsspielräume gegenüber ökonomischen Vorgaben zu behaupten. Diese Handlungsspielräume zu erhalten und zu erweitern, wird dagegen ohne eine stärkere politische Einmischung nicht zu haben sein.

Repolitisierung der Sozialen Arbeit

Ansatzpunkte für eine (Re-)Politisierung Sozialer Arbeit bieten sich in dreierlei Hinsicht: Auf institutioneller Ebene ist eine Demokratisierung der Organisationsstrukturen zu realisieren, bei der die Teilhaberechte und Partizipationsmöglichkeiten der Adressaten verankert und erweitert werden. Auf der Interaktionsebene zwischen Professionellen und Adressaten ist danach zu fragen, wie der Umgang mit alltäglichen Irritationen und Konflikten vor dem Hintergrund einer kritischen Alltagstheorie emanzipatorisch gewendet werden kann. Das verweist schließlich auf die Notwendigkeit einer gesellschaftstheoretischen Positionsbestimmung, von der aus der Neoliberalismus ideologiekritisch analysiert und eine radikalisierte, nicht-affirmative Theorie des Alltags formuliert werden kann, die auch politisch wirksam wird.

Die institutionelle Neujustierung des sozialen Dienstleistungssektors, wie sie im Zuge des neoliberalen Umbaus des Sozialstaats vorangetrieben wird, gerät derzeit zunehmend unter fachpolitischen Druck. Innerhalb der aktuellen Dienstleistungsdebatte hat sich ein kritischer Strang etabliert, der nach alternativen Organisationsformen sucht und an den sich im Übergang zum Postfordismus eröffnenden, erweiterten Handlungsspielräumen ansetzt. Statt gesellschaftlicher Normalitätserwartungen können nun die Lebenswelt und die alltägliche Lebensführung bzw. die »Reproduktionsweisen« (Schaarschuch 1990, 108) der Adressaten als Ausgangspunkt der Sozialen Arbeit genommen werden. Dies ermöglicht eine neue Verhältnisbestimmung der Triade Adressaten - Professionelle - Sozialstaat (vgl. Schaarschuch 1999b). Die Adressaten werden in dieser Triade zu den eigentlichen ›Produzenten‹ der ›Dienstleistung‹, sind also Subjekte, die sich und ihr Leben verändern mit dem Ziel, die Verfügung über ihre Lebensverhältnisse zu erweitern.

Soziale Arbeit gewinnt in diesem Zusammenhang ihre Legitimation aus der Verwirklichung (sozialer) Bürgerrechte, die in Anlehnung an Thomas H. Marshall (1992) als historischer Prozess der Herausbildung von zivilen Schutzrechten, politischen Teilnahmerechten und sozialen Teilhaberechten verstanden werden kann. Da diese drei Elemente allesamt konstitutiv für den Bürgerstatus sind, muss Soziale Arbeit, die in erster Linie soziale Teilhaberechte zu gewährleisten hat, notwendigerweise auch die ersteren beiden Rechtsformen berücksichtigen, indem sie die Autonomie der Lebenspraxis ihrer Adressaten anerkennt und politische Partizipationsmöglichkeiten in ihrem eigenen institutionellen Rahmen verankert.

Ist die alltägliche Lebensführung Ausgangspunkt Sozialer Arbeit, so benötigt sie ein wissenschaftlich ausgearbeitetes Verständnis der widersprüchlichen Einheit von Alltag und Alltäglichkeit, wie es im Konzept Lebensweltorientierung (vgl. Thiersch 1992) bereits angelegt ist: die alltäglichen, routinisierten Handlungs- und Interpretationsmuster bieten den Menschen Orientierung, Sicherheit und Entlastung, können aber zugleich in ihrer Unbeweglichkeit und Borniertheit die Gestaltung des eigenen Lebens einengen und behindern. Zudem sind in biographischer Hinsicht im Alltag genauso vergangene Möglichkeiten und Lebenspläne in ihrem Gelingen oder Scheitern aufgehoben, wie zukünftige Möglichkeiten und alternative Lebensvorstellungen als Hoffnungen und Träume darin angelegt sind und darüber hinaus drängen. Alltag wird damit in seiner grundsätzlichen Ambivalenz von ›Pseudokonkretheit‹ (Kosík) bzw. ›Doxa‹ (Bourdieu) und ›Praxis‹ verstanden, d.h. in seiner veräußerlichten, scheinbar verselbständigten und selbstverständlichen Erscheinungsform und seiner tätigen, subjektkonstituierenden Aneignung und Veränderung der gesellschaftlichen Welt. Auf diese Ambivalenz bezieht sich die lebensweltorientierte Soziale Arbeit, wenn sie in emanzipatorischer Absicht auf einen ›gelingenderen Alltag‹ dringt (vgl. Thiersch 1986, 36).

Alltag stellt sich allerdings nicht einfach beliebig her, sondern ist rückgebunden an einen konkreten sozialen und gesellschaftlichen Ort - also an eine Stellung in der Gesellschaft - der den Subjekten bestimmte Ressourcen für die Alltagsbewältigung zur Verfügung stellt oder vorenthält, konkrete gesellschaftliche Gestaltungs- und Ausdrucksmöglichkeiten einräumt oder verweigert. Auf diese Weise schlagen sich im Alltag auch die gesellschaftlichen Gegensätze und Widersprüche des Neoliberalismus in Form von subjektiven Konflikten und Schwierigkeiten nieder.

Für die Praxis der Sozialen Arbeit resultiert daraus, dass sie sich nicht allein auf die subjektiven Bewältigungsstrategien im Alltag der Menschen beziehen kann, sondern auch die Widersprüchlichkeiten und Widerständigkeiten zu thematisieren hat. In diesem Sinne fordert Bitzan (2000, 343f) eine stärkere Konfliktorientierung, die die im Alltag enthaltenen Konflikte zuallererst an die Oberfläche holt und damit verhandelbar, bearbeitbar und öffentlich artikulierbar macht. Dabei stellen die Widersprüche und Ungereimtheiten im alltäglichen Leben einen zentralen Schlüssel für die subjektiven Bedürfnisse und Wünsche dar, die es aufzudecken und zur Sprache zu bringen gilt. Gleichzeitig erscheinen Bewältigungsstrategien als ambivalent, indem sie einerseits eine Lösung von Konflikten, andererseits die Verhinderung alternativer Optionen darstellen. Insofern geht es auch darum, die bei der Konfliktlösung unterlegene Seite, also die bislang nicht realisierten Wünsche und Hoffnungen, zur Geltung zu bringen und damit die Handlungskompetenz der Betroffenen zu stärken.

Wenn Lebensweltorientierung darauf zielt, Konflikte in der alltäglichen Lebensführung zu überwinden, dann muss sie wegen ihrer Anwaltschaft für die Adressaten auch die Grenzen ihrer Zuständigkeit erweitern. Es geht nicht alleine um Einmischung auf regionaler und lokaler Ebene, sondern auch um politische Strukturprogramme (vgl. Thiersch 1992, 35). Will Soziale Arbeit dabei nicht lediglich die ihr im Neoliberalismus zugewiesene Funktion des ›Geschirr kittens‹ einnehmen, dann wird sie sich öffentlich und radikal kritisch mit den politisch wirksamen Theoretikern der »Neuen Sozialen Marktwirtschaft« (vgl. Rodenstock 2000) und deren Menschenbild eines autonom handelnden, gleichberechtigten, selbstverantwortlichen und solidarischen Bürgers auseinandersetzen müssen.

 

Literatur:

Bitzan, Maria, »Konflikt und Eigensinn. Die Lebensweltorientierung repolitisieren«, in: Neue Praxis, 30. Jg., 2000, H. 4, 335-46

Bitzan, Maria, u.a., »Elemente einer kritischen Theorie und Praxis Sozialer Planung«, in: E. Bolay u. F. Herrmann (Hg.), Jugendhilfeplanung als politischer Prozess, Neuwied 1995, 9-32

Boeßenecker, Karl-Heinz, »Die freie Wohlfahrtspflege auf dem Prüfstand (III). Marktorientierung in der Sozialen Arbeit ohne Alternative?«, in: Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit, 50. Jg., 1999, H. 2, 43-7

Böhnisch, Lothar, u. Walter Schefold, Lebensbewältigung. Soziale und pädagogische Verständigungen an den Grenzen der Wohlfahrtsgesellschaft, Weinheim-München 1985

Dahme, Heinz-Jürgen, u. Norbert Wohlfahrt, »Aktivierender Staat. Ein neues sozialpolitisches Leitbild und seine Konsequenzen für die soziale Arbeit«, in: Neue Praxis, 32. Jg., 2002, H. 1, 10-32

Galuske, Michael, Das Orientierungsdilemma: Jugendberufshilfe, sozialpädagogische Selbstvergewisserung und die modernisierte Arbeitsgesellschaft, Bielefeld 1993

Hamburger, Franz, »Zeitdiagnose zur Theoriediskussion«, in: H. Thiersch u. K. Grunwald (Hg.), Zeitdiagnose Soziale Arbeit. Zur wissenschaftlichen Leistungsfähigkeit der Sozialpädagogik in Theorie und Ausbildung, Weinheim-München 1995, 11-25

KGSt (Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung), Outputorientierte Steuerung der Jugendhilfe, Bericht Nr. 9, Köln 1994

Marshall, Thomas H., Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur Soziologie des Wohlfahrtsstaates (1950), Frankfurt/M-New York 1992

Muetzelfeldt, Michael, »Profession und Neues Management in den Sozialen Diensten. Die Auswirkungen der Organisationsformen auf die Klienten«, in: Widersprüche, Nr. 77, 20. Jg., 2000, 45-62

Otto, Hans-Uwe, u. Stefan Schnurr, »›Playing the Market Game?‹ - Zur Kritik markt- und wettbewerbsorientierter Strategien einer Modernisierung der Jugendhilfe in internationaler Perspektive«, in: dies. (Hg.), Privatisierung und Wettbewerb in der Jugendhilfe. Marktorientierte Modernisierungsstrategien in internationaler Perspektive, Neuwied-Kriftel 2000, 3-20

Rodenstock, Randolf, Chancen für Alle. Die Neue Soziale Marktwirtschaft, Köln 2000

Schaarschuch, Andreas, Zwischen Regulation und Reproduktion. Gesellschaftliche Modernisierung und die Perspektiven Sozialer Arbeit, Bielefeld 1990

Schaarschuch, Andreas, »Das demokratische Potenzial Sozialer Arbeit«, in: Heinz Sünker (Hg.), Theorie und Politik Sozialer Arbeit, Bielefeld 1994, 48-71

Schaarschuch, Andreas, »Integration ohne Ende?«, in: R. Treptow u. R. Hörster (Hg.), Sozialpädagogische Integration. Entwicklungen, Perspektiven und Konfliktlinien, Weinheim-München 1999, 57-68 (zit. Schaarschuch 1999a)

Schaarschuch, Andreas, »Theoretische Grundelemente Sozialer Arbeit als Dienstleistung. Ein analytischer Zugang zur Neuorientierung Soziale Arbeit«, in: Neue Praxis, 29. Jg., 1999, H. 6, 543-60 (zit. Schaarschuch 1999b)

Thiersch, Hans, Die Erfahrung der Wirklichkeit. Perspektiven einer alltagsorientierten Sozialpädagogik, Weinheim-München 1986

Thiersch, Hans, Lebensweltorientierte Soziale Arbeit, Weinheim-München 1992

White, Vicky, »Profession und Management. Über Zwecke, Ziele und Mittel in der Sozialen Arbeit«, in: Widersprüche, Nr. 77, 20. Jg., 2000, 9-27

 

DAS ARGUMENT 256/2004, S.534- 541