…werden Parlamente gewählt. Zuviel erwarten sollte mensch sich davon nicht.
2009 ist das „Superwahljahr". Es scheint, als hätten die
Menschen in Deutschland ganz schön viel zu wählen: Kommunalwahlen in
vielen Bundesländern, die Wahl zum Europäischen Parlament am 7. Juni
und schließlich die Bundestagswahl im September. Bloß: Haben wir
überhaupt eine richtige „Wahl"?
Das politische System in Deutschland nennt sich „parlamentarische
Demokratie". Die BürgerInnen geben alle paar Jahre einer Handvoll
Menschen ihre Stimme, die sie dann zu allen möglichen Fragen
repräsentieren sollen. Es wird also eine Vertretung ausgesucht, die
sich um die Belange aller zu kümmern hat. Das klingt irgendwie
merkwürdig: die eigene Stimme abgeben. Es beschreibt aber ziemlich
genau, was im Parlamentarismus passiert: Mit der Wahl und der Abgabe
ihrer Stimme ist für die meisten BürgerInnen die politische Aktivität
dann auch schon wieder für einige Jahre vorbei. Denn nach der Wahl
entscheiden ja die Abgeordneten, was gemacht wird und was nicht.
In Deutschland haben die Abgeordneten ein freies Mandat. Das heißt, sie
sind nicht an Aufträge oder Weisungen gebunden und nur ihrem Gewissen
unterworfen; so steht es im Grundgesetz. Stutzig macht da nur, dass das
Handeln mancher Abgeordneter durchaus an Weisungen gebunden zu sein
scheint - jedoch nicht an die ihrer WählerInnen, sondern von ganz
anderen, viel „mächtigeren" Gruppen: Lobbyisten, Verbände und Vereine,
Handel, Industrie und Wirtschaft mischen sich - nicht zuletzt durch
Parteispenden - in politische Entscheidungen ein und werden vor der
Gesetzgebung um ihre Meinung oder ihren Rat gebeten. Und dass deren
Interessen nicht unbedingt dem Gemeinwohl dienen, hat sich auch schon
herumgesprochen.
Zu dumm für direkte Demokratie?
Oft wird behauptet, die Menschen seien „einfach noch nicht reif" für
Formen direkter Demokratie, zu wenig gebildet, besäßen zu wenig
Spezialwissen, als dass man beispielsweise mehr Volksabstimmungen über
neue Gesetze durchführen könnte oder sie selbst die Gesetze schreiben
ließe. Die Frage ist nur: Warum sollten BerufspolitikerInnen für
wichtige Entscheidungen besser geeignet sein? Wie viel Spezialwissen
braucht es für grundsätzliche Entscheidungen? Und: Wenn die Menschen
„zu dumm" sind für direkte Demokratie - wie sollen sie dann
verantwortungsvoll ParlamentarierInnen wählen können?
Begründet wird das Defizit an direkter Demokratie meist damit, dass es
unmöglich sei, diese praktikabel auf einem größeren Gebiet, wie z.B. in
ganz Deutschland, umzusetzen - der Aufwand wäre zu hoch, wenn über
alles und jedes erst die Meinung aller Bürgerinnen und Bürger eingeholt
werden müsse. Fraglich bleibt dabei aber, ob es überhaupt besonders
viele Angelegenheiten zentralistisch geregelt werden müssten oder ob
nicht viele Beschlüsse dezentral und auf „niedrigeren" Ebenen getroffen
werden können, damit letztlich die entscheiden können, die direkt
betroffen sind. Dafür bedarf es aber des politischen Willens und der
Institutionen, die es den Menschen erst ermöglichen,
direktdemokratische Teilhabe verantwortungsvoll zu praktizieren.
Im bestehenden repräsentativen System sind viele Menschen unzufrieden
mit der Politik der Parteien, die sie gewählt haben. Trotzdem gehen sie
wieder zur Wahl und wählen „das kleinere Übel". Viele halten das System
auch für ungerecht: Die Besetzung des Bundestages, in dem fast nur
Studierte und BeamtInnen sitzen, spiegelt keinesfalls die
Bevölkerungsstruktur wider. Zudem ist es fast unmöglich, ohne
„Beziehungen" überhaupt nur als KandidatIn aufgestellt zu werden.
Andere Demokratieformen sind möglich!
Trotzdem denkt kaum jemand daran, demokratische Teilhabe zu probieren,
die nicht mit den Institutionen „Partei" und „Parlament" verbunden ist.
Dabei gibt es konkrete Ideen, wie diese aussehen könnte: radikal- bzw.
basisdemokratische Modelle sind von mehreren Theoretikerinnen und
Theoretikern entwickelt worden und manche wurden sogar bereits
ausprobiert (teilweise jedoch mit geringen repräsentativen Elementen),
zum Beispiel bei den AnarchistInnen während des spanischen Bürgerkriegs
in den 1930er Jahren oder in der Münchner Räterepublik 1919. Jedoch
wurden solche Versuche relativ schnell wieder zum Scheitern gebracht,
meist durch diejenigen, die bei hoher Mitbestimmungsbefugnis des Volkes
Angst hatten, ihre Macht und ihren Reichtum zu verlieren.
Die Ideen lassen sich aber im alltäglichen Zusammenleben umsetzen. Wo
nach dem Konsensprinzip entschieden wird, kann besser gearbeitet
werden, weil alle mit dem Beschluss einverstanden sind; wo keine
„AnführerInnen" gewählt werden, können Hierarchien und somit
Ungleichheiten vermieden werden. Ob mensch dann trotzdem noch an den
Wahlen für das repräsentative System teilnimmt, muss jede und jeder
selbst entscheiden. Ein Wahlboykott kann ein wichtiges Zeichen für die
Unzufriedenheit mit dem Parlamentarismus sein. Andererseits ist auch
die parlamentarische Demokratie eine Errungenschaft, die hart erkämpft
werden musste. Auf jeden Fall sollten wir Methoden entwickeln, anwenden
und bekannt machen, mit Hilfe derer wir das Zusammenleben
demokratischer und mit mehr Teilhabe aller organisieren können.
Denn wer will immer nur - alle Jahre wieder - die eigene Stimme abgeben müssen?
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