Zur Frage nach der Gestalt des engagierten Intellektuellen

I. Wie steht es heute mit den kritischen Intellektuellen, in der Zeit der Telekratie, des Internet und im historischen Augenblick der großen Krise?

Noch vor wenigen Jahren wurde diese Gestalt für tot erklärt oder, unter Berufung auf Michel Foucaults Absage an die »übergreifenden Diskurse« (1999, 17) und »umfassende und globale Theorien« wie Marxismus und Psychoanalyse (14) mit einer Art Ächtung belegt. Und da sie noch lebt, kommt im herrschenden Journalismus kein Bericht über eine linke Versammlung ohne den Hinweis aus, dass die meisten Teilnehmer graue Haare hatten, womit die Sache, um die es ging, als veraltet stigmatisiert ist. Der fünfzigste Geburtstag des Argument, das unter den deutschen Zeitschriften vielleicht das Organ der kritischen Intellektuellen par excellence ist, gibt Anlass, über deren Handlungsbedingungen, Aufgaben und Perspektiven neu nachzudenken.

Unauslöschlich vor Augen steht mir eine Szene, die sich 1981 bei einem Kongress in Mexiko abgespielt hat. Der Redner, einer der bekannteren französischen maîtrepenseurs, warf die Arme wie Charles de Gaulle V-förmig nach oben und verkündete in dominatorisch-appellativer Rhetorik, mit der Gestalt des Orientierung gebenden Intellektuellen sei es zu Ende. Der Gestus dementierte den Inhalt seiner Rede. In den 1990er Jahren pfiffen dann auch die kleineren intellektuellen Spatzen von den Flachdächern der Konzerne, die Zeit der Intellektuellen sei vorbei, ja sie hätten uns ins Unglück gestürzt mit ihren Utopien. »Die Idee, dass ein Intellektueller mehr zur Organisation der Gesellschaft zu sagen hat als ein Blumenhändler, ist gestorben«, verkündete der Leiter des Französischen Kulturinstituts in Berlin, Bernard Genton, auf der Tagung des P.E.N.-Zentrums Ost. In diesem Sinn kommentierte auch Sabine Brandt die auf andere Weise abrechnende Parole, die Intellektuellen hätten bei der Wiedervereinigung versagt, mit den Worten: »Wer spricht vom Versagen der Briefträger?« In dieselbe Kerbe hieb Gustav Seibt im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit seiner »Neubestimmung der politischen Rolle des Intellektuellen«. Und zwar entkleidete er diesen aller Besonderheit: »Seine Rolle unterscheidet sich in nichts von der anderer Bürger desselben Staatswesens.« Doch woher wussten die Seibt, Brandt, Genton und tutti quanti, dass Intellektuelle keinen anderen Bezug zum Gemeinwesen unterhalten als jeder Blumenhändler oder Briefträger? Und wussten das auch ihre Blumenhändler und Briefträger? Oder könnte es sein, dass jeder, der sich auf Fragen der Organisation der Gesellschaft besonders einlässt und damit auf andere wirkt, eben hierdurch in eine intellektuelle Funktion eintritt, sei er nun Blumenhändler, Softwarespezialist oder Arzt? So hat Antonio Gramsci die Frage der Intellektuellen gestellt.

Die Funktion, durch deren Ausübung Individuen zu Intellektuellen werden, ist eine politisch-kulturelle. Gramsci deutet sie in dem Satz an: »Eine menschliche Masse ›unterscheidet‹ sich nicht und wird nicht ›per se‹ unabhängig, ohne sich (im weiten Sinn) zu organisieren, und es gibt keine Organisation ohne Intellektuelle« (Gefängnishefte, H. 11, §12). Organisation meint hier selbstbewussten Zusammenhalt, der in der Perspektive eines mehr oder weniger ausgearbeiteten Entwurfs von Gesellschaft eine Gruppe oder Klasse handlungsfähig macht. An solchen Konzeptionen mitzuformen und für sie zu werben heißt, in die Auseinandersetzung um politisch-kulturelle Hegemonie einzugreifen. Hierbei mitzuwirken, macht für Gramsci die ›organischen Intellektuellen‹ aus, wie das Ringen um Hegemonie zugleich das Sinnzentrum der Zivilgesellschaft bildet.

Als das Verschwinden der organischen Intellektuellen im Zeichen des Postkommunismus ausgerufen wurde, wussten die meisten intellektuellen Mitspieler vermutlich nicht, was sie taten. Der ungarische Philosoph Ferenc Fehér pries im Eifer des Gefechts Vaclav Hável als Beispiel eines »unorganischen Intellektuellen«. Jorge Semprun meinte, organische Intellektuelle seien primär »Parteien und Regierungen eng verbunden« und als solche überholt. Er irrte doppelt. Die Staats- und Partei- Intellektuellen verschwinden nicht, und organische Intellektuelle im Sinne Gramscis sind primär gesellschaftlichen Gruppen verbundene Akteure der Zivilgesellschaft.

Sie sind keine Experten, die zahlenden Auftraggebern fachspezifische Einschätzungen in der Art von Gutachten liefern. Im Gegenteil, sie stören die Expertokratie. Individuen müssen die Grenzen ihres Berufes, ihrer fachlichen Spezialisierung und zugleich die der Privatheit überschreiten, um Intellektuelle zu werden. Intellektueller ist nicht bloß ein weiteres Steinchen im horizontalen Mosaik der Berufe. Es ist weder Beruf noch formeller Bildungsgrad, auch wenn es oft »hochgradige Kompetenz innerhalb eines bestimmten, entweder wissenschaftlichen, philosophischen oder künstlerischen Gebiets« ist, von der aus Intellektuelle, wie Sven-Eric Liedman sagt, »Stellung zu allgemeinen Fragen von politischer oder allgemein menschlicher Tragweite nehmen« (Arg. 211/1995, 657). Eine solche Frage von politischer oder allgemein menschlicher Tragweite ist die Frage nach den Intellektuellen. Und jene Intellektuellen zweiter Ordnung, die als Orientierungsgeber anderer Intellektueller auftreten, um eben diese intellektuelle Funktion zu diskreditieren, reproduzieren den Selbstwiderspruch und Selbstverrat aller aufgeklärten Gegenaufklärer.

II.

Platon kann der Stammvater des intellektuellen Antiintellektualismus genannt werden. Den Namen der Protagonisten der klassischen griechischen Aufklärung, Sophisten, hat er zum Schimpfwort gemacht. In seiner normativen Staats- und Gesellschaftslehre verdammt er das über die Grenzen der je eigenen Stellung im System der Arbeitsteilung aus- und in allgemeine Belange eingreifende Denken und Handeln unter den Namen polypragmosyne und allotriopragmosyne (Politeia, 444b) – Schleiermacher übersetzt mit Vieltuerei bzw. Fremdtuerei. Die Viel- und Fremdtuer verstoßen gegen die herrschaftliche Ordnung, die sich als eine von Zuständigkeiten (Kompetenzen) und Unzuständigkeiten (Inkompetenzen), hierarchischen Befugnissen über einer Masse von Unbefugten beschreiben lässt. Letztlich geht es darum, die Herrschaft den Herrschenden zu überlassen. Entsprechend ist Gerechtigkeit für Platon keine soziale, vom gleichen Recht aller Individuen auf Teilhabe an den gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten ausgehende Zielvorstellung, sondern nur ein anderer Name dafür, dass alle das ihrer Stellung Zukommende tun und sich in nichts einmischen, was sie nichts angeht. Auf dem Spiel steht der Vernunftgebrauch.

Emanzipatorische Bewegungen wie die Achtundsechziger und neuerdings die globalisierungskritische Bewegung durchbrechen diese Absperrungen. Sie setzen kritisch-intellektuelle Potenzen frei und machen ernst mit dem Anspruch der Zivilgesellschaft auf gesellschaftliche Selbstbestimmung. Umgekehrt setzen die Konservativen und Reaktionäre alles daran, diesen Anspruch zu delegitimieren und die Aus- und Aufgebrochenen wieder zu zerstreuen und einzuspannen. Die Konversion der Achtundsechziger bietet ein Beispiel, wie schließlich »mit der Themen- und Verfahrenspolitik der postmodernen Eingemeindungsstrategie in den späten 70er und 80er Jahren und ihrer ambivalenten Pflege der Diversity diese linken Vorstöße ins Private und neue Öffentliche konterkariert werden [konnten ...]. Das war übrigens keine Sache einer neuen politischen Generation, sondern Resultat einer erfolgreichen Politik korrumpierender Renormalisierung [...], die gleichsam ständige Aufnahmeprüfung der neuen, bereits uneinholbar zeitgewandten post-68er Kohorten in die Belohnungskultur einer bundesdeutschen herrschenden Klasse« (Rilling 2008, 199).

Anlässe zur intellektuellen Überschreitung nach links, ins soziale Engagement, gab es, während der zynisch resignierte Leichtsinn der Postmoderne den Zeitgeist prägte, mehr als genug. Doch die progressiven Intellektuellen, »Unglücksboten«, rückten, wie der Zapatistenführer Marcos bemerkt hat, ins Visier der »Panzerglastürme der Hegemonie des Geldes« als Objekte, die, wenn nicht zu kaufen, dann zu zerstören sind.1 Sie sind Unglücksboten, weil sie die konsumistische Euphorie stören und weil sie denen, die »keine Stimme haben«, den »Gesichtslosen«, a los sin cara y sin voz, Stimme und Gesicht leihen. Sie betreiben Auf-Klärung in dem Sinn, den Karel Kosík diesem Wort gegeben hat: Klärung, die ebenso aufrichtig wie aufrichtend von unten nach oben leuchtet. Verkünden dagegen Intellektuelle von oben herab das ›höhere‹ Wissen, fördern sie intellektuelle Subalternität und tragen so zur allgemeinen Subalternität bei. Ihre Intellektualismen beschaffen der hierarchischen Arbeitsteilung Kredit und legitimieren damit zugleich die strukturähnliche Beziehung zwischen regierenden Repräsentanten und Repräsentierten. Demokratische Intellektuelle werden gegen diesen Subalternitätseffekt unermüdlich anarbeiten. Man erkennt sie daran, dass sie Fähigkeiten weitergeben, hinter die Kulissen führen und sich selbst entbehrlich machen (was sie freilich kraft einer unentrinnbaren Dialektik erst recht unentbehrlich macht).

Vor einigen Jahren, als der kurze Sommer der New Economy zu Ende ging, gefolgt vom Krach auf Raten, hat der Chefökonom der Europäischen Zentralbank den epochal übergreifenden Anlass zur intellektuellen Überschreitung nach links modo negativo benannt. Er rief nach verstärkten Anstrengungen zur Legitimation der Globalisierung angesichts wachsenden Widerstands. Bei diesem Widerstand handelt es sich nach seiner Einsicht um »einen endogenen, zwangsläufigen Vorgang«. Er entzündet sich an drastisch wachsender Ungleichheit: »In einem Umfeld großer Gewinne werden die Verlierer – im relativen wie im absoluten Sinne – die Einbußen um so schmerzlicher empfinden.« Intellektuelle sind in seiner Vorstellung interessanterweise immer kritisch. Daher kann er den kapitalistischen Block warnen: »Jetzt bietet sich für viele Intellektuelle eine neue willkommene Gelegenheit, die Kritik der Marktwirtschaft auf die sozusagen höhere Ebene der Weltperspektive zu transponieren.« Es kommt ihm nicht in den Sinn, dass sein Aufruf zu neuer ideologischer Anstrengung sich auch an Intellektuelle, eben an solche der herrschenden Mächte und Interessen, richtet. Diejenigen jedoch, die sich nicht mit dem Bankkonto, sondern mit Herz und Vernunft zu den gesellschaftlichen Lebensbedingungen verhalten, sollten sich das nicht zweimal sagen lassen. Denn das Umfeld großer Gewinne, in dem die Verlierer die Einbußen schmerzlich empfinden, hat im Moment der Weltfinanzkrise Dimensionen erreicht, die zum Himmel schreien. Doch der Himmel ist leer. Die Botschaft muss gesellschaftlich kommuniziert, theoretisch unterbaut und praktisch gewendet werden.

Zuletzt hat der Zusammenbruch des sowjetischen Demokratisierungsprojekts und damit des europäischen Staatssozialismus sowie der damit besiegelte Triumph des Neoliberalismus eine Rekonversion größten Maßstabs veranlasst. In ein und demselben Aufwasch verschwanden aus der herrschenden Weltsicht nicht nur die kritischen Intellektuellen und die sozial engagierten Künstler, nicht nur der Geist der Utopie, sondern, unter sich überstürzender Mittäterschaft der Mainstream-Intellektuellen, die Aufklärung mitsamt der Französischen Revolution, den Klassen, den feministischen Befreiungshoffnungen, der Kritik, dem Widerspruch, der Negation ja schließlich sogar der Wahrheit und der Wirklichkeit selbst, mit denen sich der Einspruch gegen diesen tollen Kehraus hätte artikulieren können. Das war die Zeit, in der das Kapital sich von Spekulationsblase zu Spekulationsblase fiktiv aufblähte, während die intellektuellen Konjunkturritter die Welt als Schneeballsystem imaginierten. Damit hat die große Krise Schluss gemacht. Sie hat die Abschaffungen abgeschafft. Wahrheit und Wirklichkeit haben sich zurückgemeldet. Allenthalben melden sich die kritisch-intellektuellen Potenzen zurück. »Was Aktienbesitzern jetzt schwant, dass sie nach Jahren der Akkumulation nichts mehr besitzen, gilt ebenso für unser Handeln und Denken.« Das schrieb im Oktober 2008, als man sich nicht mehr verhehlen konnte, dass der große Zusammenbruch da war, Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der FAZ, dem deutschen Bürgertum ins Stammblatt. Auch gut-bürgerliche Intellektuelle riefen nun zur »Rettung des intellektuellen Engagements « (Cebrián 2008).

III.

Was intellektuelles Engagement bedeuten konnte, lässt sich am Beispiel Erich Wulffs studieren. Als Psychiater überschritt er die Grenzen seines Faches nicht nur ins allgemein Gesellschaftliche, sondern riskierte – im Unterschied zu einer linksintellektuellen Gestalt wie Adorno – den Schritt in politische Praxis und dabei, im Südvietnam des Krieges, auch sein Leben. Zuerst half er den vom katholischen Diktator verfolgten Buddhisten, dann der Befreiungsfront. Zurück in der Bundesrepublik kandidierte er, um ein Zeichen zu setzen, auf einer linken Liste für den Bundestag und trat an die Spitze des Antiimperialistischen Solidaritätskomitees. In die Politik brachte er den ethnologischen Blick des Psychiaters, wie er in die Psychiatrie den gesellschaftlich-politischen Sinn und die transkulturelle Erfahrung einbrachte. Vor dem Russell-Tribunal legte er Zeugnis ab über den Krieg der USA in Vietnam. Seine Vietnamesischen Lehrjahre bezogen die wache Intelligenz Deutschlands in eine prägende éducation sentimentale et politique ein und trugen dazu bei, es ihr unmöglich zu machen, die Invasion Vietnams nicht abzulehnen. Nach dem fluchtartigen Abzug der Amerikaner und dem Zusammenbruch des von ihnen gestützten Regimes schilderte sein Bericht von einer erneuten Reise nach Vietnam schonungslos die das ›befreite‹ Land lähmende Repression seitens der kommunistischen Sieger. Kurz, er scheute auch als Vorsitzender der Deutsch-Vietnamesischen Freundschaftsgesellschaft nicht den Bannfluch, von dem er wusste, dass er den treffen würde, der die staatssozialistische Misere aussprach. Zum Glück durfte er erleben, dass zumindest in Vietnam aus den Fehlern gelernt wurde und dass ihm in der Folge nicht nur der vietnamesische Staat, sondern auch die Buddhisten Vietnams ihre Dankbarkeit erwiesen.

Da eine solche – auf je verschiedene Weise auch von Sartre und Russell, Anders und Gollwitzer, Bourdieu und John Berger (um nur diese zu nennen) vorgelebte – Haltung unter neoliberaler Ägide verleumdet oder unkenntlich gemacht worden ist, aber auch weil sich Bedingungen, Situation und Perspektiven mit den hochtechnologischen Produktivkräften von Information und Kommunikation verändert haben, ist es angezeigt, sie zu überdenken.

Mit dem Intellektuellenbegriff allein, sei es auch dem funktionalen von Gramsci, ist es dabei nicht getan. Nicht nur weil Intellektuelle, wie es bei Brecht heißt, gefährlich sind »wie Zigarren, die man an die Suppe schneidet«, das heißt, weil ihre Beteiligung am Ringen um Hegemonie die Tendenz entwickelt, dass ihre unvermeidliche Konkurrenz mit ihresgleichen sich verselbständigt; sondern auch weil alle gesellschaftlichen Klassen, Gruppen und Bewegungen ihre eigenen Intellektuellen ausbilden und weil der Macht oder dem Geld zu dienen sich mit Macht und Geld bezahlt macht. Im Reichssicherheitshauptamt soll es kaum eine Bürotür gegeben haben, an der nicht ein Doktortitel prangte. Der moderne Staat besteht, wie Georges Sorel bemerkt hat, aus einem corps von Intellektuellen, das »mit Sonderrechten ausgestattet ist und die Mittel besitzt, die man politische nennt, um sich gegen die Angriffe anderer Gruppen Intellektueller zu verteidigen, die darauf aus sind, sich selbst die Vorteile öffentlicher Ämter zu verschaffen«. Die Gestalt der nach Ämtern verlangenden Visitenkartendoktoren nebst der dazugehörigen Haltung ist gewiss nicht im Verschwinden begriffen, und mit ihr sind wir am Gegenpol zu derjenigen, um die es hier geht.

Was es immer wieder neu zu bestimmen gilt, ist die gesellschaftliche Verantwortung der Intellektuellen im magischen Dreieck von Wissenschaft, Kunst und Politik der sozialen Bewegungen und in der Spannung von Entwicklungschancen und ökologischer Nachhaltigkeit, kurz, das intellektuelle Ethos, dessen Preisgabe den ›Verrat der Intellektuellen‹ ausmacht. Ohne einen Begriff vom Kapitalismus und eine Vorstellung solidarischer Gesellschafts- und Naturverhältnisse ist dieses Ethos nicht zu füllen.

IV.

Die Intellektuellen verschwinden weder, noch büßen sie ihre Funktion ein. Was so erscheint, ist ihr Wandel in Funktionen und Physiognomien sowie die Veränderung ihrer Handlungsbedingungen und Einflussmöglichkeiten. Was Gramsci nicht kennen konnte, ist die Metamorphose der Hegemoniebildung und ihrer Akteure im Zeitalter der Telekratie und vollends des Internet. Wie der Übergang vom Stummfilm zum Tonfilm eine neue Generation von Stars hervorgebracht hat, so hat das Fernsehen den telegenen Intellektuellen und die Talk-Show hervorgebracht. Der vom Katheder verkündende ›Geist‹ ist marginalisiert, wenn auch nicht ganz verschwunden. Die kritisch-intellektuelle Überschreitung hat ihr affirmatives Gegenbild in Gestalt der kommerziellen Überschreitung des Wissenschaftlers gefunden, der mit einem Fuß im Labor und mit dem andern an der Börse steht. Was ist unter diesen Bedingungen, in denen die ›Medienintellektuellen‹ die Fernsehschirme bevölkern, während der »neue Typus des Wirtschafts-Intellektuellen [...] sich im Augenblick hoher Nachfrage erfreut«, aus den kritisch engagierten Intellektuellen geworden? Frank Schirrmacher, der diese Nachfrage im FAZ-Feuilleton, aus dem er im Überschwang der Dotcom-Blase die traditionellen Geisteswissenschaften hatte vertreiben wollen, zu Protokoll gibt, verblüfft in der Verwirrung des Moments mit der Behauptung, »der ›poète engagé‹ der Sartre-Welt [werde] in der Systemkrise zum ›économiste engagé‹« (2008).

Wie ändert sich die Physiognomie des kritisch-engagierten Intellektuellen angesichts der Wasserscheide, welche die Eingeborenen der digitalen Welt von den fremd zu dieser Welt hinzugekommenen Älteren trennt? Für unseren Zweck, zur Klärung des Selbstverständnisses der Akteure und Adressaten dieser Zeitschrift wie der anderen Druckmedien kritisch-wissenschaftlicher Öffentlichkeit beizutragen, ist diese Frage grundlegend. Wendet der intellektuelle Nachwuchs sich von den Druckmedien ab? Wird – in Zeiten von Blogs, Twitter oder Internet-Plattformen – der traditionelle Typ des literarischen, an die Schriftkultur gebundene Intellektuelle, den bereits die Fernseh-Intellektuellen marginalisiert haben, vom neuen Typ des Internet-Intellektuellen abgelöst, »der nicht auf die Selbstdarstellung und Nachhaltigkeit der einzelnen Äußerung setzt, sondern auf subversive und freie Bewegungen von spontanen Gruppen im Netz« (Metz/Seeßlen 2009)? Die durch die hochtechnologischen Medien und ihrer Infrastruktur, dem Internet, in Gang gesetzten Veränderungen bedeuten einen tiefen kulturgeschichtlichen Einschnitt. Aber statt dem vermeintlichen Untergang der Intellektuellen bringen sie neue Verkörperungen derselben hervor. Die intellektuelle Überschreitung feiert im Internet vielfach Auferstehung. Zwischen massenhaftem Datenmüll und kommerzieller Kolonisierung bilden sich immer neue autonome kommunikative Inseln, wo sich Unerschrockenheit und Witz mit naturwüchsiger Dialektik paaren. Das Ethos des Vernunftgebrauchs ist dieser digitalen Welt so wenig fremd wie sein Verrat. Wie sollte es auch anders sein? Auch Internet-Intellektuelle sind nichts an sich Gutes, und alle alten Charaktermasken tauchen in anderer Kostümierung wieder auf. Der hin- und herwogende Kampf ist kein in jeder Hinsicht anderer geworden, er wird nur anders geführt. Wie in jedem Hin- und Hergewoge wird auch hier die Begriffsfähigkeit auf eine harte Probe gestellt.

Die digitale Welt erleichtert diese Probe auf eine Weise, die sie zugleich erschwert. Diesseits des digital divide ist der Möglichkeit nach jeder Text von jedem Ort aus zugänglich. Anders als beim Buch entzieht die Entnahme ihn nicht dem Speicher. Während Buchdruck den Text stofflich seinem Träger einprägt und mit diesem auf Dauer fusioniert, prägt die Digitalisierung ihn seinem Träger energetisch ein, was die »unstoffliche Materialität der digitalen Objekte« charakterisiert (Haug 2003, 113). Im Unterschied zum Druck ist jede Speicherung löschbar. Es gibt nur Kopien von Kopien, und jede kann jederzeit von einer anderen überkopiert werden. Hier lassen sich die Grenzen von Raum und Zeit überspringen, und der Mangel scheint aufgehoben. Zugleich erfährt sich alles in die Momentaneität der vorübergehenden energetischen Speicherung gezogen, die, selbst wenn sie Jahre dauert und wenn die gespeicherten Texte mit starken Worten nicht sparen, keine Geschichte und keine starken Unterscheidungskriterien mehr kennt. Wer nach dem Internet zitiert, muss daher Tag und Stunde des Herunterladens angeben, weil alles jederzeit geändert worden sein könnte.

Wat skrivt, blivt. Der alte Spruch gewinnt unter diesen Umständen neue Bedeutung. Die historisch-kritische Denkfähigkeit kann auf das Medium des Bleibens, das Druckmedium, nicht verzichten. Wenn Gewaltherrschaft sich vom Inhalt von Büchern bedroht fühlt, muss sie diese einstampfen oder verbrennen lassen; in der digitalen Welt lassen sie sich jederzeit unbemerkt austauschen. Freilich lässt sich der Druck leichter kontrollieren als die Zirkulation kritischer Botschaften im Internet. Doch dass nach einmal erfolgtem Druck keine Änderung mehr möglich ist, macht alles wirklicher. Dieses Medium und die kritischen Intellektuellen brauchen einander als wechselseitige Daseinsbedingungen, wie auch beide ohne Internetkompetenz nicht mehr auskommen.

Literatur

Cebrián, Juan Luis, »América vuelve a ser América«, in: El País, 6.11.08, 35

Foucault, Michel, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France (1975- 76) (1997), Frankfurt/M 1999

Gramsci, Antonio, Gefängnishefte, Kritische Gesamtausgabe, hgg. v. K.Bochmann, W.F.Haug u. P.Jehle, Hamburg 1991ff

Haug, Wolfgang Fritz, High-Tech-Kapitalismus, Hamburg 2003

Issing, Otmar, »Globalisierung ist nie Gemütlichkeit«, in: FAZ, 19.5.01, 15

Kosík, Karel, »Kapitulantentum à la München?«, in: Freitag, 8.1.1993, Nr. 2, 3

Marcos, Subcomandante, »Le fascisme libéral«, in: Le Monde diplomatique, 47. Jg., August 2000, 1 u. 14f

Metz, Markus, u. Georg Seeßlen, »Bürger, Antibürger, Intellektuelle (3) – Plädoyer für die Rettung einer gefährdeten Position«, Bayrischer Rundfunk, 17. März 2009

Rilling, Rainer, »Es gab viele 68 …«, in: Utopie kreativ 209, März 2008, 197-201

Schirrmacher, Frank, »Gehen Sie jetzt nach Hause!«, in: FAZ, 24.11.08, 33

Seibt, Gustav, »Die Ohnmacht der Schriftsteller«, in: FAZ, 7.10.1993, 1