Am 9. November 2008 lag die deutsche Novemberrevolution neunzig
Jahre zurück. Über ihren historischen Platz und die Rolle der Sozialdemokratie
in ihr ist viel gestritten und geschrieben worden. Sebastian Haffner
hatte in seinem 1968/69 verfaßten Text, der erst als Serie im Stern,
dann als Buch erschien (Die verratene Revolution – Deutschland 1918/
1919), ausgeführt, daß die Revolution, die damals in Deutschland stattfand,
eine sozialdemokratische war. Genau »die Revolution, die die Sozialdemokratische
Partei fünfzig Jahre lang vorausgesagt und gefordert,
auf die sie ihre Millionen Anhänger vorbereitet und als deren Organ sie
sich ihnen ihr Leben lang angeboten hatte«.
Deutschland war im Kriege und hatte ihn verloren. General Ludendorff,
der eigentliche Kopf der deutschen Kriegsführung im Ersten Weltkrieg,
war am 29. September 1918 zu der Entscheidung gelangt, daß die
zivilen Kräfte, die Reichsregierung und die Mehrheit der Parteien im Parlament, die Westmächte um Waffenstillstand bitten sollten. Die Westfront
war nicht mehr zu halten; er hatte vor, die Armee zu retten und vom Makel
der Niederlage freizuhalten. Die Führung der Hochseeflotte allerdings
wollte Ende Oktober nicht einfach klein beigeben, sondern die Flotte
auslaufen lassen, um es noch zu einer großen letzten Schlacht gegen die
britische Flotte kommen zu lassen. Die Matrosen etlicher Schiffe meuterten,
wollten das Ende des Krieges erleben und nach Hause. Die Schlacht
wurde abgeblasen und die Meuterei niedergeschlagen. Über tausend Matrosen
wurden am 1. November 1918 nach Kiel in Militärgefängnisse geschafft,
um vor das Kriegsgericht gestellt und erschossen zu werden. Die
anderen Matrosen wollten dies verhindern, diskutierten an den nächsten
Tagen, was zu tun sei, und rafften sich schließlich zur Tat auf. Am 4. November
wurden Soldatenräte gewählt und die rote Fahne auf den Schiffen
gehißt. Am Abend war Kiel in der Hand der aufständischen Matrosen
und Marinesoldaten.
Nun mußten sie die Flucht nach vorn antreten, wenn ihr Aufbegehren
nicht niedergeschlagen werden wollte. Am 5. November erfaßte die
Revolution Lübeck, am 6. Hamburg, Bremen und Wilhelmshaven, am
7. Hannover, Oldenburg und Köln, am 8. alle westdeutschen Großstädte
und auch Leipzig und Magdeburg. So entstehen Revolutionen, nicht an
den Reißbrettern von Avantgarden. Am 9. November kam die Revolution
in Berlin an. Um die Mittagszeit sammelte sich eine große Menschenmenge
vor dem Reichstag und rief: »Nieder mit dem Kaiser! Nieder mit
dem Krieg!« Die Republik wurde gefordert. Aufgeschreckte Abgeordnete
stürzten auf Ebert und Scheidemann zu, die beiden Vorsitzenden der Sozialdemokratie,
und forderten, sie sollten zu der Menge sprechen. Ebert
weigerte sich. Scheideman trat ans Fenster und rief: »Es lebe die deutsche
Republik!«
Diese Szene ist allgemein bekannt. Weniger bekannt ist, daß Ebert
ihn deshalb beschimpfte und meinte, er hätte dazu kein Recht gehabt.
Stunden zuvor hatte sich Ebert die Vollmachten des Reichskanzlers
übertragen lassen, allerdings nicht um der Revolution Ausdruck zu geben,
sondern um sie überflüssig zu machen. Zu Prinz Max von Baden,
seinem Vorgänger im Amt, hatte er in jenen Tagen über die soziale Revolution
gesagt: »Ich aber will sie nicht, ja, ich hasse sie wie die Sünde.«
So paktierten er und die von ihm geführte Regierung mit der Armeeführung
und den entstehenden Freikorps, die die revolutionären Matrosen
und Arbeiter zusammenschossen; im Januar 1919 wurden Rosa Luxemburg
und Karl Liebknecht, die Führer der deutschen Linken, durch
Angehörige regulärer Truppen ermordet. Haffner schrieb dazu: Diese sozialdemokratischen
»Führer benutzten, nachdem sie sich von der Revolution
die Staatsgewalt hatten übertragen lassen, diese Gewalt, um dieRevolution – ihre eigene, lange verheißene, endlich Wirklichkeit gewordene
Revolution – blutig niederzuschlagen.« Er nennt dies einen Vorgang,
der in der Weltgeschichte kaum seinesgleichen hat.
Nun sind die Ereignisse in Hessen Anfang November mit jenen dramatischen
Tagen vor neunzig Jahren kaum zu vergleichen. Aber die politische
Bruchlinie ist dieselbe. Der Spiegel schrieb dazu kürzlich: »Das
größte Problem« der SPD »ist die innere Zerrissenheit, die sie seit ihrer
Gründung begleitet. Seit Eduard Bernstein und Karl Kautsky« – vergessen
wurde hier Rosa Luxemburg – »vor über hundert Jahren darum rangen,
ob man die Verhältnisse mit einer Revolution oder besser mit vielen
kleinen Reformen überwinden solle, ringen in der SPD zwei Flügel miteinander.
So leidenschaftlich und bisweilen selbstzerstörerisch wie nirgendwo
sonst.«
Das war vor den hessischen Ereignissen ausgeführt. Dort hatte bekanntlich
die SPD mit Andrea Ypsilanti Wahlkampf mit dem Hauptziel
gemacht, Koch als Ministerpräsidenten des Landes Hessen abzulösen.
Nebenher hatte sie gesagt, dies nicht mit der Partei DIE LINKE tun zu
wollen. Nachdem die CDU zwar deutlich an Stimmen verloren und die
SPD hinzugewonnen, eine Mehrheit aber nur mit den LINKEN möglich
war, wollte Ypsilanti dies versuchen. Bürgerliche Großmedien spielten
monatelang die Platte: »Wortbruch«. Dagmar Metzger, eine SPD-Abgeordnete,
hatte sich ihrer Vorsitzenden von Anfang an verweigert, alle anderen
sagten ihre Unterstützung für die Wahl Ypsilantis zur Ministerpräsidentin
zu. Nachdem dann wochenlang diskutiert, ein Koalitionsvertrag ausgehandelt
war und ein SPD-Parteitag mit 96 Prozent dem Projekt zugestimmt
hatte, entdeckten drei weitere SPD-Abgeordnete 24 Stunden vor
der bereits angesetzten Abstimmung im Landtag ihr »Gewissen« und erklärten
auf einer Pressekonferenz ein Nein.
Viel ist geschrieben worden, etwa darüber, daß der Abgeordnete Walter
mit der früheren Sprecherin des Koch verheiratet ist, oder daß die
Abgeordnete Everts bei dem Kommunistenfresser Eckard Jesse in Chemnitz
über die PDS promoviert hatte und die LINKE als »in Teilen linksextreme
Partei« bezeichnet. Auf Leserbriefseiten wird auch gefragt, welche
Rolle wohl die schwarzen Kassen der hessischen CDU gespielt haben
mögen. Das gehört sicherlich alles zum Bild in den deutschen Medien.
Entscheidend aber ist eher, daß es in der SPD nach wie vor eine Parteirechte
gibt, die lieber einen Koch weiterregieren läßt, als einen anderen
Politikansatz gemeinsam mit der Linken zu wagen. Insofern entspricht
die politische Konstellation hier durchaus der von 1918/19. Allerdings ist
Andrea Ypsilanti nur politisch, gewissermaßen symbolisch ermordet worden,
nicht tatsächlich erschossen wie die Linken 1919. Das ist ein großer
zivilisatorischer Fortschritt.