Tatsächlich stammt die Sure 2 nämlich nicht aus der frühen, sondern aus der späten Zeit Mohammeds, als er bereits an der Macht war. Das weiß die Islamwissenschaft seit den Forschungen des Göttinger Orientalisten Theodor Nöldeke (1836–1930), der die zeitliche Abfolge der 114 Koransuren festlegt hat. Auf Grund dieser Festlegung schreibt der Islamforscher Theodor Khoury (Münster), auf den sich der Papst in seiner Rede mehrfach bezieht, in seiner Auslegung zur Sure 2, Vers 256 f. folgendes: »Dieser Grundsatz (Es gibt keinen Zwang in der Religion) ist das Fundament der islamischen Toleranz in Sachen des Glaubens und der religiösen Praxis. Die islamische Tradition hat diesen Vers als Verbot verstanden, den Menschen zum Glauben zu zwingen ...« Diese Auslegung verschweigt der Papst der Weltöffentlichkeit; er hat sich in das Heer all derer eingereiht, die dem Islam von Anfang an feindlich gegenüberstanden. Furchtbare Folgen sind daraus erwachsen.
Der Anfang des Islam wird in der Flucht (»Hedschra«) des Kaufmanns Mohammed von Mekka nach Medina im Jahre 622 n.Chr. gesehen, dem Beginn der islamischen Zeitrechnung. Der Grund seiner Flucht waren die Anfeindungen gegen seinen »neuen Glauben« an den einen (einzigen) Gott, Allah, dem die vielen arabischen Stammesgötter, wie sie in Mekka verehrt wurden, weichen sollten. In seine Lehre wurden zahlreiche Gedanken, Erzählungen und Gestalten der Bibel (Adam, Moses, Noah, Jesus, Maria und andere) aufgenommen, von denen Mohammed wußte. Seine zentrale Botschaft von dem »einen Gott« wurde zu einem Glücksfall für den »neuen Glauben«, weil dadurch auch eine politische, wirtschaftliche und militärische Einheit der bisher zerstrittenen arabischen Stämme zustande kam. Schon zwölf Jahre nach dem Tode des »Propheten« Mohammed (632) war ein islamisches Weltreich von Persien bis nach Nordafrika geschaffen. Begünstigt wurde das dadurch, daß die Besiegten, in der Mehrzahl Christen, mit ihrer Eroberung keineswegs unzufrieden waren. Sie erhielten nämlich von den Eroberern, was sie von ihren eigenen Anführern nie erhalten hatten: »große Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten« und eine »milde und berechenbare Besteuerung«.
Im Jahre 711 n.Chr. setzten arabische Heere nach Spanien über, eroberten große Teile der iberischen Halbinsel und herrschten hier bis 1492, also fast 800 Jahre. Über ihre Herrschaft ist bei uns wenig bekannt. Lion Feuchtwanger schildert sie in seinem Roman »Die Jüdin von Toledo«: »Die neuen Herren brachten mit sich eine überlegene Kultur und machten das Land zu dem schönsten, bestgeordneten, volkreichsten Europas. Von kundigen Architekten und einer weisen Baupolizei geplant, entstanden große, herrliche Städte, wie sie der Erdteil seit den Römern nicht mehr gekannt hatte. Córdova, die Residenz des westlichen Kalifen, galt als die Hauptstadt des gesamten Abendlandes. Die Moslems brachten die vernachlässigte Landwirtschaft wieder hoch und gewannen dem Boden durch kluge Bewässerung ungeahnte Fruchtbarkeit ab. Sie förderten den Bergbau durch eine neue, hochentwickelte Technik .... Die Schiffahrt der spanischen Moslems, geleitet von erprobten Mathematikern und Astronauten, war schnell und sicher ... Die Stadt Córdova hatte dreitausend Schulen, jede größere Stadt hatte ihre Universität, es gab Bibliotheken wie niemals seit der Blüte des hellenistischen Alexandria .... Den Unterworfenen zeigten die Moslems Milde. Für ihre Christen übertrugen sie das Evangelium ins Arabische .... Den zahlreichen Juden, die von den christlichen Westgoten unter strenges Ausnahmerecht gestellt worden waren, räumten sie bürgerliche Gleichheit ein ...«.
Das alles mißfiel den christlichen Herrschern. Sie ersannen und praktizierten ein roll-back-Projekt, das sie »Reconquista« (»Wiedereroberung«) nannten. Damit brachten sie schließlich die iberische Halbinsel wieder unter ihre Herrschaft. Fortan griff dort statt Völkerverständigung und Religionsfreiheit die gefürchtete christliche Barbarei wieder um sich: Am Ende waren große Teile des Landes verwüstet, und anstelle von Wissenschaften und Kultur leuchteten nun die Scheiterhaufen der Inquisition, auf denen besonders die Juden endeten, die ihrem Glauben treu bleiben wollten. Eine »unmittelbare Fortsetzung der Maurenkriege« (so der kritische Kirchenhistoriker Karlheinz Deschner in seinem Buch »Kirche und Krieg«) waren die Eroberungs- und Ausrottungskriege der christlichen Spanier in Amerika.
Doch nicht nur für die iberische Halbinsel hatte das Papsttum das »Reconquista-Projekt« erdacht; es sollte für alle Gebiete gelten, die dem christlichen Einfluß entzogen worden waren. So wurden seit dem frühen 11. Jahrhundert Pläne auch zur Eroberung des Orients entworfen. Die Eroberungskriege sind unter dem Namen »Kreuzzüge« in die Geschichtsbücher eingegangen. An ihnen beteiligten sich fast 200 Jahre lang (1095 bis 1291) große Bevölkerungsteile des christlichen Abendlandes, die sich reichen Gewinn davon versprachen. Außerdem wurde ihnen göttliche Belohnung (»Vergebung aller Sünden« und »ewige Seligkeit«) zugesichert. Man kann die Kreuzfahrerheere als die ersten »Europaarmeen« bezeichnen.
Unmittelbaren Anstoß für die Kreuzzüge gab die Rede des Papstes Urban II. im November 1095 auf dem Konzil von Clermont. Er beschwor die Versammlung, dem von Moslems angeblich bedrängten oströmischen Christenkaiser zur Hilfe zu kommen und dann die »Heiligen Stätten der Christenheit« in Jerusalem aus den »Händen der Ungläubigen zu befreien«. Als sich die Christenkrieger schließlich ins »Heilige Land« durchgeplündert hatten, verfielen sie in einen Blutrausch, wie ihn die Welt noch nie erlebt hatte. Dabei wurden nach neueren Schätzungen vier Millionen Menschen ermordet: Muslime, Juden und selbst unbotmäßige Christen. Bei der Eroberung Jerusalems »wateten die frommen Krieger bis zu den Knöcheln im Blut«, bevor sie, »glücklich und vor Freude weinend, zum Grab des Erlösers gingen«, wie man unter anderem wiederum bei Karlheinz Deschner (»Kirche und Krieg«) oder Walter Zöllner (»Die Geschichte der Kreuzzüge«) lesen kann.
Die Kreuzzüge haben nachher in der Christenheit immer wieder Bewunderung ausgelöst. Typisch dafür ist »Der Ploetz« von 1960: »In den Kreuzzügen kommt die Einheit des christlichen Abendlandes, das Gut und Blut für eine religiöse Idee opfert, zu ihrem großartigsten Ausdruck. Das christliche Rittertum schließt sich über alle nationalen Schranken zusammen und findet hier das höchste Ziel seines idealen Strebens ...«
Veröffentlichungen über die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber gibt es bei uns kaum. Eine der wenigen ist das Buch, »Der Heilige Krieg der Barbaren« von Amin Maalouf (deutsch 2003), in dem der Verfasser nachzeichnet, »welch nachhaltiges Trauma die Kreuzzüge im kollektiven Gedächtnis der muslimischen Welt hinterlassen haben«. Das gelte besonders für die Vorgänge in Maara (1098). Dort hatten die christlichen Eindringlinge den Bewohnern versprochen, sie zu schonen, wenn sie ihnen die Stadt kampflos überließen. Das taten sie auch – mit der Folge, daß die Christen 20.000 Menschen abschlachteten. Mehr noch als diese ruchlose Tat, die in ähnlicher Weise an vielen Orten geschah, prägte sich bis heute ein, was sich danach ereignete und von dem christlichen Chronisten so beschrieben wurde: »... In Maara kochten unsere Leute die erwachsenen Heiden in Kesseln, zogen die Kinder auf Spieße und aßen sie geröstet ...« Maalouf gibt einem Kapitel in seinem Buch die Überschrift »Die Kannibalen von Maara«; in der kirchengeschichtlichen Literatur habe ich kein Wort dazu gefunden.
Im Jahre 1187 eroberte der Sultan Saladin Jerusalem für die Muslime zurück und leitete damit die endgültige Vertreibung der christlichen Terroristen aus dem »Heiligen Land« (1291) ein. Als strenggläubiger Moslem hielt er sich an die Suren 2, Vers 256 (die ich eingangs zitiert habe) und 5, Vers 32 ( »... Wer nur einen (gemeint ist: einen einzigen Menschen) am Leben erhält, sei angesehen, als habe er das Leben aller Menschen erhalten ...«), verzichtete auf Rache an der christlichen Bevölkerung, schenkte ihr stattdessen die Freiheit und legte gesetzlich das Gebot fest, Toleranz gegenüber Christen und Juden zu üben. Gotthold Ephraim Lessing hat ihm in seinem Drama »Nathan der Weise« ein ehrendes Denkmal gesetzt.
Nach der Vertreibung der Christen aus dem Orient rückten islamische Völker nun ihrerseits an die Grenzen des »christlichen Abendlandes« vor. Sie hatten von den Christen und ihren Gewalttätigkeiten gelernt und übernahmen von dort gelegentlich auch den Begriff »Heiliger Krieg«, den es nur in der Bibel (Jeremia 51,27), nicht aber im Koran gibt. Angst und Schrecken ergriff die christlichen Abendländer, als 1529 und 1683 die türkischen Heere vor Wien aufzogen. In der Abwehr der »Türkengefahr« fanden alle Christen wieder zusammen, gleich ob Katholiken oder Protestanten. Dabei tat sich besonders der Reformator Martin Luther hervor. In mehreren Schriften – »Vom Krieg wider die Türken« (1529), »Eine Heerpredigt wider den Türken« (1530), »Vermahnung zum Gebet wider die Türken« (1541) – forderte er die »Obrigkeit« auf, »dem Türken zu wehren, daß er ... Mohammed nicht an unseres lieben Herren Jesu Christi Statt setzt. Darum führen wir einen gottseligen Krieg gegen die Türken und sind heilige Christen und sterben selig...« Zur Abwehr der »Türkengefahr« verfaßte Luther neben seinen Schriften auch einige Kampfgesänge. In dem Lied »Ein feste Burg ist unser Gott«, das er 1529 dichtete und vertonte, wird der Kampf gegen den »Fürsten dieser Welt«, den »altbösen Feind«, der den Türken meint, besungen. Dieses Lied hatte danach bis 1918 noch fast den Rang einer Nationalhymne. Ein anderes Kampflied Luthers ist das Lied »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort« aus dem Jahre 1543. Die Anschlußzeile lautete ursprünglich: »und steur des Papst und Türken Mord ...« Später wurde sie in die Fassung »und steure deiner Feinde Mord ...« umfrisiert. Nicht umfrisieren oder umschreiben lassen sich hingegen Aussagen zum Erzfeind Islam, die im Anschluß an Luthers Äußerungen in die »Bekenntnisschriften der ev.-luth. Kirche« hineingeschrieben wurden. Sie gehören zum unwandelbaren Glaubensschatz der lutherischen Protestantismus, auf den angehende Pastoren verpflichtet (»ordiniert«) werden. Sie rufen auf, »Krieg wider die Türken zu führen«, und zwar nach »dem Exempel Davids«, dessen Kriege »heilige Werke« gewesen seien – auch wenn sie Vernichtungskriege waren, in denen David von je drei hilflosen Kriegsgefangenen zwei ermorden ließ, um so seine Macht zu festigen (2. Samuelis, 8. Kapitel, Vers 2).
Insgesamt gilt nach den »Bekenntnisschriften«, daß die Türken, damals auch als »Mahometisten« geschmäht, zu »verdammen« sind, weil sie nicht der »Trinitätslehre« anhängen, diesem sonderbaren Konstrukt aus dem 4. Jahrhundert, wonach »Gott« in drei »Gestalten« erschienen ist (als Vater, Sohn und Heiliger Geist), die einander gleich und zugleich ungleich sind.
Mit dem Hinweis auf ihre »fehlende Trinitätslehre« werden die Muslime auch heute noch von abendländischen Christen herabgesetzt, so in der »Handreichung des Rates der EKD«, die 2006 als »eine Einladung zum Gespräch ... zu Grundlagen des Zusammenlebens mit Muslimen« herausgegeben wurde: Da evangelische Christen, wie sie es von Martin Luther wissen, selbstverständlich den »rechten Glauben« haben, können sie den Muslimen zurufen: »Ihr Herz werden Christen ... schwerlich an einen Gott hängen können, wie ihn der Koran beschreibt und wie ihn Muslime verehren«.
Die »Handreichung« des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) trägt den Titel »Klarheit und gute Nachbarschaft«. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) sieht in diesem Text allerdings alles andere als einen Beitrag zu guter Nachbarschaft. Er wies ihn als »polemisch« zurück, weil die EKD glaube, ihr Profil am Islam schärfen zu müssen; sie führe »eine Sündenbockdiskussion auf dem Rücken von Minderheiten«. Ähnlich sehen das auch Fachgelehrte wie der jüdische Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Er kritisierte, die »EKD habe sich mit dem in der Schrift vertretenen massiven Absolutheitsanspruch dialogunfähig gemacht«.
Das wird besonders deutlich an der Darstellung des Themas, das zur Zeit, wie es in der »Handreichung” heißt, »besonders öffentliche Aufmerksamkeit und politische Brisanz erlangt«, des Themas »Zusammenhang von Religionen und Gewalt«. Zwar wird festgestellt: »Die selbstkritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und dem in ihr begegnenden religiös motivierten Fanatismus und Fundamentalismus ist Voraussetzung für die Abkehr vom Gewaltpotential der eigenen Tradition. Die gilt für alle Religionen.« Doch im weiteren Text zum Thema Gewalt und deren Begrenzung werden zwar etliche Suren angegeben, nicht aber auch nur eine Textstelle aus der Bibel, Dabei ergeht die Aufforderung zur Gewalt in der Bibel ungleich häufiger als im Koran.
Die Gewalttätigkeiten in der Christentumsgeschichte scheinen den Verfassern der »Handreichung« ebenso wenig bekannt zu sein wie die Tatsache, daß, wie Jürgen Todenhöfer in seinem Buch »Warum tötest du, Zaid?« zu Recht feststellt, »nicht ein einziges Mal in den letzten zweihundert Jahren ein muslimisches Land den Westen angegriffen hat«, wohl aber »die Großmächte und die USA immer Aggressoren, nie Angegriffene waren«. Von alledem unberührt verkünden die »Handreichungen« ein scharfes Urteil: »Die gegenwärtige Debatte zeigt, wie schwierig es für Muslime ist, in kritischer Auseinandersetzung mit den eigenen Traditionen zu Krieg und Frieden eine theologisch substantielle Begründung für die Akzeptanz demokratischer Rechtsordnungen zu finden.« Gustav Heinemann, Bundespräsident von 1969 bis 1974 und viele Jahre hochrangiger Mitarbeiter in der evangelischen Kirche, sagte einmal zu solcher Selbstgerechtigkeit: »Wer auf andere mit dem ausgestreckten Zeigefinger zeigt, der deutet mit drei Fingern seiner Hand auf sich selbst.«
Die Religionen des Islam und des Christentums werden noch auf absehbare Zeit Machtfaktoren in unserer Welt bleiben. Man wünschte sich, daß ihre Mitglieder, insbesondere die Christen, endlich zur Botschaft Lessings in seiner »Ringparabel« finden, so daß sie, je auf ihre Weise und »um die Wette«, einer »unbestochenen, von Vorurteilen freien Liebe nacheifern«. Das heißt, auf heute übertragen: daß sie mithelfen, die Gefahren abzuwenden, die die Menschheit zerstören können, wie soziale Ungerechtigkeit, Kriege und Umweltvergiftung. Der weise, gerechte und großmütige Saladin könnte dabei ein Vorbild für alle sein. Ganz und gar ungeeignet sind dazu aber Polemiken, wie sie kürzlich beispielsweise im evangelisch-lutherischen Sonntagsblatt Bayern erschienen sind, das angesichts des »islamischen Terrors« und des »Weltherrschaftsanspruchs des Islam« die Gedanken Martin Luthers aus seinen Kampfschriften gegen die Türken wiederbelebt.
»Von Blut viel Ströme fließen« lautete die erste Zeile des Kreuzfahrerliedes, das nach der Eroberung Jerusalems 1099 gesungen wurde. Wann wird das Blutvergießen in Somalia, Irak, Afghanistan und anderen Ländern enden, der »Krieg gegen Terror«, zu dem der christliche Fundamentalist George W. Bush mit ausdrücklichem Hinweis auf die Kreuzzugstradition aufgerufen hat?