Fünfunddreißig lange Jahre war die Bundeswehr eine Abschreckungsstreitmacht im Dienste der wechselnden Strategien des NATO-Bündnisführers USA, die von der "abgestuften Erwiderung" bis zur ...
... "atomaren Vergeltung" reichten. Daß im Ernstfall, etwa ausgelöst durch einen der häufigen Fehlalarme, sich ein europäisches Hiroschima vom Atlantik bis zum Ural ausgebreitet hätte, nahmen Militärs und Politiker als "Preis der Freiheit" in Kauf. Auch die Öffentlichkeit interessierte sich wenig für dieses Russische Roulette des Kalten Krieges - jedenfalls im Westen. Wohlstand und scheinbar grenzenlose Freiheit blendeten die reale Schreckensvision aus. Und da nichts passiert ist, erscheinen die vier Jahrzehnte am Abgrund der nuklearen Zerstörung in der Erinnerung als die sichersten der Bonner Republik.
So bleiben wir unfähig zum Erschrecken in Nachhinein und unvorsichtig gegenüber den neuen militärischen Abenteuern, auf die sich die rot-grüne Koalition mit dem präpotenten Wort von der größer gewordenen Verantwortung eingelassen hat. Die Bundeswehr wird auf weltweite bewaffnete Intervention umgerüstet, verfügbar für jegliche Terror-Panik oder konstruierte Bedrohungshysterie. Auch dieses Mal wieder ohne großen Widerstand der Öffentlichkeit
Die recht formlose, dürftig begründete Umwidmung der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee in eine Krisen-Reaktions-Streitmacht öffnet dem Mißbrauch Tür und Tor, wie schon der NATO-Krieg gegen Jugoslawien gezeigt hat. Sie bedarf daher nicht nur der Kontrolle durch Parlament und Öffentlichkeit, sondern auch durch die Soldaten selber. Sie, die nicht nur die Knochen hinhalten müssen, sondern durch ihre Verfügbarkeit unter dem Gebot von Befehl und Gehorsam erst politische Abenteuer ermöglichen - wie die GIs im Irak -, werden sich der Notwendigkeit bewußt werden müssen, Nein zu sagen und sich zu verweigern. Sie werden heraustreten müssen aus der historischen Rolle, Kanonenfutter zu sein, werden Mitverantwortung für die Waffen übernehmen müssen, die ihnen Strategie und Industrie in die Hand drücken.
Die Soldaten der Bundeswehr sind dabei im Vorteil. Der Begründer der Inneren Führung, Wolf Graf von Baudissin, hat sie mit seinem gesetzlich verankerten Konzept des Staatsbürgers in Uniform vom Status des reinen Befehlsempfängers befreit. Das Schlüsselwort heißt mitdenkender Gehorsam. Er sollte nicht nur gegenüber den militärischen Vorgesetzten gelten, sondern auch und manchmal vor allem gegenüber dem Primat der Politik, wenn es an Legitimation fehlt. Das Soldatengesetz gibt in seinem Paragraphen 11 eine zusätzliche Handhabe bei erkennbarem Verstoß gegen Menschen- und Völkerrecht.
Was demokratisch verfaßte Staaten im Namen von Freiheit und Demokratie oder Verteidigung und Vergeltung ihren Soldaten zumuten, demonstrieren fast täglich Israels Ministerpräsident Ariel Scharon und US-Präsident George W. Bush, oft unter dem Applaus der eigenen Medien. Aber es sind auch israelische Soldaten, die sich zunehmend und öffentlich durch Verweigerung des Gehorsams dagegen wehren, zur blutigen Durchsetzung einer verbrecherischen Politik mißbraucht zu werden.
In den deutschen Medien ist dieser elektrisierende Aufstand gegen den blinden Gehorsam, verbunden mit dem Anspruch auf Mitverantwortung, nur nebenbei registriert worden, oft mit dem Unterton der Mißbilligung. Leider sind sie kein Resonanzboden für Analyse und Kritik mehr, schon gar nicht für Aufforderungen zum Handeln. Für die Diskussion werden vorerst die sorgen müssen, die direkt betroffen sind: Soldaten, Angehörige, Freunde und Sympathisanten.
Aus: Ossietzky 1/2004