Die Lufthoheit der Staatsräson

Notstand und "Quasi-Kriegsfall"

Im Herbst 2007 forderten Verteidigungsminister Franz Josef Jung und Innenminister Wolfgang Schäuble (beide CDU) Dinge, die bislang in der öffentlichen Debatte unvertretbar waren: den "übergesetzlichen Notstand" als ungeschriebene staatliche Befugnisnorm sowie eine Grundgesetzänderung zum umfassenden Einsatz der Bundeswehr im Inland. Hintergrund beider Äußerungen war die Sorge um die angeblich in Gefahr geratene Innere Sicherheit, insbesondere bei Terrorangriffen aus der Luft. Jung hatte dem "Focus" gegenüber erklärt, am Plan der rot-grünen Regierung festhalten zu wollen, ein von Terroristen entführtes Flugzeug bei "gemeiner Gefahr oder einer Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung" abschießen zu lassen. Mangels gesetzlicher Grundlage - das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte die entsprechende Vorschrift des Luftsicherheitsgesetzes (LuftSiG) für verfassungswidrig erklärt - "im Notfall" eben unter Berufung auf den "übergesetzlichen Notstand." Schäuble unterstützte seinen Parteifreund und holte gleichzeitig sein altes Projekt der Militarisierung der Innenpolitik aus der Schublade: Er forderte eine Grundgesetzänderung zur Ermöglichung des Bundeswehreinsatzes bei Angriffen "auf die Grundlagen des Gemeinwesens" bzw. zur "Vernichtung der staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung".1 Garniert wurden diese Äußerungen mit nebulösen Andeutungen Schäubles, ein terroristischer Anschlag mit nuklearem Material sei nicht mehr eine Frage des "Ob", sondern nur noch eine des "Wann", die verbleibende Lebenszeit brauche man sich aber nicht zu vermiesen. Der Koalitionspartner SPD zeigte sich von den Vorstößen der konservativen Sicherheitspolitiker nicht begeistert, und auch Kanzlerin Angela Merkel (CDU) kritisierte die "Alleingänge" ihrer Minister. Der Deutsche Bundeswehrverband und der Verband der Jetpiloten riefen die betroffenen PilotInnen sogar dazu auf, einem eventuellen Abschussbefehl Jungs den Gehorsam zu verweigern. Mit einer baldigen Verfassungsänderung im Sinne Schäubles ist ebenso wenig zu rechnen. Wie schon im Juli 2007, als der Bundesinnenminister die Legalisierung der präventiven Internierung und der verfahrenslosen Exekution ("targeted killing") von terroristischen "Gefährdern" ins Spiel gebracht hatte, war der Testballon erfolgreich: Weder Jung noch Schäuble mussten zurücktreten, sie fanden sogar einige Unterstützung. Einmal mehr hat sich so der Bereich dessen verschoben, was in der öffentlichen Diskussion vertretbar ist.

Das spezifisch Militärische...

Die rot-grüne Bundesregierung hatte 2004 noch gemeint, auf eine entsprechende Verfassungsänderung verzichten zu können. Mit § 14 Abs. 3 LuftSiG schuf der Bundestag damals die gesetzliche Grundlage für den Abschuss eines entführten und zur Waffe umfunktionierten Passagierflugzeugs (so genannter "Renegade-Fall"2). Trotz erheblicher verfassungsrechtlicher Bedenken, die sich sowohl auf den Einsatz der Streitkräfte im Inneren wie auch auf die Opferung Unschuldiger bezogen, unterzeichnete Bundespräsident Horst Köhler das Gesetz.3 Auf eine Verfassungsbeschwerde von Gerhart Baum, Burkhard Hirsch und anderen hin erklärte hingegen das BVerfG am 15. Februar 2006 die Abschussermächtigung aus beiden Gründen für verfassungswidrig.4 Die Streitkräfte dürfen nach Art. 87a Grundgesetz (GG) nur zur Verteidigung und in den Fällen eingesetzt werden, die die Verfassung ausdrücklich bestimmt. Rot-Grün stützte sich auf Art. 35 Abs. 2 S. 2 und Abs. 3 GG, die die Bundeswehr zur Amtshilfe bei Naturkatastrophen oder besonders schweren Unglücksfällen ermächtigen, mit denen die zur Gefahrenabwehr zuständigen Polizeikräfte der Länder allein nicht fertig werden. Laut BVerfG ist nicht ausgeschlossen, dass ein unmittelbar bevorstehender terroristischer Anschlag ein "Unglücksfall" ist. Unzulässig sei es aber, bei Gebrauchmachen von dieser Amtshilfeermächtigung wesentlich andere Mittel zu verwenden, als sie den Gefahrenabwehrbehörden der Länder zur Verfügung stünden, nämlich spezifisch militärische Mittel. Entstehungsgeschichte und Systematik der Normen zeigten eindeutig, dass BundeswehrsoldatInnen "zur Hilfe" bzw. "zur Unterstützung" i. S. v. Art. 35 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 GG bloß "als Polizeikräfte" eingesetzt werden sollten, also im Gegensatz zur Aufstandsbekämpfung nach Art. 87a Abs. 4 nicht unter Verwendung von Kampfmitteln.

...und die Menschenwürde

Des Weiteren stellten die RichterInnen eine Verletzung des Rechts auf Leben, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie, Art. 1 Abs. 1 GG, fest: Die unschuldigen Passagiere würden zur Rettung anderer geopfert, d. h. "verdinglicht und zugleich entrechtlicht". Problematisch sei nicht nur die selten auszuschließende Ungewissheit, ob es sich um einen nicht anders abwendbaren Renegade-Fall handelt, dass man also riskiere, "dass der Abschussbefehl auf ungesicherter Tatsachengrundlage zu früh erteilt werde": In keinem Fall sei dem Staat die vorsätzliche Tötung Unschuldiger gestattet. Nach dieser Feststellung entkräftete das Gericht drei typische Gegenargumente. Der Behauptung, Passagiere seien in diesem Szenario ohnehin todgeweiht wird - abgesehen von den erwähnten Prognoseschwierigkeiten - entgegnet, dass so die gleiche Wertigkeit allen menschlichen Lebens unabhängig von der Dauer der physischen Existenz geleugnet werde. Auch die Annahme, die Insassen der Maschine seien als Teil der Waffe in der Hand der Täter zu betrachten, wird zu Recht scharf kritisiert: "Diese Auffassung bringt geradezu unverhohlen zum Ausdruck, dass die Opfer eines solchen Vorgangs nicht mehr als Menschen wahrgenommen, sondern als Teil einer Sache gesehen und damit selbst verdinglicht werden." Die staatliche Schutzpflicht zugunsten derjenigen schließlich, die von einem Anschlag betroffen sein könnten, ändere an dieser verfassungsrechtlichen Lage auch nichts: Zur Erfüllung der Schutzpflicht kämen jedenfalls nur Mittel in Betracht, die an sich verfassungsmäßig sind. Gerechtfertigt sei allein der Abschuss eines Flugzeugs, in dem sich ausschließlich Personen befinden, die das Flugzeug als Waffe gegen das Leben anderer einsetzen wollen.

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf

Sofort nach dem Urteil des Verfassungsgerichts machten sich SicherheitspolitikerInnen und ihre UnterstützerInnen in der Wissenschaft daran, Hintertüren auszumachen, um das von ihnen gesuchte Ergebnis doch noch zu retten. Dieter Wiefelspütz, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, überdehnte den Begriff der "Verteidigung" in Art. 87a GG so lange, bis auch ein Renegade-Flugzeug in der Hand von Terroristen ohne jeden Bezug zu einem ausländischen Staat ein kriegerischer Akt war.5 Entscheidend sei, ob es sich um einen Angriff handele, der die Polizei überfordere, den nur die Streitkräfte abwehren könnten - ein klassisch anti-rechtsstaatlicher Schluss von der Aufgabe, hier der Sicherheit vor Kriminalität, auf die Befugnis. Im Übrigen unterstellt die Argumentation des SPD-Politikers, im Verteidigungsfall gelte nur noch das Kriegsvölkerrecht (vor allem die Haager und Genfer Abkommen), nicht aber mehr die Menschenwürdegarantie aus Art. 1 GG.6 Ähnliches wird vielfach angedeutet - eine Begründung erhält man meistens nicht. Die Verpflichtung der BRD auf insoweit weniger strenge humanitäre Standards im Kriegsfall kann aber nicht die strengere grundgesetzliche Bindung aussetzen: Völkerrechtlich muss jeder Staat seine Verpflichtungen "übererfüllen" dürfen. Verfassungsrechtlich dürfte die Bundeswehr selbst bei Einsätzen zur Verteidigung nicht menschenwürdewidrig unschuldige Passagiere opfern: An der ursprünglichen Entscheidung des GG für die ausnahmslose Unantastbarkeit der Menschenwürde konnte auch die nachträglich eingefügte "Wehrverfassung" (Art. 12a, 17a, 65a, 87a, 115a-115l GG) nichts ändern, mussten sie doch die so genannte "Ewigkeitsgarantie" des Art. 79 Abs. 3 GG beachten, konnten also von Art. 1 GG nicht abweichen.7 Andere Gegner des Urteils, darunter Schäuble, bemängelten, das BVerfG habe die staatliche Schutzpflicht zugunsten der von einem Flugzeugabsturz bedrohten Menschen nicht hinreichend berücksichtigt.8 Die RichterInnen argumentierten hingegen so, wie es der ständigen Rechtsprechung zur Lehre von den Schutzpflichten entspricht: Auch zu ihrer Erfüllung, hier also zur Rettung einer Vielzahl von Menschen, könne nicht die Würde anderer Menschen verletzt werden. Wie schon in der Folter-Debatte anlässlich des Daschner-Falls arbeiten anscheinend einige daran, die Menschenwürde doch antastbar zu machen, wenn ihre Verletzung bloß zur Lebensrettung, also zum guten Zweck erfolgt.9

Ein Missverständnis?

Die Reaktionen auf das Urteil machen deutlich, über welch geringen Rückhalt das BVerfG mit seiner Abwehr verfassungswidriger Sicherheitsgesetze noch verfügt. Die Konsequenz, dass die Verfassung sogar im ja höchst unwahrscheinlichen Horror-Szenario des von einem Renegade-Flugzeug angesteuerten Atomkraftwerks eben zur Duldung des Attentats verpflichtet, akzeptierte fast niemand. Wer diesen Extremfall tatsächlich für möglich - und nicht zum Beispiel durch Sicherheitsmaßnahmen an Bord zu verhindern - hält, müsste konsequenter Weise für eine sofortige Stilllegung aller Atomkraftwerke eintreten. Von solcher Konsequenz weit entfernt wird den RichterInnen von Anhängern einer "wehrhaften Verfassungsinterpetation"10 stattdessen vorgeworfen, den letztlich verantwortlichen PolitikerInnen und Militärs die rechtliche Klarheit versagt zu haben, sich also nicht (moralisch?) gegen den Abschuss, sondern bloß gegen die Regelbarkeit eines solchen Notfalls ausgesprochen zu haben.11 Dem liegt die nicht für begründungsbedürftig gehaltene Überzeugung zu Grunde, ein Abschuss von wenigen zur Rettung von vielen (oder "des Staates") sei legitim und notwendig. Dieses Vorverständnis erklärt auch, wieso der Hinweis des BVerfG, über die strafrechtliche Beurteilung eines verfassungswidrig vorgenommenen Abschusses bzw. Abschussbefehls sei mit dem Urteil nichts gesagt12, so freudig aufgegriffen und überbetont wurde. In Wirklichkeit hatte das Gericht einfach korrekt zwischen der eindeutigen öffentlich-rechtlichen Rechtswidrigkeit und der nicht zu entscheidenden individuellen strafrechtlichen Beurteilung des Verhaltens von PilotInnen oder MinisterInnen unterschieden. Auch die moralische Frage ist in Wirklichkeit längst nicht so einfach zu beantworten, wie viele vorgeben: Selbst wenn man "todgeweihten" Menschen an Bord nur wenige Minuten Lebenszeit nimmt, um andere am Boden zu retten, opfert man aktiv und vorsätzlich Unschuldige - und man bekennt sich zu einer rein zweckrationalen Ethik ohne jede absolute Grenze.

Die "Kernfrage eines jeden Rechtsstaats"13

In die Debatte um das Urteil und seine möglichen Umgehungen mischte sich nun also Verteidigungsminister Jung ein. Was er meint, wenn er sich auf einen "übergesetzlichen Notstand" beruft, ist nicht völlig eindeutig. Früher wurde so genannt, was seit 1975 in § 34 Strafgesetzbuch (StGB) normiert ist: Wer einen Straftatbestand verwirklicht, um ein höherwertiges Rechtsgut zu retten, handelt nicht rechtswidrig. Diese zur ausnahmsweisen Rechtfertigung von Einzelnen in Notlagen geschaffene Vorschrift umzuwandeln in eine regelmäßige Erweiterung der staatlichen Eingriffsbefugnisse in Grundrechte, hätte allerdings in der BRD eine gewisse Tradition: In mehreren Fällen beriefen sich 1977 Behörden auf die direkte oder analoge Anwendung von § 34 StGB. Bereits 1975 hatte der Geheimdienst die Wohnung des Atomphysikers Traube verwanzt, der im Verdacht stand, Kontakte zur RAF zu haben; in der JVA Stuttgart-Stammheim waren 1977 Gespräche zwischen inhaftierten RAF-Mitgliedern und ihren Anwälten abgehört worden; während der Schleyer-Entführung war mehreren Dutzend Inhaftierter bereits vor Inkrafttreten des Kontaktsperregesetzes14 jeder Kontakt zur Außenwelt inklusive ihrer Verteidiger verweigert worden. Insbesondere die "Lauschaffäre Traube" sorgte damals für viel Kritik am verantwortlichen Bundesinnenminister Werner Maihofer (FDP).15 Die Berufung auf § 34 StGB ignorierte nämlich den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, wonach kein Eingriff in Grundrechte zulässig ist, der nicht auf einem hinreichend bestimmten Gesetz beruht.16 Neben den ausdifferenzierten Eingriffsbefugnissen der Bundes- und Landesbehörden mit den Rechtfertigungsgründen des StGB auch noch offene Generalermächtigungen an alle staatlichen Organe anzuerkennen, würde jede Kompetenzordnung sprengen und wäre die "Preisgabe des Prinzips des Verfassungsstaats".17 Ein solch uferloses Staatsnotrecht würde zudem nicht nur die detaillierten Regelungen der Notstandsgesetzgebung von 1968 unterlaufen, es wäre sogar weiter als das berüchtigte Notstandsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung.18 Staatliche Grundrechtseingriffe lassen sich deswegen unter dem GG nie über Generalklauseln des StGB rechtfertigen.

Ganz im Sinne der Staatsräson entschied hingegen der Bundesgerichtshof (BGH): Nach dem im StGB normierten allgemeinen Abwägungsgedanken sei der Gesetzesbruch zum guten Zweck gerechtfertigt.19 So verschufen die RichterInnen "dem gesetzesdurchbrechenden Staatsnotrecht der Exekutive mit § 34 StGB nun eine positivrechtliche Scheinlegitimation."20 Zu dieser wie auch anderen wichtigen verfassungsrechtlichen Fragen des so genannten "Deutschen Herbstes" hielt sich das BVerfG in seinen Entscheidungen zu Kontaktsperre und Schleyer-Entführung übrigens auffällig zurück.21

Pflicht zur Befehlsverweigerung

Den verfassungsrechtlichen Argumenten hatten schon 1977/78 die BefürworterInnen der Anwendung von § 34 StGB außer panischen Evidenzbeschwörungen - "Wie will man inmitten der uferlosen Gefahren und der unvorhersehbaren Verbrechen des Terrorismus ohne ihn auskommen?"22 - wenig entgegenzusetzen. Unabhängig vom grundsätzlichen Problem der Anwendbarkeit lägen im Fall des Flugzeugabschusses die Voraussetzungen von § 34 StGB gar nicht vor. Im Gegensatz zu den im Zusammenhang mit der RAF diskutierten Fällen würden hier ja nicht Rechtsgüter von eventuell niedrigerem Rang, sondern Leben und Menschenwürde der Insassen geopfert, so dass von einem wesentlichen Überwiegen des geretteten Rechtsguts nicht die Rede sein könnte. Strafrechtlich käme zugunsten der Verantwortlichen deswegen allein ein entschuldigender Notstand in Betracht. Neben § 35 StGB, der nur "Retter" entschuldigen kann, die den Bedrohten persönlich nahe stehen, wird in der strafrechtlichen Literatur ein "übergesetzlicher entschuldigender Notstand" diskutiert. Dass Jung sich auf diesen individuellen Entschuldigungsgrund beruft, ist aber unwahrscheinlich: Eine öffentlich-rechtliche Handlungsbefugnis kann daraus nicht gebastelt werden. Und für die PilotInnen trifft zu, was ihre Verbände öffentlich erklärten: Nach § 11 Abs. 1, 2 Soldatengesetz dürfte der Abschuss-Befehl, also die Anordnung, menschenwürdewidrig zu handeln sowie eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Straftat zu begehen, nicht ausgeführt werden.

Not kennt kein Gebot

Insofern kann Jung mit dem "übergesetzlichen Notstand" eigentlich nur einen "überverfassungsgesetzlichen Notstand" meinen. An welches Gedankengut er damit anknüpfen würde, sollte man sich klarmachen. In der deutschen Staatsrechtslehre hat nämlich ein Denken Tradition, das einen von der Verfassung losgelösten Staat immer "mystifizierend über die Verfassung gestellt"23 hat. Bis heute hält sich die Vorstellung, der Staat sei der Verfassung vorgelagert und seine Existenz stelle eine Grenze aller Grundrechtsgewährleistungen dar.24 Nach dieser Betrachtungsweise liegt es nahe, dass zum Schutz "des Staates" im Notfall eben die Verfassung gebrochen werden kann. Liberale und demokratische VerfassungsrechtlerInnen haben diese Vorstellung immer wieder angegriffen. Hans Kelsen kritisierte eine Staatsrechtslehre, die verfassungswidrige Regierungsakte über den Rückgriff auf einen metarechtlichen Staat rechtfertigte: "Man manipuliert eben neben der Rechtsordnung noch mit einer zweiten, die sog. Staatsraison darstellenden Ordnung, die hauptsächlich auf die Bedürfnisse gewisser oberster Organe abgestellt ist."25 In der Weimarer Zeit, als eine politische Justiz sogar die polizeiliche Beschädigung der Druck- und Setzmaschinen einer angeblich staatsgefährdenden Arbeiterzeitung durch Notwehr rechtfertigte,26 sah die Mehrheit der Verfassungsrechtler, dass die Berufung der Exekutive auf die analoge Anwendung von Rechtfertigungsgründen nach dem StGB oder gar unnormiertes "Staatsnotrecht" die rechtstaatliche Verfassung aushebeln würde.27 Das anti-liberale Denken, das eine legitime Staatsräson oder das "Lebensrecht des Staates" gegen die bloße verfassungsmäßige Legalität bzw. "leere Gesetzlichkeit" ausspielte, gelangte im Rechts- und Verfassungsdenken Carl Schmitts (1888-1985), des noch in der BRD wirkmächtigen "Kronjuristen des Dritten Reichs", zu seinem Höhepunkt. Die Konsequenz aus Schmitts Denken offenbarte sich 1934, als er die Berufung auf "Staatsnotwehr" im Anschluss an den so genannten "Röhm-Putsch" verteidigte.28 Der einzige Artikel des "Gesetzes über Maßnahmen der Staatsnotwehr" hatte am 3. Juli 1934 erklärt: "Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr rechtens."

Die autoritäre Versuchung

Jeder "überverfassungsgesetzliche Notstand" verschafft der Exekutive einen rechtsfreien Raum blanker Machtausübung nach Opportunitätskriterien. In der Debatte um die Notstandsgesetze in den 1960er Jahren wurde noch deutlich geäußert, was heute in Vergessenheit zu geraten droht: "Der angeblich überverfassungsgesetzliche Staatsnotstand als Schein der Rechtfertigung ist nur ein Tarnwort für den Verfassungsbruch."29 Die Forderung, die Möglichkeit einer unvorhersehbaren fundamentalen Gefahr nicht zu verdrängen, sondern den Ausnahmezustand zu regeln,30 ist problematisch. Das Argument, die Alternative zu einer ausdrücklichen Regelung und Begrenzung sei faktisch bloß ein Regierungshandeln ohne jede Rechtsbindung, ist eine Kapitulation: Die Option, dass die politisch Verantwortlichen nicht alles faktisch Machbare unternehmen, sondern sich an die Verfassung gebunden fühlen, wird gar nicht in Betracht gezogen. Historisch betrachtet gab es noch keinen Fall, in dem "mit einer solchen Notstandsermächtigung der Exekutive die Demokratie geschützt worden wäre".31 Die Gefahr, dass der Übergang zu autoritären Systemen so einen legalen Anstrich erhält, ist hingegen nicht von der Hand zu weisen.

Schäubles Pläne haben gegenüber Jungs Äußerung immerhin für sich, dass der Innenminister die Verfassung nicht heimlich brechen, sondern offen ändern will. Inhaltlich sind seine Pläne, die Bundeswehr auch zur Abwehr von Angriffen "auf die Grundlagen des Gemeinwesens" zu ermächtigen (so genannter "Quasi-Verteidigungsfall"32), hingegen sehr gefährlich. Generell ist die Vermengung von polizeilicher Gefahrenabwehr und militärischer Verteidigung, also die Militarisierung der Innenpolitik, unter dem Grundgesetz aus gutem Grund nicht mehr erwünscht. Wenn SicherheitspolitikerInnen wie Schäuble behaupten, innere und äußere Sicherheit seien heutzutage nicht mehr zu trennen, muss man also auf der Hut sein. In diesem Fall kommt hinzu, dass der Angriff auf die "Grundlagen des Gemeinwesens" bzw. auf die "staatliche Rechts- und Freiheitsordnung" fast die unbestimmteste Formulierung ist, die man sich in diesem Zusammenhang ausdenken kann. Man muss daher befürchten, dass interessierte Interpretationen etwa auch einen politischen Streik als eine solche Bedrohung ansehen könnten.33

Ausnahmezustand, Feind und Bürgeropfer

Schäuble engagiert sich in letzter Zeit nicht nur mit ständigen Vorschlägen zu immer krasseren Sicherheitsgesetzen, er offenbart seine erschreckenden Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit auch laufend in Reden und Artikeln.34 Ausdrücklich empfahl er 2007 das Buch "Die Selbstbehauptung des Rechtsstaats" von Otto Depenheuer, Professor für Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie in Köln. Die "paranoid anmutende, extrem hermetische Gedankenwelt"35 Depenheuers sieht die "rechtsstaatliche Zivilisation" mitten im Kulturkampf gegen "den Feind", den "islamistischen Terror".36 In diesem Krieg sei die Bundesrepublik "nur bedingt abwehrbereit", da "Schönwetterdogmatik" und "Verfassungsautismus" des BVerfG den Staat an der "Selbstbehauptung" gegenüber seiner "gewaltsamen Negation" hinderten. Dringend erforderlich seien hingegen die "Bestimmung des Feindes" und die "Bereitschaft zum Bürgeropfer", denn wir befänden uns, auch wenn das vielfach geleugnet werde, längst im "latenten Ausnahmezustand". Der Autor bezieht sich in seiner Argumentation positiv auf Jakobs "Feindstrafrecht" und Guantánamo, Bruggers Plädoyer für "Rettungsfolter" sowie Isensees "Recht auf Sicherheit" - und immer wieder auf Carl Schmitt. Depenheuers Verachtung der an "Eigennutz" ausgerichteten "Spaßgesellschaft" und seine anti-moderne Weltsicht - Rationalismus und Aufklärung, vor allem die "individualistischen" Gesellschaftsvertragstheorien lehnt er ausdrücklich ab, glaubt stattdessen an einen "organischen Staat", dessen Existenz allen Grundrechten vorausgehe - kommen denjenigen seiner islamistischen "Feinde" auffällig nahe. Die Schwelle zum Faschistoiden wird dort überschritten, wo Depenheuer in seiner Kritik des Urteils zum LuftSiG fordert, dass der Staat die BürgerInnen gewaltsam an ihre "Grundpflicht" erinnern dürfe, sich - wie das "erste Bürgeropfer der Bundesrepublik im Kampf gegen seine terroristischen Feinde", Hanns Martin Schleyer - im Grenzfall für den Staat aufzuopfern: Die Menschenwürde der unschuldigen Passagiere werde gar nicht verletzt, im Gegenteil: "die freiwillige (sic) Aufopferung (...) verleiht dem subjektiven Leben zugleich eine objektive Dimension, die ihm Sinn und Erfüllung zu geben vermag", eine "die individuelle Perspektive transzendierende Dimension."

Denkmäler statt Rechte?

Von der Aufopferungspflicht des Individuums für seinen Staat bzw. von einer zu unterstellenden Einwilligung in die eigene Tötung zum Wohle des Ganzen sprechen auch andere Rechtswissenschaftler.37 Nicht immer vollziehen JuristInnen also politische Entwicklungen bloß nach, zum Teil weichen sie auch vorauseilend elementare Verfassungsgrundsätze auf.38 Abgesehen davon, dass die Menschenwürde nicht zu Gunsten der Staatsräson geopfert werden darf: Depenheuer und Co. erklären nie, wie ein terroristischer Anschlag aus der Luft, der zweifellos unzählige Menschen brutal töten kann, die Existenz der BRD beenden soll. Das Verfassungsgericht geht zu Recht davon aus, dass das im "Renegade-Fall" faktisch unmöglich ist.39 So angreifbar Depenheuers Position verfassungsrechtlich also ist, so sehr erscheint sie einer von mittlerweile mehreren Bundesregierungen vertretenen Politik angemessen, die nach innen auf vollständige präventive Sicherheit setzt und nach außen selbst vor völkerrechtswidrigen Angriffskriegen nicht mehr zurückschreckt, ja laut dem Weißbuch der Bundeswehr von 2006 sogar den Zugang zu Rohstoffen und freie Transportwege für Ziele hält, die man militärisch "verteidigen" sollte. Dazu passt das "Ehrenmal" für am Hindukusch oder sonst wo "gefallene" BundeswehrsoldatInnen, das in diesem Jahr auf Betreiben Jungs in Berlin errichtet werden soll. Architektonisch inszeniert die Gedenkstätte die Verherrlichung des soldatischen "Heldentodes", Zweifel an der Berechtigung deutscher Kriege lässt sie nicht aufkommen.40 Aber auch deutsche ZivilistInnen sollen anscheinend wieder beigebracht bekommen, dass der Gemeinnutz im Zweifel auch ihrem Leben vorgehen kann. In dieser Situation über den extrem unwahrscheinlichen Renegade-Fall zu diskutieren, kann von Wichtigerem ablenken. Die Versuche, ein uferloses Staatsnotstandsrecht zu etablieren, die Bundeswehr partout auch im Inneren einzusetzen und nebenbei die Menschenwürdegarantie aufzuweichen, sind aber über den konkreten Fall hinaus bedrohlich.

John Philipp Thurn promoviert in Freiburg.

1 Spiegel Online v. 19.9.2007, www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,506507,00.html. 2 Renegade: engl. für Abtrünniger. 3 Vgl. Viezens, Linus, Forum Recht (FoR) 2005, 69. 4 BVerfGE 115, 118 ff. = Neue Juristische Woche (NJW) 2006, 751 ff.; ausführliche Besprechung von Hecker, Wolfgang, Kritische Justiz (KJ) 2006, 179 ff. 5 Wiefelspütz, Dieter, Recht und Politik (RuP) 2006, 71 ff; vgl. Gramm, Christoph, Deutsches Verwaltungsblatt (DVBl.) 2006, 653 ff. (656). 6 Wie hier Kutscha, Martin, RuP 2006, 202 ff. (205 f.). 7 Wie hier Baldus, Manfred, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2006, 532 ff. (533); Poretschkin, Alexander, Neue Zeitschrift für Wehrrecht (NZWehrr) 2006, 123 f.; Sittard, Ulrich/Ulbrich, Martin, NZWehrr 2007, 60 ff. (67 f.); zur Menschenwürdegarantie bei Auslandseinsätzen vgl. Kutscha, KJ 2004, 228 ff. (236 f.). 8 Schäuble, Wolfgang, Von der Schutzpflicht des Staates, Tagesspiegel v. 5.1.2007.; Baldus, a. a. O., 534; Hillgruber, Christian, Juristenzeitung (JZ) 2007, 209 ff. (214). 9 Vgl. Hecker, a. a. O., 186 f. 10 Hillgruber, a. a. O., 218. 11 Baldus, a. a. O., 535; Gramm, a. a. O., 655; vgl. Wefing, Heinrich, FAZ v. 16.02.2006. 12 BVerfG a. a. O., 759. 13 Amelung, Knut, NJW 1978, 623 f. (624). 14 Einfügung von §§ 31-38 EGGVG. 15 Vgl. Damm, Diethelm, Demokratie und Recht (DuR) 1977, 180 ff. und Seifert, Jürgen, KJ 1977, 105 ff. (107 ff.). 16 Wie hier Jahn, Matthias, Das Strafrecht des Staatsnotstandes, 2004, 291; Amelung, NJW 1977, 833 ff.; Holtfort, Werner, DuR 1977, 403 ff. 17 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, NJW 1978, 1881 ff. (1884); weitere verfassungsrechtliche Argumente bei Jahn, a. a. O., insbes. 350 ff. 18 Böckenförde, a. a. O., 1883; Roßnagel, Alexander, KJ 1977, 257 ff. (259, 266). 19 BGH NJW 1977, 2172 f. 20 Amelung, NJW 1978, 623 f. (624). 21 BVerfG NJW 1977, 2157 f.; BVerfG NJW 1977, 2255 ff.; kritisch Henne, Thomas, Betrifft Justiz 2007, 30 ff. 22 Lange, Richard, NJW 1978, 784 ff. (786). 23 Seifert, KJ 1977, 105 ff. (106). 24 Vgl. zum Ganzen Möllers, Christoph, Staat als Argument, 2000, insbes. 256-271. 25 Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 2. Aufl. 1928, 137. 26 RGZ 117, 138 ff. (142 f.). 27 Vgl. Nachweise bei Amelung, NJW 1977, 833 ff. (838). 28 Der Führer schützt das Recht, Deutsche Juristen-Zeitung 1934, Sp. 945-950. 29 Arndt, Adolf, Der Rechtsstaat und sein polizeilicher Verfassungsschutz (1961), in: Gesammelte juristische Schriften, 1976, 163. 30 Böckenförde, a. a. O., 1884 ff. 31 Paech, Norman, DuR 1980, 65 ff. (69). 32 Sittard/Ulbrich, a. a. O., 61. 33 Wie hier Hochhuth, Martin, taz v. 6.1. 2007. 34 Zuletzt: Dein Staat, dein Freund, dein Helfer, Die Zeit v. 15.11.2007. 35 Hofmann, Gunter, Die Zeit v. 9.8.2007. 36 Zitate, auch im Folgenden, aus: Depenheuer, Otto, Selbstbehauptung des Rechtsstaats, 2007. 37 Vgl. Pawlik, Michael, JZ 2004, 1045 ff. (1052 f.); Franz, Einiko Benno, Der Staat 45 (2006), 501 ff. (518 ff., 535 ff.); Gramm, a. a. O., 660 f. 38 Vgl. Thurn, John Philipp, FoR 2005, 11 f. 39 Vgl. BVerfG NJW 2006, 751 ff. (759). 40 Vgl. Brendle, Frank, "Süß ist’s und ehrenvoll...", junge welt v. 14.11.2007.