Gemeinsam oder einsam? - Politik und Gewerkschaften am Scheideweg

Im Prozess der Liberalisierung des Sozialstaats, ist die Verbindung zwischen Gewerkschaften und Parteien brüchig. Die Gewerkschaften müssen sich nun entscheiden.

In den westlichen Industrieländern gibt es zwei unterschiedliche Gewerkschaftsmodelle. In den liberalen angelsächsischen Ländern sind Gewerkschaften nur wenig in die Institutionen des Staates involviert und verfolgen politische Ziele durch den Druck auf Parteien. In den kontinentaleuropäischen und skandinavischen Ländern hingegen haben Gewerkschaften vielfach Aufgaben in der Verwaltung des Sozialstaats übernommen und unterhalten engere Verbindungen zu sozialdemokratischen Parteien.

Sie haben dabei darauf vertraut, dass ihre verbündeten Parteien ihre Interessen wahrnehmen. Heute, im Prozess der Liberalisierung des Sozialstaats, ist diese Verbindung brüchig. Die Gewerkschaften müssen sich nun entscheiden, ob sie in Zukunft stärker Parteien von außen unter Druck setzen wollen, oder ob sie zu versuchen sollten, ihre privilegierten Beziehungen zu ihren bisherigen politischen Bündnispartnern wiederherzustellen. Beides zugleich wird schwer möglich sein.

Gewerkschaften verfolgen weltweit viele verschiedene Strategien um Einfluss zu nehmen.In Bezug auf ihr Verhältnis zur Politik gibt es jedoch zwei wesentliche Varianten. In den liberalen angelsächsischen Ländern war ihr Verhältnis zu den Institutionen des Staates immer distanziert. Sie hatten und haben zwar exklusive Beziehungen zu einzelnen Parteien; in England sogar große Mitspracherechte durch Blockstimmen auf den Parteitagen der Labour Party. Sie waren jedoch nie in die Verwaltung staatlicher Institutionen involviert. Sie haben keine Vertreter in den Verwaltungsräten der sozialen Sicherungssysteme oder den Arbeitsagenturen. In den meisten kontinentaleuropäischen und skandinavischen Ländern ist das bis heute anders. Hier kontrollieren Gewerkschaften in einigen Ländern Arbeitslosenversicherungen - in Skandinavien stehen z.B. die Leistungen der Arbeitslosenversicherung nur Gewerkschaftsmitgliedern offen - und sie sind ein wichtiger Akteur in sozialpolitischen Entscheidungsprozessen. Sie haben einen festen Platz im politischen Institutionensystem, sitzen in nationalen Arbeits- und Sozialräten und beraten die Regierungen in wichtigen sozialpolitischen Entscheidungen. Oder zumindest taten sie das bis vor kurzem.

Die Liberalisierungsprozesse, die in vielen westlichen Wohlfahrtsstaaten in den letzten 10 Jahren auch und gerade von sozialdemokratischen Regierungen vorangetrieben wurden, haben die privilegierte politische Rolle der Gewerkschaften in vielen Ländern erschüttert. Regierungen handelten gegen die Interessen der Gewerkschaften und sahen in ihnen keine Experten in eigener Sache sondern lästige Interessenvertreter, die den Reformprozess aufhielten. Kein Wunder, dass die Gewerkschaften Strategien entwickelten, sich gegen diese Ausgrenzungsprozesse zu wehren.

Wende in Deutschland

In Deutschland war der Punkt 2002 erreicht. Die Rentenreform und die Vorschläge der Hartz-Kommission, sowie das Scheitern des Bündnisses für Arbeit markierten Wendepunkte in dem bis dahin vorherrschenden Umgangsstil zwischen Gewerkschaften und Regierung. Zwar gab es auch vorher schon Entscheidungen gegen den Widerstand der Gewerkschaften, aber nicht in solchen prinzipiellen Fragen und nicht von sozialdemokratischen Regierungen. Dabei ging es nicht nur Sachfragen wie die, was man Langzeitarbeitslosen zumuten kann, um wieder in Beschäftigung zu kommen, oder ob Frühverrentung wirklich ein probates Mittel der Arbeitsmarktpolitik sein sollte, was im Übrigen selbst in den Gewerkschaften zunehmend kritisch gesehen wurde. Sondern es ging auch um das Selbstverständnis einer neuen Generation von Sozialpolitikern in den deutschen Parteien, die die Armen und Unterprivilegierten in Deutschland nicht mehr in den Rängen der Gewerkschaften vermuteten. Und die das enge Zusammenspiel von Tarifpolitik, Sozialpolitik und Sozialpartner nicht mehr als Vorteil der sozialen Marktwirtschaft sahen sondern zunehmend als Last, die das von den Kosten der Wiedervereinigung, dem Platzen der New Economy Blase und der stärker werdenden Konkurrenz auf den Weltmärkten schon schwer beladenen Land noch weiter zurückwarf. Sie sahen in den Reformen der Agenda 2010 die längst überfällige Modernisierung.

Ob diese Analyse damals zutreffend war und ob die gefundenen Reformen wirklich ihr Ziel erreichten, sei hier einmal dahin gestellt. Wichtig ist jedoch, dass in den Gewerkschaften die Überzeugung wuchs, dass auf einen groben Klotz auch ein grober Keil gehöre und nur ein ernster Warnschuss diese Entwicklung aufhalten könne. Zur Waffe wurde in den alten Ländern eine neue Partei links der SPD, die vielfach in Gewerkschaftshäusern ihre Gründungsveranstaltungen abhielt und später ihre Kräfte mit der PDS bündelte. Damit wurde zwar der Druck auf die SPD erhöht, was das erklärte Ziel der Gewerkschaften war. Aber damit wurde auch ein Schritt gegangen, der die Gewerkschaften aus dem tradierten Zusammenspiel Einheitsgewerkschaft und überparteiliche Interessenvertretung aller Arbeitnehmer in die Richtung einer stärker politisierten und zugleich außerhalb des politischen Establishments befindlichen Lobbykraft führte. Sie haben auf die Distanzierung und Ausgrenzung durch die SPD mit einer eigenen Distanzierungsstrategie geantwortet.

Der Warnschuss wurde gehört. Seit dem starken Abschneiden der Linkspartei in der Bundestagswahl 2005, die immerhin die Grünen überrunden konnte, ist die SPD sichtlich um Entspannung in ihrem Verhältnis zu den Gewerkschaften bemüht.

Strategische Entscheidungen

Aber für die Gewerkschaften stellt sich die Frage, welchen Weg sie weiter beschreiten wollen. Akzeptieren und verfolgen sie aktiv eine Entwicklung der zunehmenden Entfremdung und Distanzierung von den großen politischen Parteien, mit denen sie bis vor kurzen enge Beziehungen pflegten? Dazu gehört zu der SPD auch der Arbeitnehmerflügel der CDU, für die die großen Industriegewerkschaften in der Vergangenheit sichere Plätze in den Gewerkschaftsvorständen reservierten. Suchen sie sich verstärkt außerparlamentarische Verbündete und werden sie ihre Konfliktfähigkeit in der Tarifpolitik auch für politische Ziele einsetzen? Oder werden sie versuchen, die alte Balance der Beziehungen zu den großen Volksparteien wieder herzustellen, um ihre Funktionen im Wohlfahrtsstaat zu schützen? Und ist diese Strategie überhaupt möglich? Und kann man das eine tun, ohne das andere zu lassen?

Die Volksparteien durch die Unterstützung der Linken unter Druck zu setzen, ist legitim, führt jedoch nicht an sich zu einer größeren Schnittmenge zwischen den Interessen der Arbeitnehmerflügeln in den Parteien und denen der Gewerkschaften. Und letztlich ist es die von den wesentlichen politischen Akteuren geteilte Definition davon, wie eine gute Politik für Arbeitnehmer unter den neuen Bedingungen von Strukturwandel und Globalisierung aussehen könnte, die im politischen Prozess wirksam werden wird. Die angelsächsischen Länder zeigen uns, dass Gewerkschaften ein von ihnen distanziertes Parteiensystem nicht vor sich her treiben können, sondern bestenfalls punktuell Einzelentscheidungen verhindern. In Skandinavien finden wir hingegen ein Modell, in dem die Sozialpartnerschaft auch Konflikte ausgehalten hat, ohne dass ein breiter sozialdemokratischer Grundkonsens aufgegeben wurde. Das bedeutet keine Nibelungentreue der Gewerkschaften zur SPD, sondern eine aktive Strategie zum Erlangen eines neuen Grundkonsenses mit den Arbeitnehmerflügeln der großen Parteien. Und es bedeutet viel Vertrauensarbeit von denjenigen, denen Arbeitnehmerinteressen am Herzen liegen, sowohl in den Parteien als auch in den Gewerkschaften.

Anke Hassel ist Professorin für Public Policy an der Hertie School of Governance Berlin