Atomkraft: Vom Konsens zum Störfall

Ende Juni waren fast zeitgleich Bilder von zwei AKW-Unfällen in der Bundesrepublik zu sehen. Schlagartig waren sie wieder da, die Erinnerungen an die Katastrophe.

Ende Juni waren fast zeitgleich Bilder von zwei AKW-Unfällen in der Bundesrepublik zu sehen: Zum einen sah man eine dicke schwarze Rauchwolke über dem Atomkraftwerk Krümmel bei Hamburg; zum anderen schwelte es im AKW Brunsbüttel. Schlagartig waren sie wieder da, die Erinnerungen an die Katastrophe, an den "größten anzunehmenden Unfall", dessen Möglichkeit sich die Industrie über zwei Jahrzehnte lang bemüht hatte, der Bevölkerung auszureden. So riefen die Fernsehbilder die verdrängten, aber sehr realen Risiken der Atomenergienutzung wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.

Und tatsächlich war die Gefahr in Krümmel und Brunsbüttel weitaus größer als von der Atomwirtschaft eingestanden. Die AKW-Betreiberfirma Vattenfall und ihre Helfer aus der Atomlobby bemühten sich anfangs - auch durch Verharmlosung der genauen Unfallhergänge - die vorgetragenen Einwände gegen die weitere Nutzung der Atomenergie als zutiefst irrational zu diffamieren. Damit allerdings erreichten sie genau das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt hatten, so dass schließlich auch der Austausch der Vattenfall-Konzernleitung keinen Befreiungsschlag mehr bedeutete. Denn zu diesem Zeit-punkt hatten die Störfälle in den beiden norddeutschen AKWs längst eine neue Atomkraft-Debatte ausgelöst.

Mit dieser neuerlichen Auseinandersetzung um die Atomkraft und deren Gefahren treten auch die Tücken des im Jahr 2000 von der rot-grünen Bundesregierung mit den Stromkonzernen vereinbarten "Konsenses" über den Atomausstieg deutlich zu Tage. Allerdings war die Vereinbarung schon zur Zeit ihres Zustandekommens alles andere als ein wirklicher "Konsens", blieb sie doch weit hinter den Forderungen der Atomkraftgegner zurück. Auch die - teilweise zähneknirschende - Zustimmung des rot-grünen Milieus blieb überwiegend taktisch, am Machbaren orientiert.

Seitdem hing der mögliche "Ausstieg aus dem Ausstieg" wie ein Damoklesschwert über der Vereinbarung und beförderte so ein weitgehendes Stillhalten vieler Atomkritiker. Möglich war dies nur durch die Verdrängung der weiterhin bestehenden Gefahren. Die Ereignisse in Krümmel und Brunsbüttel brachten nun genau diese Risiken wieder ins Bewusstsein - entsprechend deutlich fielen die Reaktionen aus.
Die Strategie der Atomlobby

Die Atomlobby selbst versuchte im Grunde seit dem Atomkonsens im Jahre 2000, die langfristigen Konsequenzen der Vereinbarung zu revidieren. Dass sie hierbei nur zögerlich vorankommt, liegt auch daran, dass die Ausstiegsfristen im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD 2005 bestätigt wurden.

In diesem Kontext ist es gegenwärtig das Hauptziel der Stromkonzerne, für ihre ältesten und laut Atomkonsens in den Jahren 2008 und 2009 stillzulegenden Reaktoren Biblis A und B, Brunsbüttel und Neckarwestheim 1 Laufzeitübertragungen von neueren Kraftwerken durchzusetzen, um sie auf diese Weise über die nächste Bundestagswahl zu retten - denn dann ändern sich möglicherweise mit den Mehrheiten im Parlament auch die Rah-menbedingungen für die Nutzung der Atomenergie.

Untermalt wurde dieses Vorgehen der Atomlobby durch die seit drei Jahren anschwellenden PR-Gesänge über eine angebliche weltweite Renaissance der Atomkraft - wenn alle Länder neue AKWs bauen, könne Deutschland nicht aussteigen, lautet das "Argument". Seit einigen Monaten versuchen die Konzerne darüber hinaus mit der Behauptung, nur mit Atomkraft ließe sich das Klima retten ("Deutschlands ungeliebte Klimaschützer"), einen Umschwung in der - hierzulande immer noch mehrheitlich atomkritischen - öffentlichen Meinung zu bewirken.
Mit den jüngsten Störfällen implodierten nun die Hoffnungen der Atomlobby über Nacht. Mit der Wahrheit über die Ereignisse in Krümmel, die angesichts der Desinformationspolitik der Betreiberfirma Vattenfall nur häppchenweise an die Öffentlichkeit drang, änderte sich abrupt auch die mediale Repräsentation des Themas Atomkraft. War zuvor gemeinhin wohlwollend über die "Argumente" der Atomindustrie berichtet worden, kamen jetzt wieder verstärkt die Kritiker zum Zuge. Einige Tage im "Sommerloch" lang schien es geradezu, als bestünde die deutsche Presselandschaft nur noch aus Atomkraftgegnern.

Der Umschwung in der öffentlichen Meinung war so gewaltig, dass selbst einige der politischen Bastionen der Atomlobby erschüttert wurden: So forderte auf einmal selbst der Generalsekretär der FDP, Dirk Niebel, die sofortige und endgültige Stilllegung des AKW Krümmel. Und auch in der CDU wurden Stimmen laut, die die Atomenergie in Frage stellen und am vereinbarten langfristigen Ausstieg festhalten wollen. Sowohl der vor Wahlen stehende Hamburger Bürgermeister Ole von Beust als auch der auf ein schwarz-grünes Bündnis schielende Berliner Fraktionschef Friedhelm Pflüger äußerten sich in diesem Sinne. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Peter Harry Carstensen verabschiedete sich ebenfalls von der Forderung nach Laufzeitverlängerungen: "Nach den jüngsten Ereignissen gehe ich nicht mehr davon aus, dass eine Verlängerung der Restlaufzeiten politisch noch durchsetzbar ist. Der Zug ist abgefahren."

Allerdings meldeten sich in der Union nur wenige Wochen nach den Störfällen von Krümmel und Brunsbüttel die Atomkraftbefürworter wieder mit Nachdruck zurück. So optierte beispielsweise der bayrische Wirtschaftsminister und voraussichtliche künftige CSU-Parteivorsitzende Erwin Huber für eine Verlängerung der Laufzeit der Atomkraftwerke, sofern es dafür nach der nächsten Bundestagswahl eine politische Mehrheit gibt. Dieses Ziel hat auch die atomfreundliche Bundeskanzlerin Angela Merkel noch längst nicht aufgegeben. Ihrem Politikstil gemäß wartet sie einfach ab, um später, nach der Bundestagswahl, zu entscheiden, welche ihrer atompolitischen Ziele erreichbar sind.

Auch die Stromkonzerne selbst spielen weiter auf Zeit und hoffen, dass sich die Ausstiegsdebatte wieder beruhigt und das gebetsmühlenartig vorgetragene Klima-Argument dann vielleicht doch wirkt. Ihre Motivlage ist simpel: Pro Tag verdienen sie mit jedem der abgeschriebenen Altreaktoren eine Million Euro. Eine Verlängerung der Laufzeiten bedeutet also eine Verlängerung dieser Extraprofite. Sicherheitsfragen stören da nur.

In diesem Sinne argumentierte die Atomlobby, dass es sich bei den Störfällen um ein Kommunikations- und nicht um ein Sicherheitsproblem gehandelt hätte. Und schlechte Öffentlichkeitsarbeit sei, so Eon-Chef Wulf Bernotat, noch lange kein Grund für den Ausstieg aus der Atomenergie. Stattdessen hält die Industrie weiterhin unbeirrt an ihrer Forderung nach Laufzeitverlängerung für die bestehenden Reaktoren fest.
Die Tücken der Ausstiegsvereinbarung

Gegen diese Politik der Stromkonzerne wendet sich öffentlichkeitswirksam Bundesumweltminister Sigmar Gabriel. Er kündigte unter anderem an, die geforderte Laufzeitverlängerung nicht bewilligen und stattdessen mit den Konzernchefs über die schnellere Stilllegung alter AKWs und die Übertragung ihrer Reststrommengen auf neuere Reaktoren verhandeln zu wollen. Was Gabriel dabei verschweigt, ist die Tatsache, dass gerade Krümmel gar nicht zu den ältesten AKWs zählt. Auch suggeriert dieses Vorgehen, dass sich die Katastrophe nicht auch in jedem anderen Atomkraftwerk - also auch in den sogenannten "modernen" Anlagen, die ja auch schon 20 Jahre alt sind - ereignen könnte.

Entscheidend aber ist: Setzt sich der Minister durch, so würde dies zwar die Stilllegung einiger Alt-AKWs, aber gleichzeitig eine Verlängerung des Atomzeitalters in der Bundesrepublik bis etwa 2035 bedeuten - mit allen wei-terhin damit verbundenen Gefahren.

Obwohl sich die Konzerne de facto längst vom Atomkonsens verabschiedet haben, hält Gabriel weiterhin an dessen Logik und Mechanismen fest. Dies ist auch deshalb ein Problem, weil die Vereinbarung zahlreiche Einzelheiten enthält, die den Handlungsspielraum der Bundesregierung einschränken. So führt beispielsweise die Ablehnung der Anträge auf Laufzeitverlängerung durch den Umweltminister nicht automatisch zur Stilllegung der Reaktoren in Biblis, Neckarwestheim und Brunsbüttel. Denn die beiden Blöcke in Biblis sind bereits seit Oktober 2006 vorübergehend vom Netz, damit Tausende falsch montierte Dübel ausgewechselt werden können. Da sich die Restlaufzeiten laut Atomkonsens nicht nach dem Kalender, sondern nach den noch zu produzierenden Atomstrommengen errechnen und Biblis derzeit keinen Strom ins Netz einspeist, verschiebt sich die endgültige Abschaltung daher immer weiter in die Zukunft. Inzwischen wird bereits spekuliert, ob sich die Betreiber von RWE mit den Reparaturen deshalb so viel Zeit lassen, um Biblis auf diese Weise - auch für den Fall, dass Gabriel die beantragte Übertragung von Strommengen aus dem AKW Lingen verweigert - über den Termin für die kommende Bundestagswahl hinauszuretten.

Dieses Vorgehen zeigt, dass bis 2009 von dem zehn Jahre zuvor vereinbarten und seither immer wieder bestätigten Atomausstieg praktisch kaum etwas umgesetzt sein dürfte - von den damals insgesamt 19 Reaktoren werden dann nach einem Jahrzehnt angeblicher Ausstiegspolitik möglicherweise nur zwei oder drei Kraftwerke tatsächlich vom Netz gegangen sein. In dieses Bild passt auch die Erklärung von Bundeskanzlerin Merkel auf der Pressekonferenz nach dem "Energiegipfel" am 3. Juli, der zufolge sie nach 2009 eine Verlängerung oder gar Freigabe der AKW-Laufzeiten anstrebe.
Für eine wirksame Ausstiegspolitik

Das Festhalten an der Logik des so offenkundig gescheiterten Atomkonsenses befördert das Dilemma, in dem auch die einst nicht zuletzt aus der Anti-Atom-Bewegung hervorgegangenen Grünen gefangen bleiben. Wie Sigmar Gabriel fordern auch sie lediglich die Abschaltung der ältesten Meiler. Dadurch wirkt die Partei ausgerechnet in dieser für sie identitären politischen Frage seltsam zahnlos - und ist kaum noch unterscheidbar von der SPD. Ge-lingt es den Grünen in dieser Situation nicht, deutlicher Position zu beziehen, werden sie im Konsensdilemma stecken bleiben. Dabei scheint sich auch zu rächen, dass der Kompromiss, dem die Öko-Partei mit dem "Ausstieg auf Raten" zustimmte, hinterher als großer Sieg dargestellt wurde.

Nötig wäre dagegen etwas ganz anderes: nämlich die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie aller atomkraft-kritischen Kräfte der Gesellschaft aus sozialen Bewegungen, Parteien, Wissenschaft, Medien, Gewerkschaften, Kirchen und der aufstrebenden Bran-che der erneuerbaren Energien. Nur so ist möglich, die 2009 unabhängig vom Wahlausgang anstehende Auseinandersetzung über die Zukunft der Atomenergie erfolgreich zu bestehen. Ziel einer zukünftigen gemeinsamen Anti-Atom-Strategie muss es sein, die Laufzeiten der Reaktoren insgesamt deutlich zu reduzieren und nicht nur zwischen "alten" und vermeintlich sichereren "neuen" Kraftwerken zu verschieben.

Unentbehrlich ist dafür eine gesellschaftliche Mobilisierung - auch auf die Straße. Dafür Anstöße zu geben, ist Aufgabe der Initiativen und Aktionsgruppen der Anti-Atom-Bewegung. Dabei müsste an der konsequenten Forderung nach einem Sofortausstieg festgehalten, aber zugleich gewährleistet werden, dass man über das eigene Milieu hinaus bündnisfähig ist und punktuell auch mit eher realpolitisch orientierten Atomgegnern zusammenarbeitet.

Ein zügigerer Ausstieg ist auch des-halb politisch leichter durchsetzbar, weil die Kapazitäten der erneuerbaren Energien schneller wachsen als prognostiziert und somit die noch vorhandenen Reaktoren einfacher ersetzen können, als bisher geplant. Zudem belegte der Umweltverband BUND jüngst die Überflüssigkeit der gefährlichen Meiler durch den bemerkenswerten Hinweis, dass im Juli wegen Störfällen oder Brennelement-Wechseln sechs große Atomkraftwerke - und damit mehr als ein Drittel der AKW-Leistung in der Bundesrepublik - gleichzeitig vom Netz gegangen waren, ohne dass Probleme bei der Stromversorgung (oder mit dem Strompreis) aufgetreten wären.

Eine weitere Option des Protests besteht darin, Einfluss auf die großen Energieversorger auszuüben, indem man ihr Verhalten entschlossen skandalisiert. Denn auch die Stromkonzerne müssen inzwischen aufgrund des wirtschaftlichen Wettbewerbs immer stärker auf ihr Image achten und sind dadurch entsprechend verletzbar - dies belegt nicht zuletzt die rasch steigende Zahl der Bürgerinnen und Bürger, die zu alternativen Stromanbietern wechseln.

Nicht zuletzt gibt es auch jenseits der Frage der Reststrommengen Möglichkeiten für staatliches Handeln. Dazu zählen eine verschärfte und offensivere Atomaufsicht, die steuerliche Gleichbehandlung von Uran mit anderen Energieträgern, die Überführung der steuerfreien Entsorgungs-Rückstellungs-Milliarden in einen öffentlich-rechtlichen Fonds, die Einführung einer risikodeckenden Haftpflichtversicherung für Atomkraftwerke und ein Entsorgungsnachweis für Atommüll, der diesen Namen wirklich verdient.

Für all diese Maßnahmen benötigt man aber einen konsequenten Bruch mit der Schröderschen Konsenspolitik. Denn so viel ist nach den jüngsten Erfahrungen klar: Der Atomausstieg lässt sich nicht mit den, sondern nur gegen die Stromkonzerne durchsetzen.