Laufzeitverlängerung für die Anti-AKW-Bewegung

Nur mit neuen alten BündnispartnerInnen ist ein wirklicher Ausstieg erreichbar

Atomkraft ist wieder Thema. Seit Angela Merkel im letzten Mai zur Kanzlerkandidatin der Union ernannt wurde und öffentlich erklärte, dass sie nach wie vor auf Atomenergie setze, ist der Streit um ..

... die Laufzeiten der AKWs so schlagzeilenträchtig wie wenig andere Themen. Eine Chronologie der letzten elf Monate im Schnelldurchlauf:

Im Bundestagswahlkampf plakatiert die SPD für den Atomausstieg. Während der Koalitionsverhandlungen ist kaum ein Thema strittiger. Der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske spricht sich für mehr Atomkraft aus und wird von der Gewerkschaftsbasis vehement zurückgepfiffen. Nach dem russischen-ukrainischen Gas-Konflikt plädieren die Unions-Ministerpräsidenten für das Festhalten am Atomstrom. Im baden-württembergischen Landtagswahlkampf sammeln Grüne und SPD Unterschriften für die Abschaltung des AKW Neckarwestheim. In den Kinos läuft der Film "Die Wolke" nach dem gleichnamigen Jugendbuch von Gudrun Pausewang. Rund um den Energiegipfel am 3. April schließlich ist das mediale Getöse, bei dem sich jeder Verband, jede/r ParteifunktionärIn und jede/r ExpertIn zu Wort meldet, kaum noch zu überbieten. Und schon beginnen Zeitungen und Fernsehanstalten mit ihren großen Tschernobyl-Reportagen zum 20. Jahrestag der Reaktorkatastrophe ...

Und die Anti-AKW-Bewegung? Die einst mächtige außerparlamentarische Protestbewegung ist in der Öffentlichkeit kaum zu bemerken. Bei den größten Demonstrationen der letzten elf Monate waren im Mai 2005 in Ahaus 3.000, im November 2005 in Lüneburg 7.000 und im wendländischen Hitzacker 4.000 Menschen auf der Straße. Da ist es schon geradezu sensationell, wenn kürzlich in Salzgitter 5.000 VW-MitarbeiterInnen während der Arbeitszeit eine "erweiterte Betriebsversammlung" vor den Toren ihres Werks machen, um gegen das geplante Endlager für schwachaktiven Atommüll "Schacht Konrad" zu demonstrieren. Aber insgesamt kann derzeit sicherlich nicht von einer Massenbewegung gesprochen werden. Auch die jetzt geplanten Kundgebungen zum Tschernobyl-Jahrestag werden kaum besser besucht sein.

Der einzige öffentlich wahrnehmbare Atomkraftgegner scheint der neue Bundesumweltminister Sigmar Gabriel zu sein, der nicht müde wird, vor den Gefahren der AKWs zu warnen und sich gegen alle Wünsche auf Laufzeitverlängerungen stellt. Dass Gabriel diese Position nicht aus Überzeugung vertritt, sondern nur, weil es parteitaktisch für die SPD gerade nützlich erscheint, macht die Sache noch obskurer. Schließlich hat Gabriel als niedersächsischer Ministerpräsident sowohl "Schacht Konrad" genehmigt als auch zur Durchsetzung der Castor-Transporte nach Gorleben beigetragen. Und er schickt sich jetzt an, im Schnelldurchlauf die Endlagerfrage zu "lösen", was immer das auch bedeuten mag.

So wird im parteipolitischen Schaukampf um die AKW-Laufzeiten letztlich auch nur um die Alternativen "lang" oder "länger" gerungen. Jede Stimme, die einen Atomausstieg fordert, der diesen Namen wirklich verdient, hat es extrem schwer, wahrgenommen zu werden. Die unter rot-grün entwickelte Sprachregelung vom "Atomausstieg" hat sich im Bewusstsein der Bevölkerung festgesetzt, obwohl in den acht Jahren, seit Schröder 1998 Kanzler wurde, nur die zwei allerkleinsten Reaktoren abgeschaltet wurden.

Weitere Stilllegungen stehen eigentlich für die Jahre 2008/09 an, wenn die Meiler in Brunsbüttel (Schleswig-Holstein), Biblis (Hessen) und Neckarwestheim (BaWü) ihre im schröderschen "Atomkonsens" vertraglich garantierten "Reststrommengen" zu Ende produziert haben. Doch genau um diese Kraftwerke dreht sich der aktuelle Streit. Die Energiekonzerne versuchen mit allen Mitteln, diese AKW über die nächste Bundestagswahl zu retten. Dazu steht ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten zur Verfügung, größtenteils sogar im Rahmen des derzeit geltenden Atomrechts.

Für die betagten Reaktoren Neckarwestheim 1 und Biblis A wollen die Betreiber von EnBW und RWE Anträge auf Übertragung von Restrommengen von jüngeren Kraftwerken stellen. Das ist laut Atomkonsens möglich, müsste aber von der Bundesregierung genehmigt werden. Bisher erklärt Gabriel, dass er diese Genehmigung nicht unterschreiben wird. Für Neckarwestheim bliebe dann noch die Möglichkeit, in den nächsten Jahren einfach ein bisschen weniger Strom zu produzieren und damit auch ohne Ministererlaubnis und Strommengenübertragung den nächsten Wahltermin zu überstehen.

Noch einfacher ist es bei den zwei anderen Abschalt-Kandidaten. So können auf Brunsbüttel nicht verbrauchte Strommengen des 2003 abgeschalteten Atomkraftwerks in Stade übertragen werden. Gleiches ist bei Biblis B möglich, wo noch etliche Betriebsjahre aus Mülheim-Kärlich draufgesattelt werden können. Beide Übertragungen sind ohne Zustimmung der Bundesregierung möglich, da sie so schon im Atomkonsens-Vertrag festgeschrieben wurden.

Vorstellbar, ja sogar wahrscheinlich ist also durchaus ein Szenario, nach dem in dieser Legislaturperiode mit Biblis A nur ein AKW oder sogar überhaupt keines vom Netz geht. Dann gäbe es nach elf Jahren SPD-Regierung unter dem Label "Aromausstieg" noch immer 17 (oder 16) von ursprünglich 19 Reaktoren. Und die Lobby der Stromkonzerne hätte beste Karten, in der nächsten Wahlperiode wirkliche Laufzeitverlängerungen durchzusetzen, weil dann nämlich innerhalb weniger Jahre bis zu acht Kraftwerke vom Netz müssten.

Und die Anti-AKW-Bewegung? Das, was derzeit in verschiedenen Auseinandersetzungen erfolgreich betrieben wird, sei es Antifa oder Globalisierungskritik, nämlich die Öffnung linksradikaler Zusammenhänge für ein breites Spektrum an BündnispartnerInnen, funktioniert in der traditionsbewussten Szene der aktiven AtomkraftgegnerInnen bisher wenig. Da wird die Forderung der Lüneburger Bündnisdemo "AKWs stilllegen! Jeder Tag ist einer zu viel" vehement angegriffen, weil das Zauberwort "sofort" fehlt. Da wird viel Kraft und Zeit dafür aufgewendet, sich immer neu am Verrat der Grünen abzuarbeiten, statt im grünen Milieu Ausschau nach Verbündeten zu halten.

Erste Anzeichen eines Wandelns gibt es allerdings bei etlichen regionalen Bündnissen zum Tschernobyl-Jahrestag. Da haben sich quasi die beiden schon nach der Katastrophe 1986 entstandenen Strömungen der Anti-Atomis und Becquerelis wieder zusammengefunden und machen munter gemeinsame Veranstaltungsreihen, bei denen dann einerseits für die Kinder von Tschernobyl gesammelt und andererseits aktuelle Energiepolitik diskutiert wird.

Die Debatte um die AKW-Laufzeiten wird noch mindestens zwei Jahre weitergehen. Zwei Jahre, die dazu genutzt werden können, als Bewegung wieder handlungsfähig zu werden. Es wäre fatal, sich auf die atomkritischen Sonntagsreden des Bundesumweltministers zu verlassen. Also gilt es, direkten Druck auf die "big four", auf Eon, RWE, Vattenfall und EnBW auszuüben. Um die langfristige Strategie der Stromkonzerne zu brechen, braucht es aber die Mobilisierung starker gesellschaftlicher Kräfte.

Eigentlich sind diese Kräfte vorhanden, sie schlummern nur größtenteils. In diesem Land leben Hunderttausende, die in den verschiedenen Wellen der Anti-AKW-Bewegung politisch sozialisiert wurden, sei es während der Zeit der Platzbesetzungen, Zaunkämpfe und Massendemos in den 1970ern, in der kurzen aber heftigen Bewegung nach Tschernobyl in den 1980ern oder auf Straßen und Schienen gegen Atomtransporte von den 1990ern bis heute. Viele dieser Menschen sind ihren eigenen Weg durch die Institutionen gegangen und sitzen inzwischen an gesellschaftlich relevanten Stellen, ohne jemals aufgehört zu haben, AtomkraftgegnerIn zu sein. Wenn sie sich an diesen Stellen reaktivieren ließen, könnte die Schlagkraft beachtlich sein.

Es gab immer die unterschiedlichsten Gründe, gegen Atomkraft aktiv zu werden, aber wesentlich war in allen Zeiten, dass die Gefahren nicht hinnehmbar sind und dass es nicht angehen kann, dass einige Konzerne auf Kosten kommender Generationen Milliardengewinne anhäufen. Dieses Motiv ist aktueller denn je. Also ist es an der Zeit, sich genau mit diesen Konzernen anzulegen. Wie eine Strategie aussehen kann, die es vielen Menschen ermöglicht, diesen Streit mit Eon und Co in einer für sie gemäßen Weise auszutragen, das ist die Frage der kommenden Wochen. Erste Gespräche zwischen Initiativen, Umweltverbänden und weiteren möglichen BündnispartnerInnen laufen.

Sie wollen nicht abschalten? Gut, dann schalten wir sie ab ...

Jochen Stay, www.ausgestrahlt.de

aus: ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 505/21.4.2006