Seit 220 Jahren herrscht in den Vereinigten Staaten von Amerika eine vorbildliche Gewaltenteilung: Der Kongreß beschließt die Gesetze,
der Präsident setzt sie um, die Gerichte legen sie aus und heben sie wenn nötig auf. Hat der Kongreß ein Gesetz ausgearbeitet, wird es dem Präsidenten vorgelegt, der dann laut Verfassung zwei Möglichkeiten hat: das Gesetz zu unterschreiben oder den Entwurf mit seinen Einwänden zurückzuschicken. Sollte der Präsident auch den überarbeiteten Gesetzesentwurf ablehnen, kann der Kongreß ihn mit Zweidrittelmehrheit selbst in Kraft setzen. Der Präsident hat also kein wirkliches Vetorecht - der Ausdruck kommt in der Verfassung überhaupt nicht vor. Zudem bestimmte der Oberste Gerichtshof 1998, daß dem Präsidenten auch kein Teilvetorecht zusteht, mit dem er ihm nicht genehme Abschnitte eines Gesetzes außer Kraft setzen könnte.
Dennoch tut er genau das - mit einem Werkzeug, das in keiner US-Rechtsvorschrift definiert oder überhaupt genannt wird: dem "Signing Statement". Das erste derartige Statement stammt von Präsident Monroe, der 1822 in einem Ge- setzestext einen Widerspruch entdeckt hatte. Auch spätere Präsidenten machten gelegentlich bei der Unterzeichnung eines Gesetzes eine Anmerkung, die ursprünglich bloß ein unverbindlicher politischer Kommentar sein sollte. Seit 1986 aber ist daraus eine politische Waffe geworden. Der Präsident setzt sie ein, um neue Rechtsvorschriften an den Gerichten vorbei zu interpretieren oder in Teilen einfach zu ignorieren. Was Ronald Reagan anfing, haben Bush Senior, Clinton und Bush Junior extensiv fortgesetzt.
Der gegenwärtige Präsident hat bereits mehr Signing Statements produziert als alle seine Amtsvorgänger zusammen; wie viele es bislang sind, scheint noch nicht einmal seiner zuständigen Mitarbeiterin bekannt zu sein. Nach jüngsten Angaben sind es 147 Statements, in denen Bush mindestens 1140 Bestimmungen in rund 150 US-Gesetzen nach seinem Gutdünken ausgelegt oder für ungültig erklärt hat.
Niemand weiß, wer Bushs Statements formuliert hat und wo man sie alle einsehen kann. Die Internetseite des Weißen Hauses listet sie nur unvollständig auf. Die Erklärungen sind in einer für Rechtslaien oft unverständlichen Sprache formuliert und ergeben ohne die Gesetzestexte, die sie auslegen, keinen Sinn. Der Kongreß hat bislang keinerlei Rechtsmittel, die Erklärungen des Präsidenten vor Gericht überprüfen zu lassen; ein entsprechender Gesetzesentwurf scheiterte im vergangen Dezember. Obwohl die Statements keinen Gesetzescharakter haben, zeigen sie starke Wirkung: Sie sind Arbeitsanweisungen, mit denen der Präsident seinen Ministerien vorgibt, wie sie neue Gesetze auszulegen und anzuwenden haben.
Bush versieht vor allem solche Gesetze mit einem Statement, die seine Amtsbefugnisse einschränken könnten. Immer wieder stellt er in seinen Erklärungen fest, er werde das neue Gesetz so interpretieren, "daß es im Einklang mit seiner verfassungsmäßigen Autorität steht, mit der er die einheitliche Exekutive überwacht" (er spricht von sich selbst in der dritten Person). Die hier angesprochene Einheitliche Exekutiv-Theorie (s. Ossietzky 8/07) räumt dem Präsidenten - und nur ihm - das Recht ein, Gesetze für seine Ministerien auszulegen. Konservative Juristen entwickelten diese Theorie, als das Amt des Präsidenten durch Nixons Lügen über den Vietnam-Krieg und Watergate in eine tiefe Glaubwürdigkeitskrise geraten war und vom Kongreß strenger kontrolliert wurde.
Die Einheitliche Exekutiv-Theorie ist in George W. Bushs Amtszeit zur angemaßten Rechtsgrundlage für permanente Selbstermächtigung des Präsidenten geworden. Wie sie angewendet wird und was sie bewirkt, sei mit einem Beispiel verdeutlicht: Der republikanische Senator John McCain brachte nach dem Skandal um den US-Folterknast Abu Ghraib eine Gesetzesänderung ein, die Angestellten der US-Regierung jede Anwendung von Folter verbieten sollte. Zunächst drohte Präsident Bush, er werde ein solches Gesetz nicht unterzeichnen, dann bemühte sich sein Stellvertreter Cheney um eine Ausnahmeregelung für die CIA. Schließlich gab der Präsident scheinbar nach, empfing McCain mit großem Bahnhof im Oval Office, sprach sich im Beisein der Medien ausdrücklich gegen Folter aus und unterschrieb das Gesetz vor den Augen der Welt. Am Folgetag erschien, von der Öffentlichkeit fast unbemerkt, sein Signing Statement auf der Internetseite des Weißen Hauses. Darin legte Bush fest, daß er als Oberbefehlshaber der Streitkräfte nicht an das von ihm am Vortag unterschriebene Gesetz gebunden sei. Es darf also weiter gefoltert werden. Mit derselben Argumentation räumte Bush seinen Sicherheitsorganen das Recht ein, US-BürgerInnen ohne besonderen Anlaß telefonisch und übers Internet auszuspionieren.
Mit seinen Signing Statements verwischt der Präsident vorsätzlich die Gewaltenteilung und schafft eine Grauzone, in der fast alles möglich ist. Er schwächt den Kongreß und die Gerichte. Und er liefert eine Steilvorlage für alle seine Amtsnachfolger, die vielleicht einmal diktatorische Vollmachten anstreben; der größte Juristenverband der Vereinigten Staaten, die American Bar Association (ABA), hat schon im vergangenen Sommer ein Gutachten zu Bushs Statements erstellt, das laut Verbandspräsident Michael Greco "ernsthafte Bedenken [aufzeigt], die entscheidend sind für das Überleben unserer Demokratie".
Seit fünfeinhalb Jahren ist Bush Kriegspräsident. Er befehligt den globalen Feldzug "gegen den Terror". Bisher war wenig öffentliche Kritik an seinen beunruhigenden Signing Statements zu hören; die Kritiker wären sofort als "unpatriotisch" gebrandmarkt worden. Doch Bushs Feldzug hat sich zu einem mörderischen Fiasko entwickelt, die USA und ihre BürgerInnen sind weltweit verhaßt wie nie zuvor. Die sich anbahnende Verfassungskrise - Senator Edward Kennedy verglich Bush bereits mit dem Watergate-Lügner Nixon und kündigte eine "unausweichliche" Reaktion des Kongresses an - könnte sich zu einem der reinigenden Gewitter entwickeln, mit denen man sich in den Vereinigten Staaten schon mancher verblendeter Politiker entledigt hat.