Privatisierung europaweit

EU-Politik lässt zugreifen auf europäische Infrastrukturdienste

In den Mitgliedsstaaten der EU wird die öffentliche Infrastruktur zugunsten des "Wettbewerbs" organisiert. Christina Deckwith zeichnet diesen Prozess nach.

In den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union wird die öffentliche Infrastruktur zugunsten des so genannten Wettbewerbs, sprich: der Privatisierung, organisiert. Christina Deckwirth zeichnet die Rolle der EU bei dieser Privatisierung von Sektoren wie Energie, Bahn, Telekommunikation und Post in Europa nach.1

Während sich Deutschland rühmt, Exportweltmeister zu sein, könnte sich die EU mit dem Titel des Privatisierungsweltmeisters schmücken. Die in Europa verkauften Vermögenswerte machten bereits bis zum Jahr 1998 rund 50 Prozent der weltweiten Privatisierungserlöse aus. 2 Zwar ist der Höhepunkt der Privatisierungen mit den großen Veräußerungen der 1990er Jahre mittlerweile überschritten, doch es stehen weitere Großprojekte an. In Frankreich streitet man derzeit über die Privatisierung des nationalen Gaskonzerns Gaz de France (GDF), und in Deutschland steht mit dem Börsengang der Deutschen Bahn möglicherweise der größte Verkauf öffentlichen Eigentums in der Geschichte der Bundesrepublik bevor. Daneben verlaufen viele Privatisierungsprozesse auch weitaus weniger spektakulär: In Deutschland sind es vor allem die Kommunen, die zunehmend Anteile ihrer Stadtwerke zum Verkauf stellen. So haben sich allein RWE und E.on bis zum Jahr 2003 Anteile an mehr als 210 regionalen Versorgern und Stadtwerken gesichert. 3 In all diesen Prozessen ist der Einfluss der Europäischen Union nicht zu unterschätzen. Dies gilt insbesondere für die so genannten netzgebundenen Infrastrukturdienstleistungen wie Energie, Bahn, Telekommunikation und Post: Europäische Faktoren - sowohl explizite sektorale Richtlinien als auch strukturelle Vorgaben wie etwa zur restriktiven Haushaltsführung - sind von zentraler Bedeutung bei der Einleitung nationaler und kommunaler Privatisierungsmaßnahmen. Doch die Auswirkungen der Privatisierung zentraler Lebensbereiche - seien es Preissteigerungen oder der Verlust demokratischer Einflussnahme - werden spürbarer und als Untergrabung der Errungenschaften des europäischen Sozialmodells wahrgenommen: Es regt sich Protest.

Reorganisationsprozesse
So können auf europäischer Ebene nicht alle Liberalisierungsprojekte in vollem Maße umgesetzt werden. Widersprüche und Auseinandersetzungen verlagern sich zunehmend auf die europäische Ebene und verzögern dort den Reorganisationsprozess. Wasser, Stromversorgung oder Postdienste - diese Dienstleistungen wurden bis in die 1980er Jahre in den europäischen Ländern durch die öffentliche Hand angeboten. Der Ausbau der öffentlichen Infrastruktur in Europa begann nach den ersten negativen Erfahrungen mit privaten Anbietern zum Ende des 19. Jahrhunderts. Nach der "Großen Depression" entstanden vielerorts Verstaatlichungs- bzw. Kommunalisierungsinitiativen - so beispielsweise in Deutschland und Frankreich, wo derweil gar von einem "Munizipalsozialismus" gesprochen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der öffentliche Sektor weiter ausgebaut: Erstens drängten starke sozialistische und sozialdemokratische Kräfte auf einen verstärkten Ausbau des öffentlichen Sektors. Zweitens wurde eine ausgebaute Infrastruktur auch von wirtschaftlichen Eliten als unabdingbar für Stabilität und Wachstum betrachtet und diente nicht zuletzt als "Schutzwall gegen den Kommunismus". Drittens begründete die neoklassische Wirtschaftswissenschaft die staatliche Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen mit deren Eigenschaften als "öffentliche Güter" und "natürliche Monopole", die nicht auf profitable Weise von privaten Anbietern zur Verfügung zu stellen seien.
Der Beginn der Reorganisationsprozesse der netzgebundenen Infrastrukturdienstleistungen in Europa liegt in den frühen 1980er Jahren. Ab diesem Zeitpunkt wurden erste Privatisierungen vorgenommen. Das bedeutete zunächst meist, dass öffentliche Unternehmen in eine private Rechtsform überführt wurden ("formale Privatisierung") und der radikalere Schritt der (Teil-)Veräußerung ("materielle Privatisierung") möglicherweise erst Jahre später folgt. Gewerkschaften stimmten dem ersten Schritt der Privatisierung häufig nach dem Versprechen eines "Bis hier hin - und nicht weiter" zu. 4 Der Aktienverkauf folgte dann häufig in einer Phase, in der die gesellschaftliche Akzeptanz für den zweiten Schritt meist schon erreicht war oder zumindest der politische Wille bestand, auch gegen gesellschaftliche Widerstände den Verkauf durchzusetzen - so geschehen zum Beispiel bei der Privatisierung der Deutschen Bundespost. Allerdings reicht der Begriff der Privatisierung nicht aus, um die Umstrukturierungen im Infrastruktursektor zu beschreiben. Auch solche Unternehmen, die noch der öffentlichen Verwaltung unterliegen, werden beispielsweise durch Verwaltungsreformen (Stichwort: "New Public Management") oder "Benchmark-Kriterien" zunehmend "kommerzialisiert". Das bedeutet, dass auch ohne konkrete Privatisierungsmaßnahmen verstärkt betriebswirtschaftliche Kriterien und Profitorientierung in diesen Unternehmen Einzug erhalten. Die Reorganisationsprozesse sind als Ursache der tiefgreifenden gesellschaftsstrukturellen Umbrüche seit den 1970er Jahren - der Fordismuskrise, der Globalisierung und des Übergangs zu einem finanzgetriebenen Akkumulationsrégime - zu begreifen. Konkret sind es folgende strukturelle Faktoren, die die Reorganisationsprozesse systematisch begünstigen: Zum Ersten das Streben (transnationaler) Konzerne nach neuen Verwertungsmöglichkeiten, zum Zweiten die Verschuldung der öffentlichen Haushalte, zum Dritten die neoliberale Vorstellung, private Unternehmen seien effizienter als staatliche bzw. öffentliche Anbieter.
In Europa verlief der Privatisierungsprozess ungleichzeitig: Großbritannien ist der Vorreiter der europäischen Privatisierungsdynamik - und zwar nicht nur durch den frühen Zeitpunkt der einsetzenden Privatisierungen zu Beginn der 1980er Jahre, sondern auch durch die Radikalität der Maßnahmen. In keinem anderen EU-Mitgliedsstaat wurde bisher die Wasserversorgung vollständig materiell privatisiert; im Bahnsektor ist neben Großbritannien Estland das einzige Land, das seine Eisenbahnen samt Schienennetz vollständig veräußerte. Das britische Modell war zudem maßgebliches Vorbild für die verschiedenen Liberalisierungsrichtlinien der EU im Infrastrukturbereich. Dies gilt sowohl für das Modell der Regulierungsbehörden als auch für die "Entflechtung", d.h. die Zerlegung der staatlichen Monopolisten entlang der Wertschöpfungskette, um gewinnbringende Unternehmenssparten schneller zu privatisieren als solche, die z.B. durch hohe Instandhaltungskosten unprofitabel wären. 5 Deutschland und Frankreich lassen sich eher als Mitläufer im europäischen Reorganisationsprozess der öffentlichen Infrastruktur klassifizieren - hier setzten zwar organisatorische Privatisierungen teilweise recht früh ein, weitreichende materielle Privatisierungen folgten allerdings erst Mitte der 1990er Jahre. Die südeuropäischen Länder hinken im europaweiten Vergleich zum Teil noch immer hinterher, da sie zwar bereits umfassende Privatisierungen vorgenommen, die Liberalisierungsvorgaben zur Marktöffnung allerdings noch nicht vollständig umgesetzt haben. 6 So leitete im Frühjahr 2006 die Europäische Kommission z.B. ein Verfahren gegen Spanien ein, weil die Regierung ein Gesetz zur so genannten goldenen Aktie nicht geändert hatte. Diese sichert der spanischen Regierung ein besonderes Stimmrecht bei den heimischen Energieversorgern, das u.a. deren Übernahme durch ausländische Unternehmen verhindern kann. 7

Die Rolle der EU
Welche Rolle spielt nun die Europäische Union im Prozess der Reorganisation der öffentlichen Infrastruktur? Zunächst mag überraschen, dass die EU keinerlei Kompetenzen besitzt, Privatisierungsprozesse in den EU-Mitgliedsstaaten direkt einzuleiten. Der EG-Vertrag sieht ausdrücklich die Neutralität der europäischen Institutionen in Fragen der Eigentumsordnung vor. Dennoch wird über den Prozess der europäischen Integration die wettbewerbsorientierte Reorganisation gezielt gefördert und damit auch die Privatisierung beschleunigt. Dies betrifft zunächst die strukturellen Veränderungen in der europäischen Ökonomie. Zwar sahen schon die Römischen Verträge aus dem Jahr 1957 grundsätzlich eine Liberalisierung der Dienstleistungsmärkte vor; allerdings verlief die Umsetzung nur äußerst zögerlich. Die Europäische Kommission verhielt sich insbesondere bei der Anwendung der Binnenmarktregeln auf die Sektoren der Infrastruktur sehr zurückhaltend. Erst ab den 1980er Jahren wandelte sich die Ausrichtung des Integrationsprozesses durch die Verankerung der europäischen Kernprojekte, d.h. das Binnenmarktprojekt, die Wirtschafts- und Währungsunion sowie die Finanzmarktintegration. 8 In diesem Zuge wurden wichtige wirtschaftliche Kompetenzen auf die supranationale Ebene übertragen und bekamen eine marktliberale und monetaristische Ausrichtung. Im Kern dient diese "neue europäische Ökonomie" nicht mehr der Stabilisierung nationaler Wohlfahrtsstaaten, sondern als ein treibender Faktor bei der Modernisierung nationaler Reorganisationsprozesse nach Maßgabe neoliberaler Deregulierungs- und Flexibilisierungskonzepte. 9
Ziel des Binnenmarktprojekts war es, die EU "fit für den Weltmarkt" zu machen. Dazu erarbeitete die Kommission - in enger Abstimmung mit den wirtschaftlichen und weltmarktorientierten Eliten - ein umfangreiches Liberalisierungs- und Deregulierungsprogramm, das den grenzüberschreitenden Wettbewerb zwischen europäischen Unternehmen intensivieren sowie nationale Regulierungsrégimes in Konkurrenz zueinander setzen sollte. Bei der Identifizierung noch bestehender Handels- und Investitionshemmnisse geriet zunehmend der Dienstleistungssektor - einschließlich der Infrastrukturdienste - in das Blickfeld der Liberalisierungs- und Deregulierungsagenda. Damit gerieten vor allem nationale Monopolrechte für öffentliche Dienstleistungserbringer unter Druck. Das zweite europäische "Großprojekt", die Wirtschafts- und Währungsunion, hatte zum Ziel, die Geld- und Finanzpolitik der Mitgliedsstaaten zu disziplinieren, um die europäische "Wettbewerbsfähigkeit" zu stärken. Dies hatte eine rigide Handhabung öffentlicher Ausgaben zur Folge, die wiederum das Wirtschaftswachstum dämpfte. Um die Vorgaben zunächst der Konvergenzkriterien und später des Stabilitäts- und Wachstumspaktes nach stabilen Finanzen und nahezu schuldenfreien Haushalten einzuhalten, versuchten nationale Regierungen sowie Kommunen nicht selten, kurzfristige Einnahmen durch Privatisierungserlöse zu erzielen. Die Finanzmarktintegration schließlich förderte in der EU den Einstieg in ein finanzmarktbasiertes Akkumulationsrégime. Auch dies hatte Auswirkungen auf die öffentliche Infrastruktur: Sie bot sich als Anlagemöglichkeit für Unternehmen und institutionelle Anleger an.
Neben diesen strukturellen Faktoren, die den Druck zur Privatisierung erhöhten, erarbeitete die EU auch direkte Liberalisierungsvorgaben. Die rechtliche Grundlage für diese Maßnahmen waren bereits in den Römischen Verträgen enthalten: Die Stellung öffentlicher Dienstleistungen im EG-Vertrag ist äußerst vage. Dies ist darauf zurückzuführen, dass im Vorfeld des Abschlusses der Römischen Verträge bezüglich der Stellung des öffentlichen Sektors nur ein Kompromiss zustande kam. Unverändert sieht der heutige Artikel 86 demnach vor, dass öffentliche Unternehmen nur dann vom Wettbewerbsrecht ausgenommen sind, wenn "die Erfüllung der ihnen übertragenen besonderen Aufgabe [Â…] rechtlich oder tatsächlich verhindert" wird. Hierdurch dürften aber wiederum weder der "Handelsverkehr" noch die "Interessen der Gemeinschaft" behindert werden. 10 Diese widersprüchliche Stellung führte im Laufe der Umorientierung des europäischen Integrationsprozesses mit dem Beginn der 1980er Jahre zu einer Auslegung des Artikels zugunsten des Wettbewerbs durch den Europäischen Gerichtshof und die Kommission. Letztere versteht es als ihre Aufgabe, den Binnenmarkt beständig zu erweitern und damit auch den Anwendungsbereich des Wettbewerbsrecht auszudehnen. Diese Aktivitäten der Kommission beziehen sich auf "staatliche Beihilfen", d.h. z.B. Subventionen oder Sonderkonditionen im Ausschreibungswettbewerb, die zunehmend auch im Infrastrukturbereich aus Brüssel sanktioniert werden. Vor allem aber wurde die EU seit Ende der 1980er Jahren auf sektoraler Ebene aktiv.

Der Beginn: Telekommunikation
Die sektorspezifischen Liberalisierungsinitiativen nahmen ihren Anfang im Telekommunikationssektor. Das ist kein Zufall, denn in den 1980er Jahren trafen hier verschiedene Entwicklungen aufeinander: 1) Zum einen fand in dieser Zeit ein enormer Innovationsschub durch technologischen Wandel statt. 2) Gleichzeitig hatten zahlreiche Schwellen- und Entwicklungsländer als Folge der Schuldenkrise ihre Telekommunikationsmärkte geöffnet und so Verwertungsmöglichkeiten für europäische Unternehmen geschaffen. 3) Schließlich beschleunigten auch die Verhandlungen über ein internationales WTO-Telekommunikationsabkommen den Liberalisierungsprozess, da ein offener Binnenmarkt der EU als Verhandlungsmasse dienen sollte. Kurzum: Die Profiteure eines sich herausbildenden internationalen Telekommunikationsmarktes, d.h. vor allem die sich zunehmend global orientierenden europäischen Unternehmen, drängten auf Marktöffnung. Die Liberalisierung wurde - nach anfänglicher Zurückhaltung und Skepsis - innerhalb von 10 Jahren, d.h. zwischen 1988 und 1998, rasch umgesetzt. Die rasante Entwicklung des Telekommunikationssektors samt sinkender Preise schuf die Legitimationsgrundlage für weitere Liberalisierungsschritte. Es folgten umfassende Liberalisierungsrichtlinien im Elektrizitäts- und Gassektor (1997 bzw. 1998), zu Postdiensten (1997 und 2002) sowie - etwas zurückhaltender - im Bahnsektor. Im Kern sehen diese Richtlinien die Einschränkung nationaler Monopolrechte vor, um konkurrierenden Anbietern den Marktzugang zu ermöglichen. Die Grundannahme ist dabei, dass die Herstellung von Markt- und Wettbewerbselementen zu Produktivitätssteigerungen bei gleichzeitig niedrigeren Kosten führe. Neben den marktschaffenden Elementen umfassen diese Richtlinien jedoch auch marktbeschränkende Regulierungen, v.a. durch Vorgaben zur Bereitstellung eines flächendeckenden Angebots. Ausgestaltung und Umsetzung dieser Richtlinien verliefen sehr unterschiedlich - sowohl in den EU-Mitgliedsstaaten als auch in den einzelnen Sektoren. So waren in vielen Ländern sowohl bei der Reorganisation der Post als auch der Bahn die Widerstände nationaler Gewerkschaften groß. Selbst im Telekommunikationssektor konnte im Jahr 2000 ein vollständig (materiell) privatisierter Markt nur in Großbritannien, Spanien, Italien, Portugal und Dänemark vorgefunden werden. 11 Noch keine Liberalisierungsrichtlinie gibt es für den Bereich Wasser und Abwasser; auch die Deregulierung des öffentlichen Personennahverkehrs steht noch aus. In beiden Sektoren gibt es Verzögerungen: Zwar liegt eine Richtlinie für den Bereich ÖPNV schon länger vor, doch stieß sie bislang auf Widerstand, u.a. durch die Bürgermeister großer europäischer Städte. Noch weitaus größere Kontroversen gibt es im Wassersektor: Erwähnte die Kommission noch in ihrer Binnenmarktstrategie für die Jahre 2003 bis 2006 die Notwendigkeit einer europäischen Liberalisierungs-Initiative, musste sie wenig später zurückrudern. Das Europäische Parlament sprach sich im März 2004 für die Ausnahme des Wassersektors aus den Liberalisierungsplänen der Kommission aus. Vor allem ist der Wassersektor Fokus zahlreicher lokaler Initiativen und damit stark politisiert, da - so heißt es häufig - mit der Privatisierung der Wasserversorgung endgültig eine "letzte Grenze" der Verwertungslogik erreicht sei.
Aktuell wird die Brüsseler Diskussion um den Stellenwert öffentlicher Dienstleistungen von zwei Debatten bestimmt: Zum einen geht es um die EU-Dienstleistungsrichtlinie, die sogenannte "Bolkestein-Richtlinie". Diese zielt zwar anders als die sektorspezifischen Richtlinien nicht direkt auf die Einschränkung nationaler Monopolrechte ab, doch ihre Vorschriften zur Überprüfung zahlreicher nationaler Regelungen betreffen auch die Infrastruktursektoren. Konkrete Ergebnisse eines solchen vorgesehenen Evaluierungsprozesses sind noch kaum absehbar, so dass die Richtlinie vor allem rechtliche Unsicherheit bewirkt. 12 Zum anderen wird in Brüssel über die Erstellung einer Rahmenrichtlinie zum Schutz öffentlicher Dienstleistungen diskutiert. Ein erster Richtlinienvorschlag - initiiert von der sozialdemokratischen Fraktion im Europäischen Parlament - zielt auf eine Verankerung des Schutzes der "Daseinsvorsorge" im EG-Vertrag. Kritiker vor allem der Fraktion der europäischen Linksparteien (GUE-NGL) befürchten dagegen, dass diese Richtlinie die wettbewerbsorientierte Reorganisation der öffentlichen Infrastruktur vielmehr befördern würde, da sie im Wesentlichen nur für hoheitlich und unentgeltlich erbrachte Dienstleistungen gelte. 13

Konflikte und Widersprüche
Die Auswirkungen der Reorganisationsprozesse lassen sich hier nur kurz skizzieren: 14 Während im Telekommunikationssektor tatsächlich die gewünschten Preissenkungen eintraten, ist die Bilanz in anderen Sektoren weit weniger positiv. So zum Beispiel Elektrizität: Zwar sanken nach der Liberalisierung die Preise zunächst über einige Jahre hinweg, nach der Neuorganisation des Marktes zogen sie allerdings wieder an. Deutlicher Arbeitsplatzabbau zeichnet sich häufig schon vor der Privatisierung ab und verschärft sich in der Phase der "Marktbereinigung". 15 Nicht zuletzt zeigt sich, dass sich der Wunsch nach der Herstellung eines "funktionierenden" Wettbewerbs nicht erfüllt hat. In vielen Sektoren ist der Incumbent, d.h. der vorherige staatliche Monopolist, zu einem privaten Quasi-Monopolisten geworden. Dies gilt insbesondere für den Postsektor, in dem sich Konkurrenten erst langsam etablieren können. Selbst die unzähligen privaten Gesellschaften, die nach der Zerschlagung der British Rail entstanden, waren überwiegend Tochtergesellschaften der großen britischen Oligopolisten im Schienen- und Busverkehr. Neben massiver horizontaler Konzentration fand vor allem im Bereich der Ver- und Entsorgung vertikale Konzentration statt: Viele Unternehmen, die in den Sektoren Wasser, Energie oder Abfall tätig sind, sind sogenannte Multi-Utility-Unternehmen, die - so beispielsweise der RWE-Werbeslogan - "alles aus einer Hand" anbieten. Ein gutes Beispiel ist der französische Konzern Veolia (früher Vivendi), der mit Veolia Water, Onyx (Abfall), Dalkia (Energie) sowie Connex (Verkehr) europa- und weltweit auf Einkaufstour geht. Was die Konzentration bewirkt, verdeutlichten nicht zuletzt die vier deutschen Energieriesen RWE, E.on, Vattenfall und EnBW, die im Oktober 2006 gegenüber dem deutschen Wirtschaftsministerium einen Investitionsstopp ankündigten, wenn Preisregulierungen verschärft würden. 16
Diese Situation gibt Anlass zu Auseinandersetzungen, die zunehmend auch auf europäischer Ebene ausgetragen werden:
1. Soziale Proteste: Als erste reagierten vielerorts die Gewerkschaften auf anstehende Privatisierungen, da sie eine Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen befürchteten. In Deutschland war insbesonders die "Zerschlagung der Bundespost" von massiven Protesten seitens der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) begleitet; die allerdings nicht zuletzt durch die fehlenden Möglichkeiten eines politischen Streiks im Widerstand gehemmt war. 17 Weitere Akteure vor allem auf lokaler Ebene sind Bürgerinitiativen, Umweltverbände sowie AktivistInnen der globalisierungskritischen Bewegungen, die in Deutschland mit Hilfe von Bürgerbegehren (z.B. Münster, Hamburg) Erfolge verbuchen konnten. Neu ist, dass sich lokale und nationale Proteste zunehmend auf europäischer Ebene äußern. Auf dem Europäischen Sozialforum im Frühjahr 2006 in Athen bildete sich eine Kampagne zur Verteidigung öffentlicher Dienstleistungen heraus. 18 Deren Mitglieder rekrutieren sich vor allem aus drei Bewegungen: lokalen Initiativen, gewerkschaftlichen Protesten gegen die "Bolkstein-Richtlinie" sowie entwicklungspolitischen Gruppen, die sich bereits gegen das WTO-Dienstleistungsabkommen GATS auf europäischer Ebene koordiniert hatten. Unterzeichner/innen der gemeinsamen Kampagnenplattform sind u.a. verschiedene nationale Attac-Sektionen sowie die französische bzw. italienische Gewerkschaft SUD-PTT und FP-CGIL. Geplant ist, im Jahr 2007 ein europäisches Sozialforum zum Thema öffentliche Dienstleistungen zu veranstalten.
2. Auseinandersetzungen zwischen Unternehmen, Mitgliedsstaaten und Europäischer Kommission: Das beste Beispiel für diese Konstellation sind die Übernahmeversuche im Energiesektor. Fast zeitgleich versuchten der italienische Konzern Enel das französische Unternehmen Suez und E.on die spanische Endesa zu übernehmen. Hier stehen sich drei Akteure gegenüber: Erstens die Konzerne, die unter verschärften Konkurrenzbedingungen weitere Fusionen anstreben; zweitens die spanische bzw. französische Regierung, die um die Eigenständigkeit ihrer Energieversorgung fürchten und ihre nationalen "Champions" in Gefahr sehen; sowie drittens - auch hier - die Europäische Kommission, die sich in ihrer Rolle als Hüter des Wettbewerbs einschaltet und die Eingriffe der Mitgliedsstaaten als "neuen Protektionismus" brandmarkt. Auch in diesem Konflikt zwischen Industrie- und Wettbewerbspolitik gewinnt die europäische Ebene an Bedeutung. So intervenierte die europäische Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes in den Konflikt mit dem Vorschlag, eine weitere Liberalisierungsrichtlinie im Energiesektor zu erarbeiten, um z.B. auch in Deutschland den Wettbewerb um die Leitungsnetze zu verstärken. 19
Das Thema Privatisierung ist schon seit längerem in der politischen Diskussion. Weniger im Blick ist dabei die zentrale Bedeutung der Europäischen Union. Doch gerade hier deuten sich Verzögerungen an: verlangsamte Umsetzung der europäischen Richtlinien, Widerstände im Wassersektor sowie zunehmender Druck seitens des Europäischen Parlaments, einiger Mitgliedsstaaten (v.a. Frankreich) und seit neuestem durch europaweit koordinierte soziale Protestbewegungen. Dennoch lassen sich die nationalen Reorganisationsprozesse keinesfalls vorrangig auf europäische Einflussfaktoren zurückverfolgen. Ein Hinweis darauf ist, dass trotz aller EU-Vorgaben die Reorganisationsprozesse in den einzelnen EU-Ländern von Land zu Land sehr variieren. Selbst die recht konkreten Vorgaben der sektoralen Richtlinien wurden auf unterschiedliche Weise an nationale Traditionen angepasst und je nach politischen Kräfteverhältnissen in aller Schärfe oder nur bis auf das Notwendigste umgesetzt.
Dies bedeutet: Trotz aller EU-Vorgaben können nationale, aber auch regionale und lokale Spielräume bei der Gestaltung der Infrastrukturdienstleistungen durchaus genutzt werden. Proteste auf nationaler und kommunaler Ebene sind deshalb gut und wichtig. Noch wirkungsvoller könnten sie allerdings sein, wenn sie die sich abzeichnenden Konflikte auf europäischer Ebene nutzten und sich der europaweiten Vernetzung lokaler Initiativen und nationaler Kampagnen anschlössen.

Anmerkungen

1) Dieser Beitrag beruht auf einem Forschungsprojekt der Forschungsgruppe Europäische Integration (Marburg) zum Thema "Die Reorganisation der öffentlichen Infrastrukturdienstleistungen in der EU", das von Hans-Jürgen Bieling, Stefan Schmalz sowie der Autorin koordiniert wird. Die Ergebnisse werden voraussichtlich im Frühjahr 2007 veröffentlicht.
2) Vgl. Brie, André/Markov, Helmuth/Dräger, Klaus (2003): Öffentliche Daseinsvorsorge in Europa - Verteidigen und erneuern (Potsdamer Thesen). In: Sozialismus 11/2003, S.35-40, S.37.
3) Vgl. www.powernews.org, 23.6.2006
4) Vgl. Wahl, Asbjörn (2002): Privatisierung, TNU und Demokratie. In: Sozialismus 12/2002, S.33-36.
5) Vgl. Lippert, Inge (2005): Öffentliche Dienstleistungen unter EU-Einfluss. Liberalisierung - Privatisierung - Restrukturierung - Regulierung. Berlin.
6) Vgl. Clifton, Judith et. al. (2003): Privatisation in the European Union. Public Enterprises and Integration. Dordrecht/Boston/London. S. 68ff.
7) Vgl. Handelsblatt, 5.4.2006.
8) Vgl. Bieling, Hans-Jürgen/Steinhilber, Jochen (2000): Hegemoniale Projekte im Prozeß der europäischen Integration. In: Dies. (Hg.): Die Konfiguration Europas - Dimensionen einer kritischen Integrationstheorie. Münster, S.102-130.
9) Vgl. Bieling, Hans-Jürgen/Deppe, Frank (2003): Die neue europäische Ökonomie und die Transformation von Staatlichkeit. In: Jachtenfuchs, Markus/Kohler-Koch, Beate (Hg.): Europäische Integration. Opladen, S.513-539.
10) Art. 86 EGV.
11) Vgl. Clifton et. al. (2003), S.120.
12) Vgl. Böhret, Carl; Grunow, Dieter; Ziekow, Jan (2005): Überprüfung ausgewählter Aspekte des Vorschlags einer Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Dienstleistungen im Binnenmarkt KOM (2004). Kurzfassung. Überarbeitete Fassung. Gutachten im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen. Duisburg/Speyer.
13) Vgl. Wehr, Andreas (2006): Wie man die innerhalb der Europäischen Union gefährdete Daseinsvorsorge genau nicht rettet. Thesen zum Entwurf eines Berichts über Dienstleistungen von allgemeinem Interesse des sozialdemokratischen Europaabgeordneten Bernhard Rapkay. Brüssel.
14) Vgl. Dickhaus, Barbara/Dietz, Kristina (2005): Öffentliche Dienstleistungen unter Privatisierungsdruck. Folgen von Privatisierung und Liberalisierung öffentlicher Dienstleistungen in Europa. WEED.
15) Dickhaus/Dietz 2005, S.66.
16) Vgl. Süddeutsche Zeitung, 17.10.2006.
17) Wehner, Ewald (2005, Hg.): Von der Bundespost zu den Global Players Post AG + Telekom AG. ISW. München.
18) Athens Statement (2006): Another Europe with Public Services for All. 6. Mai 2006, Athen. URL: attac.se/kampanjer/2989/another-europe-with-public-services-for-all, Zugriff am 31.8.2006.
19) Handelsblatt, 4.4.2006.

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Christina Deckwirth ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg und Mitglied der Forschungsgruppe Europäische Integration (FEI).

Aus: Forum Wissenschaft 4/2006