Was für Politiker hat Deutschland! Schröder forderte als Vertrauensbeweis das Mißtrauen. Stoiber und Schönbohm kämpften nicht um, sondern gegen die (Ost-)Wähler. Als Merkel nur knapp ...
... statt hoch gewinnt, dreht der Noch-Kanzler wie unter Drogen stehend frei. Gemeinsam leierte man fast alle Farbspiele rauf und runter, um am Ende da zu landen, wo es jeder Nichtpolitiker sowieso hinlaufen sah, bei der großen Koalition der Wahlverlierer. Dann forderte der Noch-SPD-Vorsitzende seinen Vorstand auf, zwischen zwei Kandidaten für den Generalsekretärsposten zu wählen. Der Vorstand übersah aber die Kleinigkeit, daß es zwar nach Wahl aussehen, jedoch keine sein sollte, und wählte auch noch falsch. Müntefering schmiß beleidigt hin, Stoiber nutzte die Gelegenheit, sich in die bayerischen Büsche zu schlagen. Die Siegerin, vorgeblich eine Linke, wurde zur Verliererin und kandidierte vor Schreck gleich für gar nichts mehr. Jetzt soll es ein Schwiegersohntyp ohne Ecken und Kanten richten. Der gilt als erfolgreich, weil er bei seiner letzten Wahl gerade noch den ersten Platz für seine Partei vor der nun auch nicht gerade kraftstrotzenden PDS sicherte - statt der einstigen absoluten Mehrheit.
Was für Politiker hat Deutschland? Die ganze politische Klasse scheint von der Rolle zu sein. Man mag das für Zufall halten; aber spätestens wenn der Zufall zur Massenerscheinung wird, liegt die Frage nach dem Wesen hinter der Erscheinung nahe. Gemeinsam ist (fast) allen Politikern der neoliberale Geist. Vereint stehen sie eisern zur Agenda 2010. Unerschütterlich sehen sie keine Alternative zu sich, nirgends. Brechts "Wär ich nicht arm, wärst du nicht reich" ist ihnen kein ökonomischer Zusammenhang mehr, und falls doch, dann wegen der leidigen Globalisierung wenigstens kein im Interesse der unteren Schichten auflösbarer. So sind die beiden Noch-Volksparteien zwar keine eineiigen Zwillinge, aber Brüder im Geiste. Brüder im Geiste auch mit Grünen und Liberalen. Die Crux ist nur, dieser Geist reicht nicht, die Welt zu begreifen. Und neuerdings reicht er nicht einmal mehr so richtig, die Welt neoliberal zu gestalten. Er reicht, das Publikum zu unterhalten. Oder zu verdummen. Der Neoliberalismus hat die Meinungshoheit erobert, selbst manches Hartz-IV-Opfer glaubt an die Unausweichlichkeit seines Schicksals.
Stefan Bollinger hat zweifellos recht, wenn er meint, "gut neunzig Prozent der Wählenden entschieden sich für prokapitalistische, neoliberale Parteien", aber hat er wirklich Recht, wenn er hinzufügt, "die absolute Mehrheit denkt und fühlt letztlich neoliberal" (Das Blättchen 23/2005)? Mancher Wähler mag etwas anderes gewählt haben als das, was er zu wählen glaubte, weil er hoffte, in der SPD gäbe es noch Sozialdemokraten und bei den Grünen noch Friedenskräfte mit Einfluß. Das Hauptproblem aber wird sein, daß eine Alternative noch nicht wirklich erkennbar ist. Die Linkspartei ist ein Versprechen, immerhin das, aber mehr noch nicht. Man hätte in den zwei Monaten seit der Wahl gern etwas Kraftvolleres von der neuen Linksfraktion vernommen außer, daß sie unbedingt Bisky zum Parlamentsvize will und die anderen das verhindern, wobei weder die Kandidatur noch die Ablehnung so richtig zu verstehen sind. Jedenfalls ist vorerst eine Situation entstanden, bei der die oben nicht mehr können wie bisher, die unten aber noch nicht wirklich auf anderes bestehen. Vielleicht ist es dieses Zwischenstadium, das nicht nur die Wähler wechselwählerisch macht, sondern auch die politische Klasse kraft- und saftlos. So wären denn das Volk und seine Politiker in ihrer Verunsicherung beieinander. Was für Politiker! Was für ein Volk?
in: Des Blättchens 8. Jahrgang (VIII) Berlin, 21. November 2005, Heft 24