Das Fiasko der 'neuen Mitte'

Die Bundestagswahl 2005 und die Orientierungen der gesellschaftlichen Milieus

Das Bundestagswahl hat eine neuartige Situation geschaffen. Die Wählerinnen und Wähler haben einer Modernisierung, die die soziale Balance außer Acht lässt, eine Abfuhr erteilt. Die Volksparteien haben für ihre Wunschkoalitionen keine Mehrheit erhalten und müssen sich mit Alternativen auseinandersetzen, die von den erstarkten kleinen Parteien repräsentiert werden. Das Ergebnis hat den modischen Konzepten der letzten Jahre, dem "volatilen Wechselwähler" und "der neuen Mitte", den Boden entzogen. Aber auch die umstandslose Rückkehr zu traditionellen Umverteilungskonzepten wäre nicht mehrheitsfähig. Wie könnte ein neuer historischer Kompromiss für eine sozial balancierte Modernisierung zustande kommen?
1. Blockierung oder neue Beweglichkeit?
Die Bundestagswahl 2005 birgt die Chance für einen Neubeginn, so wie dies bei den Wahlsiegen der SPD Willy Brandts 1972 und auch unter der Parole "Innovation und Gerechtigkeit" 1998 möglich war. Wenn wir verstehen, warum diese Aufbruchsbewegungen in Blockaden endeten und demoralisiert wurden, können wir auch verstehen, wie die für einen sozial ausgewogenen Reformkurs unerlässliche Mobilisierung und Ermutigung der Kräfte in Parteien und Gesellschaft erneuert werden könnte.
Das Wahlergebnis ist machtpolitisch kompliziert, aber gesellschaftspolitisch ermöglicht es eine neue Beweglichkeit. Das Wahlvolk hat ein machtpolitisch Mandat zum "Durchregieren" (Merkel) oder zur "Geschlossenheit" (Schröder) verweigert. Die von Merkel und Schröder repräsentierten Volksparteien sind auf ein historisches Tief von 35,2 (-3,3) und 34,3 (-4,3) Prozent gefallen, das ihre Wunschkoalitionen unmöglich macht. Schwarzgelb vereinigt 45,0 Prozent, Rotgrün 42,4 Prozent. Damit ist, so Bettina Gaus in der 'taz' (23.9.05, S. 1), das Wahlergebnis "sehr viel klarer, als die seltsamen Rangeleien von Spitzenpolitikern derzeit nahe legen: Eine große Mehrheit der Bevölkerung steht Veränderungen nicht prinzipiell ablehnend gegenüber, will aber den Sozialstaat nicht wegreformiert sehen. Eine relevante Minderheit wünscht, dass Positionen, die grundsätzlich vom Konsens der Altparteien abweichen, im Parlament gehört und berücksichtigt werden müssen. Diese Minderheit hat links gewählt."
Gleichzeitig hat der Souverän der "Linkspartei" nicht das gesamte Potential ihrer Sympathisanten von etwa 18 Prozent zugewiesen, sondern nur 8,7 Prozent. So existieren neben der "Linkspartei" auch andere linke Potentiale als Wählerklientele von SPD, Grünen und CDU. Vielleicht führt dies mittelfristig zu einem Ende der konzeptionellen Stagnation und damit auch zu einem innovativen, neukeynesianischen Ausweg aus der wirtschaftlichen Stagnation.
Die Neuwahl war nötig gewesen aufgrund einer Blockierung der politischen Entscheidungsfähigkeit. Diese bestand vordergründig zwischen Bundestag und Bundesrat, zwischen Regierungskoalition und Opposition. Entstanden war sie durch den Vertrauensverlust der Sozialdemokratie in den Ländern, der nach 1998 teilweise und nach 2002 flächendeckend zu nie dagewesenen bis zu zweistelligen Verlusten an Wählerstimmen, zum Austritt vieler ihr Leben lang für die SPD engagierter Mitglieder und zum Machtverlust auf Länderebene geführt hatte. Damit verbunden war auch eine Blockierung innerhalb der Parteien, die die Debatten zwischen den Flügeln um Alternativen und um die Akzeptanz im Wahlvolk stillstellte.
Das Gebot der Geschlossenheit im Handeln ist legitim. Fatal für demokratische Parteien war es aber, dieses auch auf die dem Handeln vorausgehende Meinungsbildung auszudehnen. Zentrale Entscheidungen - nicht allein, aber am sinnfälligsten bei der 'Agenda 2010' - wurden ohne vorausgehende Verständigung zwischen den verschiedenen Strömungen von oben durchgesetzt. Dieser Stil hat nicht nur autoritäre Führer-Gefolgschafts-Strukturen begünstigt. Er hat auch verhindert, dass die - durchaus notwendigen - Innovationen sozial ausbalanciert wurden. Steigende Belastungen und Unsicherheiten für die Arbeitnehmer, die, wie Hartz IV, die Entstehung einer neuen sozialen Unterschicht beschleunigen, wurden kombiniert mit enormen, vor allem steuerlichen Entlastungen für die großen Unternehmen. Dahinter stand - daran ist nicht zu zweifeln - keine moralische Unempfindlichkeit oder Mangel an Integrität, sondern der missionarische Glaube an die Verheissungen der wirtschaftsliberalen Ideologie - Leistungssteigerung unten, beschäftigungswirksame Investitionen oben. Und damit auch die Überzeugung, damit das Wahlversprechen einer Mobilisierung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und eines wesentlichen Abbaus der Arbeitslosigkeit einlösen zu können.
Dass diese Erwartungen sich bisher nicht erfüllt haben, dass die Massenarbeitslosigkeit am unteren Ende der Gesellschaft und die Stagnation der Einkommen und sozialen Standards in der großen Arbeitnehmermitte zugenommen haben, hat die Volksparteien - schon seit Beginn der 1990er Jahre - viel von ihrer Mobilisierungs- und Integrationskraft gekostet und eine parteipolitische Verdrossenheit von 60 und mehr Prozent der Bevölkerung erzeugt. Dies ist beredtes Zeugnis der Krise der politischen Repräsentation, der Entfremdung der politischen Repräsentanten von den sozialen Ordnungs- und Gerechtigkeitsvorstellungen der zu repräsentierenden Volksmilieus.
Seit dem 18. September 2005 bildet die Konstellation eines neuen Parteienpluralismus die Ausgangslage für einen mittelfristig möglichen neuen historischen Kompromiss zwischen den in der Bevölkerung tatsächlich vorhandenen Milieus und Lagern. Anstelle der innerparteilichen Gleichschaltung hat das Wahlvolk den Zwang zur Verständigung zwischen unabhängigen Akteuren gewollt, die den Volkswillen vergleichsweise weniger unverzerrt repräsentieren als bisher.
Dies wird aber nur dann möglich sein, wenn der ideologische Nebel fortgeblasen wird, den der langjährige selbstgefällige Konsens zwischen den dominanten Akteuren der Parteien- und Medienbühne gebildet hat. Die Klugheit der Wählerinnen und Wähler hat, in verteilten Rollen, diesem ideologischen Gespinst eine Abfuhr erteilt. Gescheitert sind vor allem die marktradikalen Ideologien, die ein völlig wirklichkeitsfremdes Bild von der Mentalität der Bevölkerung, vom Wahlverhalten, von den Ursachen der wirtschaftlichen Stagnation und von der Rolle der Politik zum unhinterfragten und unhinterfragbaren Dogma entwickelt haben. Die wirtschaftliche Stagnation und die politischen Blockierungen hatten sich gegenseitig bedingt. Diese ideologischen Konzepte müssen wir uns vor Augen führen, wenn wir die Bedingungen eines neuen frischen Windes verstehen wollen.
2. Wechselwähler oder Lagerwähler?
Mit der Wahl vom 18. September hat sich als erstes die modische These des individualisierten Wechselwählers, der durch Medien und Politiker kurzfristig zu mobilisieren sei, als optische Täuschung erwiesen. Nicht die Parteibindungen im einzelnen, aber doch die Bindungen an die beiden großen Lager der "bürgerlichen" und der "linken" Parteien haben sich als langfristig stabil und entscheidend erwiesen. Dies entspricht dem Konzept der klassischen, von Lazarsfeld (1968 [1944]) sowie Lipset und Rokkan (1967) begründeten Wahlsoziologie, die, in modernisierter und differenzierter Form, heute in den Sammelbänden u.a. der Freiburger Schule Oberndörfers (Eith/Mielke 2001), von Niedermayer (2003) oder Brettschneider, Deth und Roller (2002, 2004) und auch in der hannoverschen Wahlforschung (Geiling 2003) vertreten wird.
In der Politikberatung und der Medienöffentlichkeit ist in den letzten Jahren allerdings das Konzept des individualisierten, bindungsfreien Wählers beherrschend geworden. Dieses Konzept geht, mit dem Soziologen Beck (1986), von der These der "Erosion" der sozialen Milieus aus, die in verschiedener Form von renommierten Kanzlerberatern wie den Soziologen Giddens (1999) und Negt (2005) und der Leiter des Berliner Forsa-Instituts, Güllner (Güllner u.a. 2005) vertreten wird und auch dem Zielgruppenkonzept der "neuen Mitte" zugrundelag. Nur eine Woche vor der Bundestagswahl des 18.9.2005 haben Güllner u.a. einen anspruchsvollen Sammelband herausgebracht. Dessen Autoren betonen gegenüber der Freiburger Schule die eigene "zentrale Stellung" und die Aktualität ihrer These der
"Entstrukturierung des Wählermarktes und des Wählerverhaltens ... Ein wichtiges Merkmal des individualisierten Wählers in der Mediendemokratie ist die starke Orientierung an den kurzfristigen Einflussfaktoren der Wahlentscheidung, also den politischen Streitfragen, den Problemlösungskompetenzen und den Spitzenkandidaten. Langfristige Parteibindungen treten demgegenüber in den Hintergrund." (Ohr, in: Güllner u.a. 2005, S. 7, 9, Hervorh. hinzugefügt)
In fast allen Medien ist diese Tendenzannahme verabsolutiert worden in der These des unberechenbaren oder "volatilen", also 'flatterhaften', Wechselwählers. Diese These war wesentlich mitverantwortlich für den Verlauf des Wahlkampfes - nicht aber für das Wahlergebnis. Sie war, wie ich aufzeigen möchte, mitverantwortlich dafür, dass die Demoskopen der CDU monatelang 6-7% mehr voraussagten als die dann erhaltenen 35,3%, während die Voraussagen für die SPD dagegen weniger als 1% von den erreichten 34,3% abwichen ('Spiegel'-Wahlsonderheft '05, S. 63).
Die hohen CDU-Voraussagen waren äußerst folgenreich. Angesichts dieser Siegesgewissheit hielten es 1,3 Millionen CDU-Anhänger für kein Risiko, die FDP zu stärken, die einen entschieden wirtschaftsliberalen Kurs und die Verhinderung einer Große Koalition versprach. Durch diese 2,6% erreichte die FDP ihr Rekordergebnis von 9,8%. Die Siegesgewissheit trug sicherlich auch dazu bei, dass Angela Merkel es für kein Risiko hielt, am 17. August den früheren Verfassungsrichter Paul Kirchhof mit seinem die Wohlhabenden begünstigenden Finanzkonzept in ihr "Kompetenzteam" zu berufen und damit, wie eine Zeitung schrieb, die "neoliberale Katze aus dem Sack zu lassen". Kirchhof wiederum ermöglichte Gerhard Schröder seine Kampagne gegen die 'Politik der sozialen Kälte' der CDU. Mit dieser mobilisierte er, nach einem fast dreijährigen Umfragetief von meist unter 30%, von Mitte August bis Mitte September die vier Prozent, die die SPD über die 30-Prozent-Marke hoben ('Spiegel' 22.8.2005, S. 23).
Die Legende einer "Chaos-Wahl" ('Spiegel' 2005, S. 1) oder "Sensationswahl" ('Focus' Wahl-Spezial 2005, S. 1) war geboren. "Noch nie wurden Politiker und Medien von einer Wahl so überrumpelt", titelte 'DIE ZEIT' (22.9.05, S.1). Die Umfrageinstitute führten diesen anscheinenden "Last-Minute-Swing" ('Focus', ebd., S. 22) von der Union zur SPD auf den hohen Prozentsatz von mindestens 20% (2002 waren es 13%) der Stimmberechtigten zurück, die bis kurz vor der Wahl noch unentschlossen gewesen waren ('Focus', ebd., S. 23). Die Medien hatten in ihnen schon vor der Wahl die berühmten Wechselwähler vermutet, die sprunghaft, unberechenbar und kurfristig beeinflussbar seien. Gerhard Schröder ließ sich selbst als den Urheber jenes sensationellen Swings von vier Prozent und des "Absturzes" der CDU bejubeln und beanspruchte nun die Kanzlerschaft.
Demgegenüber sind die realen Daten äußerst ernüchternd: Im Vergleich mit der Bundestagswahl 2002 gab es keinen Swing von der SPD zur CDU/CSU und auch keinen "Absturz" der CDU/CSU. Auffällig war vor allem die hohe Zahl von Unentschiedenen bis zum Wahltag. Infratest dimap präzisierte, 28% hätten sich erst während der letzten Tage vor der Wahl entschieden, darunter 13% erst am Wahlsonntag selbst (wahl.tagesschau.de, 19.9.2005). 'Focus' (ebd., S. 23) gibt an, von den "Kurzentschlossenen" seien 34% zur SPD, 30% zur Union, aber noch mehr, nämlich 36%, zu den kleinen Parteien gegangen. Im Ergebnis aber haben sich, nach diesen Schwankungen, aber doch die längerfristigen Lagerbindungen durchgesetzt. Dies zeigt die Bilanz der Wählerwanderungen seit der Bundestagswahl 2002 ('Focus', ebd., S. 22). So verzeichnet die Bilanz nicht den behaupteten Swing von der CDU zur SPD. Die SPD hat sogar etwas, nämlich 1,3%, an die Union verloren. Vor allem aber hat sie an die Linkspartei (2,0%), an die "Grünen" (0,4%) und an die Nichtwähler (1,1%) verloren. Die größten Unionsverluste (3,3%) gingen an die FDP (2,6%) und die Nichtwähler (1,5%). Die Daten bestätigen also, dass es sich primär um Wanderungen innerhalb des bürgerlichen und des linken Parteienlager und zu den Nichtwählern, als einer reserve dieser Lager, handelt.
Es liegt nahe zu vermuten, dass die zu hohe Wahlprognose für die CDU/CSU nicht auf falschen Erhebungen, sondern darauf beruht hat, da die Gruppe der "Unentschiedenen" gleich Null gerechnet wurde, als würde sie sich später proportional auf die Präferenzen der etwa 70% "Entschiedenen", bei denen die CDU dominierte, aufteilen. Aber sie gingen, so die genannten Daten, allenfalls zu 30% an die CDU. Die Unentschiedenen haben nicht die CDU symmetrisch gestärkt, sondern überwiegend das linke Lager, in dem die Vertrauenskrise noch größer war.
Schröders Kampagne hat also hauptsächlich dazu beigetragen, ein noch schlechteres Ergebnis zu verhindern, indem sie die Abwanderungen von enttäuschten SPD-Wählern zur Linkspartei und zu den Nichtwählern bremste oder umkehrte. Denn die von ihm geführte SPD hatte ja bereits seit 1999 partiell und seit 2003 flächendeckend hohe, zunehmend zweistellige Stimmenverluste hinnehmen müssen, die sie die Regierungsmacht in sechs Ländern kostete (in Hessen, Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Saarland, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen). Auch diese verheerenden Verluste waren kein Swing sprunghafter Wechselwähler ins andere Lager, sondern, wie statistische Analysen bestätigen, primär Wahlenthaltungen der eigenen arbeitnehmerischen Klientel. - Die Wahlforschung der Freiburger Schule fasst für die SPD zusammen:
"Wie schon 2002 hat der Kanzler mit dem Kunstgriff einer rhetorischen Re-Traditionalisierung der SPD und seiner Politik die spannungsgeladene Atmosphäre eines symbolischen Richtungswahlkampfes zwischen einer auf Gerechtigkeit und soziale Balance ausgerichtete SPD und einer auf soziale Kälte und Gefährdung eben dieser Balance abzielenden neoliberalen Opposition aus Union und Liberalen zu erzeugen versucht. Mit dieser Re-Traditionalisierung sollten die ... Assoziationen der sozialdemokratischen Regierungspolitik mit Hartz IV und der Agenda 2010 überspielt werden. Und zweifellos hat diese atmosphärische Zuspitzung ... den Absturz unter die 30-Prozent-Grenze verhindert." (Oberndörfer u.a. 2005)
Der Kreis von Intellektuellen und Gewerkschaftern, die dennoch mit Günter Grass die Wahlanzeige "Für eine starke SPD" unterzeichnet haben, haben sich zwar diesem symbolisch anti-neoliberalen Richtungswahlkampf angeschlossen. Aber ihr Aufruf formuliert einen Vorbehalt, einen in der nächsten Wahlperiode einzulösenden Anspruch: "Es geht darum, ein möglichst großes Maß an sozialer Gerechtigkeit zu verwirklichen: beim Zugang zu Bildung und Arbeit, bei der Teilhabe an Bildung und Kultur und bei der Verteilung des erwirtschafteten Reichtums in der Gesellschaft." (taz, 16 .9.2005, S. 7) Dies ist eine Mahnung: Das Mandat meint für die SPD und ihre Abgeordneten nicht eine bedingungslose Unterstützung der Agenda 2010, sondern die Wiederherstellung der sozialen Balance.
3. Neue Mittelschichten oder neue Arbeitnehmer?
Die Wahlergebnisse sind bedeutsam für die Kontroverse zwischen den beiden Hauptrichtungen der Wahlforschung darüber, ob die sozialstrukturellen Verortungen der Wählerschaft und damit der Parteien sich auflösen. Nicht kontrovers in der Wahlforschung sind der Bedeutungsverlust der großen Volksparteien und die Überzeugung, dass die Ursachen dafür im Wandel der Sozialstruktur gesucht werden müssen (Oberndörfer u.a. 2005; Güllner u.a. 2005; Güllner lt. 'Frankfurter Rundschau', 21.9.2005, S. 2; Niedermayer 2003; Brettschneider u.a. 2002). Kontrovers ist aber, worin dieser Wandel besteht.
- Die Individualisierungsthese geht von der Entstrukturierung aus, durch die die Wähler unabhängig von den Milieus und damit unkalkulierbar werden.
- Die klassische Wahlsoziologie geht von einer Umstrukturierung aus. Danach sind die Wählerbindungen immer noch nach "cleavages" oder "Konfliktlinien" strukturiert. Diese sind allerdings mehrdimensional und haben auch einen Formenwandel durchgemacht. Wenn man diesen Wandel berücksichtigt, sind sie immer noch eine gute Prognosegrundlage.
Theoretisch schließt das erste Konzept an ökonomische Modelle atomistischer Märkte an, das zweite an das Modell strukturierter Felder.
Das Marktmodell vermutet eine "Entkoppelung der Beziehungen zwischen politischen Parteien und Wählern", verursacht durch eine veränderte "Nachfrage", d.h. eine nachhaltige Veränderung der Werte, ideologischen Orientierungen und vor allem der Parteiidentifikation "als eine langfristig-stabile, emotional abgestützte Bindung" (Güllner u.a. 2005, S. 15). Angeführt werden zwei Phänomene: Die Lockerung der Bindung an die SPD wird auf den "wirtschaftlichen Strukturwandel" zurückgeführt, der die Bedeutung der sozio-ökonomischen Konfliktlinie "fundamental verändert" habe (ebd., S. 16). Durch die "starke Ausweitung des Dienstleistungssektors" sei die traditionelle Arbeiterschaft mit ihren gewerkschaftlich geprägten Wertvorstellungen auf etwa 20% der Wählerschaft geschrumpft. Gewachsen sei demgegenüber der "so genannte 'neue' Mittelstand", bestehend aus den "nachwachsenden Generationen von Angestellten und Beamten" (ebd., S. 16). Die Lockerung der Bindungen an die CDU wird auf die "zunehmende Entkirchlichung als eine Spätwirkung der Rationalisierung moderner Gesellschaften" bezogen, durch die die kirchlich-konfessionelle Cleavage stark an Bedeutung verloren habe (ebd., S. 17). [Kritik?]
Die sozialstrukturellen Veränderungen sind empirisch unbestreitbar. Das Problem liegt darin, dass sie hier nicht als relative Veränderungen, sondern als absolut geltende allgemeine Trends gesehen werden: nicht als Wandel, sondern als "Erosion sozialer Milieus" (ebd., S. 17). Belegt wird dies nicht mit empirischen Untersuchungen, sondern mit zwei Deutungsfiguren aus den 1980er Jahren. Die erste, die Individualisierungsthese von Ulrich Beck (1986, S. 122), beschreibt die zunehmende individuelle Unabhängigkeit und Horizonterweiterung: dass die Zunahme von Wohlstand und Sozialstaatlichkeit auch zu einem kollektiven "Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum" und dazu führe, dass "subkulturelle Klassenidentitäten und -bindungen ausgedünnt und aufgelöst" würden. Die zweite Beobachtung, die These der kognitiven Mobilisierung von Dalton (1984), geht davon aus, dass die Bildungsexpansion die Bürger befähige, in einer komplexen politischen Wirklichkeit eher zu einem eigenständigen politischen Urteil zu gelangen und damit eher unabhängiger von der Autorität einer Partei zu werden. Kurz, beide Thesen beschreiben nichts anderes als die Zunahme von Mündigkeit, d.h. der Emanzipation von äußeren Vormundschaftsinstanzen.
In einer großen qualitativen wie quantitativ-repräsentativen Untersuchung (Vester, von Oertzen, Geiling u.a. 2001 [1993]) haben wir schon 1991 ermittelt, dass es diese Tendenzen gibt, dass sie aber relativ und nicht absolut wirken: Die Klassenmilieus mit ihren Mentalitäten, Wertsystemen und sozialen Ordnungsvorstellungen haben sich nicht aufgelöst, wohl aber in sich selbst modernisiert dadurch, dass die jüngeren Generationen, die eher in Dienstleistungen als in Industrie und Landwirtschaft arbeiten, eigenständiger, eigenverantwortlicher und reflexiver geworden sind. Die Milieus der Arbeitnehmer haben also nach Art von Familienstammbäumen jüngere und modernere Zweige ausgebildet. Aber auch diese erfahren und verorten sich immer noch vertikal als Arbeitnehmer. Kurz, die vertikalen Klassengegensätze haben sich nicht aufgelöst. Sie haben sich horizontal differenziert. Dem entspricht auch eine stärkere Neigung zu einer anderen, damals neuen Partei des linken Lagers, den "Grünen". Die Differenzierung des linken Parteienlagers in SPD und "Grüne" entsprach also der Differenzierung der sozialen und kulturellen Strukturen.
Sehr ähnliche Ergebnisse zeitigten die umfangreichen statistischen Untersuchungen des Mannheimer Sozialstrukturforschers Walter Müller (1997 u. 1998). Die wachsenden Angestellten- und Beamtenschichten sind danach kein amorphes oder 'heterogenes Aggregat', wie dies im Güllner-Band (Ohr, in Güllner, ebd., S. 17) angenommen wird, sondern in sich vertikal und horizontal geteilt. Die vertikale Teilung sieht Müller zwischen Unternehmensmanagern und höheren Beamten einerseits, die bürgerliche Parteien vorziehen, und Beschäftigten der sozialen und kulturellen Dienste andererseits, die sich stärker der SPD und den "Grünen" verbunden fühlen, horizontal. Die horizontale Teilung besteht zwischen eher konservativen oberen Klassenfraktionen (der "administrativen Dienstklasse" von Managern usw.) und eher rot-grün tendierenden oberen Gruppen (den "Experten", die professionalle und semiprofessionelle technische und naturwissenschaftliche Berufe ausüben, und der "sozialen und kulturellen Dienstklasse"). Müller bestätigt damit die horizontale Differenzierung der Sozialstruktur in Richtung der Humandienstleistungen, in denen eben häufiger "grün" oder "rot-grün" gewählt wird.
Diese horizontale Differenzierung kombiniert sich mit einer fortwirkenden und, wie die klassische Forschungsrichtung hervorhebt (u.a. Eith/Mielke 2001, Brettschneider 2002), revitalisierenden Virulenz der vertikalen sozioökonomischen Teilung.
Der Vertrauensverlust der Volksparteien ist auch nach Niedermayer (2003) nicht einseitig mit einer Erosion der Milieus zu erklären. Zwar verloren die Volksparteien seit den 1980er Jahren an Integrationskraft. Die SPD fiel nach 1980, die CDU nach 1994 in Bundestagswahlen immer häufiger unter 40%. Der jetzige Rückgang beider von 38,5% (2002) auf um 35% (2005) markiert keine sensationell neue Tendenz, sondern entspricht den Entwicklungen der 1990er Jahre. Schon damals lag die CDU einmal bei 35,1% (1998) und die SPD einmal bei 33,5% (1990) und ein anderes Mal bei 36,4% (1994). Vor allem haben sich die beiden großen Parteienlager trotz gewisser Schwankungen langfristig überraschend stetig entwickelt. Dabei ist von 1980 bis 2005 nur das bürgerliche Lager (CDU/CSU und FDP) geschrumpft, und zwar nachhaltig um etwa 10% auf 45,0%. Die Abnahme der SPD dagegen war seit 1980 (und beschleunigt seit der deutschen Vereinigung von 1990) mit einer allmählichen Ausweitung des gesamten linken Parteienlagers um etwa 6% auf 51,1% verbunden - aufgrund einer Herausdifferenzierung von "Grünen" und PDS/Linkspartei auf Kosten der SPD (und eben auch teiweise des bürgerlichen Parteienlagers). In diesem Prozess hat das linke Parteienlager 1998, zum ersten Mal in seiner Geschichte, Parität mit dem bürgerlichen Lager erreicht.
Angesichts der neuen Entwicklungen und Differenzierungen hat die klassische Wahlforschung für eine offenere und heuristische Handhabung des Cleavage-Ansatzes optiert, welche die ursprünglich von Lipset und Rokkan (1967) formulierten vier historischen Cleavages allgemeiner fasst und um neue Clevages ergänzt (Eith/Mielke 2001, Vester/von Oertzen/Geiling u.a. 2001 [1993], Brettschneider u.a. 2002, Niedermayer 2003). Dabei wird die vertikale Teilung zwischen Arbeitern und Unternehmern erweitert; sie schließt nun auch den Gegensatz zwischen Arbeitnehmern und Managern mit ein. Hinzugenommen wird die dazu quer verlaufende neue horizontale Teilung, die die Modernisierung der Milieus zwischen 'Autoritarismus' und 'Libertarismus' (Flanagan 1987) oder zwischen 'traditionellen' und 'modernen' Wirtschaftssektoren bzw. Milieus (Müller 1997 u. 1998, Vester u.a. 2001 [1993]) ausdrückt. Auf dieser horizontalen Achse ließe sich auch die Entkirchlichung abtragen.
Dieses Konzept der zwei Dimensionen (zu denen die regionale Ost-West-Disparität hinzukommt) hat einen hohen Erklärungswert für das Wahlergebnis von 2005. Es konvergiert auch mit dem Konzept der Milieu- oder Klassengliederung nach einer vertikalen und einer horizontalen Dimension, wie es, in Anschluss an Pierre Bourdieu (1983), in der hannoverschen politischen Soziologie (Vester/v. Oertzen/Geiling u.a. 2001) entwickelt worden ist. Nach Bourdieu sind die neuen Milieus nichts anderes als die modernen "Fraktionen" der bekannten sozialen Klassen.
Das Konzept der neuen Mitte, das dem sozialdemokratischen Wahlkampf von 1998 und nicht zuletzt Schröders 'Agenda 2010' von 2003 zugrundelag, hat, wie es in Güllners Sammelband heisst, diese Cleavages absichtlich nicht in ihr Zielgruppenmodell aufgenommen: "Indem der Begriff bewusst vage formuliert war, sollte er von der immer stärker individualisierten Wählerschaft weniger als sozialstrukturelles Merkmal denn als Mentalität im Sinne engagierter und aufgeschlossener Leistungsbereitschaft verstanden werden. Indem er das Bedürfnis nach Wandel und Kontinuität gleichermaßen betonte, sollte er potenziellen Wechselwählern die Furcht vor einem Regierungswechsel nehmen", d.h. "neben den Stammwählern auch andere Wählersegmente anzusprechen" versuchen (Dülmer, in: Güllner, ebd., S. 33)
Als Wahlkampfkonzept, dass 1998 zusätzliche Zielgruppen gewinnen sollte, war dies sicher sinnvoll. Aber als Politikkonzept der "neuen Mitte", wie es 1999 unter Beratung des Soziologen Anthony Giddens zustandekam, verwischte es die Grenzen zwischen oben und unten derart, dass es die soziale Balance zugunsten der oberen Schichten verschob. Giddens (1999) ging es um die Belohnung der sog. "Leistungsträger". Diese grenzte er nach unten ab gegen die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger, die aufgrund der nach seiner Auffassung zu hohen sozialstaatlichen Leistungen kein Motiv zum Arbeiten hätten und daher die Arbeitslosigkeit hauptsächlich verursachten. Giddens und ein anderer Vordenker von Tony Blairs 'New Labour', Peter Mandelson, rieten der SPD, sich von der "schrumpfenden Basis der traditionellen Arbeiterschicht" zu lösen, die nur materielle Umverteilung wolle, um sich auf der komfortablen Vergangenheit auszuruhen. Statt dessen müsse man auf die "neuen Dienstleistungsschichten" und ihre "postmaterialistischen Werte" - "jenseits von links und rechts" setzen: auf Ökologie, Gleichstellung der Frauen, Multikulturalität, Pluralität der Lebensstile usw.
Dieses Gesellschaftsbild enthält nicht nur eine starke Abwertung der Volksmilieus, die, aus der Perspektive der alten puritanischen Arbeitsmoral, als faul, sittenlos und selbstsüchtig erscheinenn - eine Rechtfertigung für das sozialdarwinistische 'no pity for the poor'. Es enthält auch eine besondere Idealisierung der oberen Gruppen, die von der Forderung nach Umverteilung ausgenommen werden. Die Diagnose mündet in einen neuen puritanischen Tugend-Diskurs. Der Staat müsse die Bürger zum Sparen und zur Verantwortung aktivieren und alle Möglichkeiten des 'Missbrauchs' und der Verschwendung der sozialen Leistungen abbauen.
Der gleiche Tenor durchzog die berühmte Rede, mit der Schröder am 14. März 2003 die 'Agenda 2010' ankündigte. Die Maßnahmen wurden moralisch begründet. Die Absenkung des Arbeitslosengeldes solle als "Arbeitsanreiz" wirken - also als Maßnahme, vorgebliche Arbeitsunwillige zur Hinnahme von Niedriglöhnen zu nötigen: "Niemandem aber wird künftig gestattet sein, sich zu Lasten der Gemeinschaft zurückzulehnen. Wer zumutbare Arbeit ablehnt - wir werden die Zumutbarkeitskriterien verändern - der wird mit Sanktionen rechnen müssen."
Das sozialdemokratische Grundmotiv der Solidarität auf gleicher Augenhöhe, wie es in den sozialen Sicherungssystemen auf der Basis der Gegenseitigkeit vertreten wird, ist von Schröder umgedeutet worden. Solidarität versteht er, so Gesa Reisz (2004, S. 60), nur noch "asymmetrisch", als Solidarität der Gesunden mit den Kranken und der Starken mit den Schwachen; denn "das 'Wer muss Wem zahlen' in der Rhetorik Schröders stellt vor allem die Belastung der vermeintlich gerade Starken und Wohlhabenden dar und nicht den gegenseitigen Risikoausgleich unter Gleichen."
Mit dem dräuende Ton des moralischen Vorwurfs gegen Faulheit und Verschwendung sollte Schröder in der großen Arbeitnehmermitte, die sich nicht auf den Status unverantwortlicher Kinder herabmindern lassen möchte, viel Unwillen erzeugen. Schröders Verkennung beruhte darauf, dass das Sozialmodell der Bundesrepublik im Grundverständnis der meisten Milieus nicht nach dem Fürsorge- und Protektionsprinzip, sondern nach dem Prinzip der sozial ausbalancierten Eigenverantwortung, wie es das Sozialversicherungsprinzip institutionalisiert hat, interpretiert wird. Das Konsensprinzip heisst Leistung gegen Teilhabe: Leistung, Eigenverantwortung, Flexibilität, ja durchaus auch Opferbereitschaft sind keine Zumutung - solange sie auf Gegenseitigkeit beruhen und wenn sie sozial ausbalanciert sind.
4. Soziale Milieus und politische Lager
Die Wahlniederlagen vom 18. 9. 2005 beruhten zweifellos darauf, dass die gesellschaftspolitischen Lager der Bevölkerung innerhalb der Volksparteien nicht mehr hinreichend repräsentiert worden waren. Sie waren Ausdruck der schon länger anhaltenden, von den Parteien aber nicht ernstgenommenen Krise der politischen Repräsentation. In beiden Parteien waren die Flügel, die Kompromisslinien miteinander hätten aushandeln können, immer weniger angemessen, d.h. entsprechend den Lagergrößen in der Bevölkerung, vertreten. Dies hängt nicht zuletzt mit der Art und Weise zusammen, in der Angelika Merkel und Gerhard Schröder ihre Machtkämpfe führten. Sie und ihre engeren Klientele setzten sich durch, indem sie ihren eigenen Kurs als alternativlos darstellten, d.h. nicht als Kompromiss zwischen verschiedenen Flügeln, der in einer neuen Integrationsformel hätte münden können. Infolge dieser Blockierung der Aushandlungskultur waren die von ihren Rivalen repräsentierten Alternativen in den vorpolitischen Bereich abgedrängt worden. Die wirtschaftsliberalen Positionen waren in der Programmatik überrepräsentiert. Dies stand in einem deutlichem Kontrast zu der Tatsache, dass nach vielen Umfragen mehr als drei Viertel der Bevölkerung eine Fortsetzung des solidarischen Sozialmodells der Bundesrepublik befürworten.
Damit ist allerdings noch kein einheitliches Konzept einer solidarischen sozialen Ordnung vorgezeichnet. Dieses muss vielmehr erst zwischen den politischen Repräsentanten ausgekämpft und ausgehandelt werden. Denn die mehrheitliche Befürwortung des sozialen Ausgleichs verteilt sich auf verschiedene Varianten des solidarischen Sozialmodells, die wiederum in verschiedenen Interessenvertretungen und verschiedenen Flügeln der Parteien und ihren Sprechern verkörpert sind. Die Repräsentanten sind dabei nicht völlig frei, wie dies die heute wiederauflebenden populistische Vorstellungen einer direkten Beziehung zwischen Politikern und Volk, die teilweise auch in den Äußerungen Schröders mitschwingen, nahelegen. Die Akteure können sich langfristig nicht ungestraft von den Spielregeln des Feldes der korporativen und bürgergesellschaftlichen Interessenvertretungen und des Feldes der politischen Parteien und Institutionen lösen.
Die Varianten der normativen Modelle der Sozialordnung unterscheiden sich danach, wie die soziale Ordnung insgesamt gegliedert sein soll. Unser Schaubild zeigt, in sehr stark vereinfachter Darstellung, die sechs grundlegenden Ordnungsmodelle in der Gesellschaft der Bundesrepublik. Die Ordnungsmodelle sind 1991 zum ersten Mal auf der Grundlage einer großen repräsentativen Stichprobe empirisch gewonnen worden (differenziert dargestellt in: Vester, von Oertzen, Geiling u.a. 2001, S. 58-64, 249f, 427-491). Nachfolgende Befragungen haben bestätigt, dass es sich um lang anhaltende Grundüberzeugungen handelt (vgl. u.a. Vester 2001).
Tabelle 1
Bemerkenswert ist, dass sich, trotz der Offenheit der Befragung, sechs in sich relativ konsistente Vorstellungen von einer gerechten sozialen Ordnung herauskristallisiert haben. Sie knüpfen an die großen historischen und auch neuen Cleavages und Lagerbildungen an. Die Ordnungsvorstellungen sind zwar nicht intellektuell ausgearbeitet, sondern in Begriffen des Alltagsbewusstseins formuliert. Dennoch knüpfen sie sichtbar an die liberalen, sozialdemokratischen, sozialistischen, konservativen und protektionistischen, aber auch die neuen postmaterialistischen Cleavages an. Von der in der Ideologie der 'neuen Mitte' behaupteten Auflösung in individualisierte Einzelmenschen kann auf der Ebene der Grundüberzeugungen also kaum die Rede sein.
Wenn sich die Milieu- und Lagerbindungen auch nicht aufgelöst haben, so haben sie sich doch erkennbar differenziert.4 Hinter unserem vereinfachten Raumbild steht ein differenziertes Zusammenspiel von ökonomischer Lage, Milieukultur und politischen Ordnungsvorstellungen der Individuen, die dann von den Parteien mobilisiert, repräsentiert und in Kompromisse überführt werden müssen. Die klassische Wahlsoziologie hatte schon diesen Gesamtzusammenhang vor Augen, wenn sie von längerfristigen, milieubezogenen Grundüberzeugungen ausgeht, die die Parteien nicht verändern, sondern nur verstärken und mobilisieren können (Lazarsfeld u.a. 1968 [1944]).
Die dem Individualisierungsansatz verpflichtete Umfrageforschung widmet sich nur einem Ausschnitt dieses komplexen Feldes, der Mobilisierung und Verstärkung von Wählerneigungen in Wahlkämpfen. Diesen Ausschnitt untersucht sie facettenreich mit hochentwickelten professionellen Techniken, wie dies der Sammelband von Güllner (2005) dokumentiert. In dem Band wird jedoch ausdrücklich eingeräumt, dass ihre Umfrageforschung bisher noch nicht untersucht hat, welches denn die mittel- und längerfristigen Grundauffassungen sind, die von den Akteuren der Wahlkämpfe mobilisiert und verstärkt werden.5 Unsere Untersuchungen seit 1991 (Vester u.a. ebd., Vester ebd.) haben dazu beigetragen, diese Lücke in der repräsentativen Umfrageforschung zu schließen und die dauerhaften Grundmuster, wie sie die Cleavage-Theorie im Auge hat, quantitativ näher zu ermitteln.
5. Durchregieren oder Aushandeln?
Das diese Untersuchungen zusammenfassende, vereinfachte Raumbild verdeutlicht die grundlegenden Strukturdimensionen des politischen Raumes. Die Größe und räumliche Verteilung der verschiedenen Ordnungskonzepte unterstreichen, dass die Thesen der 'neuen Mitte' aber auch einer 'strukturellen linken Mehrheit' nicht aufrechterhalten werden können.
Zunächst sehen wir, dass die Zunahme der neuen Dienstleistungsberufe an der grundlegenden vertikalen Dreiteilung der Gesellschaft nichts geändert hat. Die Dreiteilung verkörpert sich in typischen gesellschaftlichen Ordnungsbildern der privilegierten oberen Milieus (um 25%), der nichtprivilegiertenm Arbeitnehmermitte (um 50%) und der unterprivilegierten Milieus (um 25%). Eine Mehrheit gibt es nicht für eine 'neue Mitte', sondern für die grundsätzliche Beibehaltung des historischen arbeitnehmerorientierten Solidaritätsmodells der Bundesrepublik.
Diese drei Stufen teilen sich allerdings entlang der horizontalen Achse. Dabei ist bemerkenswert, dass die ständischen Ordnungsmodelle mit knapp 60 Prozent überwiegen. Die Vorstellung einer modernen linken Mehrheit erweist sich damit ebenfalls als Illusion. Sie könnte nicht ohne weiteres gegen die mit 18% sehr große Gruppe der konservativen Arbeitnehmer, die in der SPD vom "Seeheimer Kreis" und in der Union von deren Arbeitnehmerflügel vertreten wird, durchgesetzt werden. Eine "linke Mehrheit" bestünde selbst dann nicht, wenn die Linkspartei mitgerechnet würde.
(Hinzugedacht werden muss hier noch die dritte Teilung, die regionale Cleavage. Sie kam sehr deutlich in den Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland, aber auch Nord- und Süddeutschland zum Ausdruck. Insbesondere lagen am 18.9.2005 im Norden die sozialdemokratischen, im Osten - und im Saarland - die linksparteilichen Stimmen deutlich über dem Durchschnitt.)
Trotz dieser horizontalen und regionalen Differenzierungen haben die Ordnungskonzepte der Lager durchaus einen potentiellen gemeinsamen Nenner. Die arbeitnehmerischen Solidaritätsmodelle überwiegen mit 49%. Es sind solche Modelle, für die Solidarität und Eigenleistung zusammengehören und nicht - wie in neoliberalen oder protektionistischen Sozialmodellen - gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Allerdings teilen sich die Solidaritätsmodelle horizontal in eine ständische Untergruppe, die u.a. von den konservativen Gewerkschaftern in der CDU (Arbeitnehmerflügel) und der in SPD ("Seeheimer Kreis") vertreten wird, und eine modernere Untergruppe, die u.a. von der SPD-Linken ("Demokratische Linke 21") vertreten wird. Eine Große Koalition böte die Chance, wenn auch nicht Gewissheit, dass diese beiden Richtungen weniger auseinanderdividiert werden könnten als bisher. Eine solche horizontale Allianz der Arbeitnehmerflügel wäre nicht allein für Arbeitsmarkt-, Wirtschaftpolitik, sondern auch für die Sozial- und Bildungspolitik bedeutsam. Nicht zuletzt die Bildungspolitik war seit den 1980er Jahren von konservativer Seite vollständig blockiert, Ursache des internationalen Rückstands in der Mobilisierung der hochqualifizierten wie auch der niedrigqualifizierten Bildungspotentiale.
Die Chance eines neuen historischen Kompromisses bestünde außerdem in potentiellen vertikalen Aushandlungsprozessen. In einer Großen Koalition käme auch das Traditionell-konservative Lager mit an den Tisch, insbesondere, wenn die Ausschließung seines Exponenten, Friedrich Merz, aus dem Führungskreis der CDU ebenso beendet würde wie die Ausschließung des Exponenten, Horst Seehofer. Die Blockade zwischen diesen Flügeln kann nicht durch "Durchregieren", sondern allenfalls durch "Aushandeln" aufgelöst werden. Der Stachel der Wählerverluste an die Nichtwähler und die Linkspartei könnte dazu beitragen, dass es - anstelle des bisherigen Ausgrenzens - wieder zum Aushandeln kommt.
Von dem in einer Großen Koalition zusammengebundenen Kern eines neuen historischen Kompromisses aus könnten auch die Minderheitengruppen, die derzeit mehr durch die kleinen Parteien und die Nichtwähler repräsentiert werden, interessiert werden. Die große Minderheitsgruppe der Modernisierungsverlierer von 27%, die ein protektionistisches Modell gutheißen, könnten durch eine Politik sozialer Mindestgarantien ins Boot geholt und dem Rechtspopulismus abspenstig gemacht werden. Die Minderheitsgruppe der 'postmaterialistischen' Radikaldemokraten (11%) könnte interessiert werden durch eine partizipatorische Gestaltung des Wohlfahrtsstaates und eine dynamisierende, sozial ausgewogene Politik des öffentlichen und privaten Dienstleistungssektors, in dem die Klientele der Grünen und des 'grünen Teils' der Sozialdemokratie ihr Brot verdienen.
Die Chance einer Modernisierung des Sozialstaats liegt nicht im populistischen Durchregieren, vorbei an dem scheinbar unbeweglichen Feld des korporativen und bürgergesellschaftlichen Aushandelns der Interessen, gestützt auf den direkten Appell an das Wahlvolk. Das Wahlvolk hat diesen Appell zurückgegeben und Druck auf die Akteure dieses Aushandlungssystems gemacht. Sie sind jetzt gefordert. Wenn sie versagen, dann könnten kommende Wahlen deutlich machen, dass das jetzt noch glimpfliche Abschneiden der Volksparteien nur ein Mandat auf Widerruf war.
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Vortrag auf der Tagung des Forum Dl21 am 24. September 2005 in Berlin, ausgearbeitet gemeinsam mit der Wahlforschung der Universität Hannover (Prof. Heiko Geiling)

Erschienen in spw 145 (September/Oktober 2005)