Terrorbekämpfung statt NATO-Krieg! Ein Plädoyer, verfaßt am 13. September 2001
Zur selben Zeit, da unsere Kleine in Jena aus dem Kindergarten abgeholt wurde, liefen am Dienstagnachmittag die CNN-Bilder der Zerstörung des World Trade Centers auf den Bildschirmen...
Zur selben Zeit, da unsere Kleine in Jena aus dem Kindergarten abgeholt wurde, liefen am Dienstagnachmittag die CNN-Bilder der Zerstörung des World Trade Centers auf den Bildschirmen, und erst viel später wurde mir bewußt, daß an diesem Tag irgendwo in New York Tausende von Kindern nicht aus ihren Kindergärten abgeholt wurden (und daß auch das WTC einen Kindergarten beherbergte). Die Bilder dieser Tage erscheinen mir in eigenartiger Mischung irreal, wie eine Computer-Animation, und zugleich bekannt, erinnern sie doch an meinen Besuch im Pentagon, den Rundgang auf dem Dach des World Trade Centers und den Blick auf New York, den es so nie mehr geben wird.
Ich bin schockiert, aber nicht überrascht. (Nebenbei: Niemand komme mir jetzt immer noch mit "sicheren Atomkraftwerken"!) 1987 habe ich das Buch "Taktik gegen Terror" des neuseeländischen Antiterrorismusspezialisten Gayle Rivers rezensiert, in dem dieser sich auferlegte, auch "auf die besonderen Probleme der größten und verwundbarsten Stadt Amerikas zu sprechen zu kommen", das Kapitel derart abschließend: "Die Skyline von Manhattan ist eines der modernen Weltwunder. Für jeden, der mit Terrorismusbekämpfung zu tun hat, zeigt sie viel zu viele, viel zu leichte, viel zu 'kosteneffektive’ Ziele für terroristische Anschläge."
Nicht nur in der Fachliteratur wurde das Szenarium vorweggenommen: Muslimen fällt vielleicht der Koran ein: "Schon die, welche vor ihnen lebten, schmiedeten Ränke, doch packte Allah ihr Gebäude an den Fundamenten, und das Dach stürzte auf sie von oben, und die Strafe kam über sie, von wannen sie dieselbe nicht erwarteten." (16. Sure 28 [26], zitiert nach meiner Max-Henning-Übersetzung.) In "America. A prophecy", dem zwischen 1791 und 1793 verfaßten Gedicht William Blakes, wird eine Katastrophe ("Standen in den Flammen und schauten die im Himmel aufgezognen Armeen... flogen vor aus ihren Wolken, Auf Amerika fallend"), und zwar an den vier jetzigen Tatorten, vorausgesagt: "Die Bürger New Yorks schließen die Bücher, versiegeln die Truhen; Die Matrosen von Boston werfen Anker und entladen; Der Schreiber von Pennsylvania wirft die Feder zur Erde; Der Erbauer Virginias läßt den Hammer fallen" (in Virginia, außerhalb der Hauptstadt Washington D. C., liegt das Pentagon). In Thomas Harris Thriller "Schwarzer Sonntag" lassen Terroristen einen Ex-Navy-Piloten im Selbstmordattentat ein Stadion angreifen; der Spionagegeschichtenautor Tom Clancy, der für die US-Army Krisenszenarios entwirft und dabei Insiderkenntnisse bekommt, beschrieb in "Befehl von oben" den Crash einer entführten Boeing 747 im Capitol in Washington D.C. Szenen der USA-"Spiel"-Filme "Independence Day", "Godzilla" und "Ausnahmezustand" sind einem Millionenpublikum bekannt; in "Medusa Touch" stürzt Richard Burton einen Jet in ein Haus. Im Internet fragen sich bereits Computerspielenthusiasten, ob die Auslieferung von Microsofts "Flight Simulator 2002" verzögert wird, weil die Twin Towers in New York noch aus dem Spiel, mit dem vielleicht auch die Terroristen ihre teuflischen Flüge übten, herausretuschiert werden müssen. Der größte Terror benötigte keine Kalaschnikows, sondern Pentium-III-Computer. "Das ist wie im Film", hört man dieser Tage viele angesichts der präzisen CNN-Peep-Show (CNN-Lauftext am Tag des Attentats: "Disneyland and Disneywold closed") sagen. Die Verwirrung der Gefühle ist, daß wir durch Theorie, Literatur, und Trickfilme die Bilder schon kennen - und nun "wiedererkennen", daß alles nicht nur Fiktion bleibt, sondern brutale Realität werden kann.
Jetzt heißt es, "die Welt" müsse gegen die Terroristen zusammenstehen, die damit quasi als "Aliens", um im Hollywood-Jargon zu bleiben, präsentiert werden. Eine neue Selbsttäuschung oder bewußte Irreführung zwecks Kriegsvorbereitung, denn schaut man sich in der Welt um, so sind Demokratien unseres Verständnisses keineswegs selbstverständlich; nicht einmal der als Freund des Westens angesehene ägyptische Präsident Mubarak stellt sich einer demokratischen Legitimation. (Übrigens hat Professor Noam Chomsky vom renommierten MIT in Boston 1979 errechnet, daß von 35 Staaten, die sich der Folter bedienen, 26 Verbündete der USA waren.) Versucht "der Westen" jetzt aber rhetorisch oder gar praktisch, diesen nicht unbeachtlichen Teil der Welt zu amputieren, so werden damit nur neue Ressentiments gegen die Arroganz jener Demokratien mobilisiert.
Schon beim Kosovokrieg, der anfangs offiziell nicht einmal als "Krieg" bezeichnet und dann als "humanitäre Intervention" ausgezeichnet wurde, hätte ich, wäre es nach der breiten Mehrheit der Kriegsbefürworter im Bundestag gegangen, vergessen sollen, was ich noch im Jurastudium als Selbstverständlichkeit gelernt hatte: "Dagegen besteht in der Praxis und in der Literatur weitgehende Übereinstimmung darüber, daß die Intervention zum Schutz fremder Staatsangehöriger, die sog. Humanitäre Intervention, nach geltendem Völkerrecht unzulässig ist." So 1979 das Völkerrecht-Standardlehrbuch der BRD-Universitäten von Eberhard Menzel und Knut Ipsen.
Daß Terrorismus entschieden bekämpft werden muß, ist (auch völkerrechtlich) geboten. Daß dabei Bundeskanzler Schröder von einem Krieg gegen die zivilisierte Welt spricht, ist fragwürdig. Von solcher Kreuzzugsmentalität wider die "Unzivilisierten" distanzierten sich in diesen Tagen der Islamexperte Udo Steinbach ebenso wie der französische Außenminister Védrine, und die Verschärfung der Ressentiments gegen verschleierte Muslime in den Straßen der "zivilisierten" Welt läßt ahnen, worin die Brisanz solcher Begriffe liegt.
Zu Demokratie, Rechtsstaat und der in diesen Tagen beschworenen "zivilisierten Welt" gehört nicht zuletzt rechtliches Unterscheidungsvermögen. Es ermutigt, daß wenigstens der französische Verteidigungsminister Richard sich weigerte, den Terror als Kriegshandlung zu qualifizieren. Terror ist nicht Krieg. Terror unterliegt der Strafverfolgung und erfordert Auslieferungen, ist aber kein Kriegsgrund. Auf dem Höhepunkt des bundesdeutschen Terrorismus der Roten-Armee-Fraktion verlangten gefangene Terroristen, zu deren Strafverteidigern seinerzeit u.a. der heutige Bundesinnenminister Otto Schily gehörte, als "Kriegsgefangene" behandelt zu werden und daß Kriegsrecht auf sie angewandt würde - selbstverständlich lehnten die BRD-Strafverfolgungsbehörden dieses Ansinnen ab. USA-Präsident Bush unterstellt jedoch eine "Kriegserklärung", und auch deutsche Politiker reden nun so. Krieg "erklärt" man einem Feind, und den Krieg beendet man mit einem Friedensvertrag und völkerrechtlichen Vereinbarungen - will man sich logischerweise irgendwann mit dem unsichtbaren Gegner des 11. Septembers 2001 derart "vertragen" und diesen derart politisch und rechtlich anerkennen? (Abgesehen von der verfassungsrechtlich klärungsbedürftigen Lage, daß gemäß Artikel 1 Abschnitt 8 USA-Verfassung nicht der Präsident oder Verteidigungsminister, sondern der Kongreß den Krieg erklärt.) Anfang Juni letzten Jahres hatte die Nationale Terrorismuskommission des USA-Kongresses ihren Bericht vorgelegt und den Kongreß aufgefordert, "unverzüglich" endlich erst einmal die Internationale Konvention zur Bekämpfung der Finanzierung von Terrorismus zu ratifizieren und umzusetzen. Statt dessen wird nun erstmals nach über einem halben Jahrhundert von der NATO mit deutscher Zustimmung der Bündnisfall gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags erklärt, als wenn das Attentat auf die Türme des World Trade Centers gleichzeitig dem Frankfurter Messeturm oder dem Jenaer Intershop-Tower gegolten hätte. Wieder scheint, ausgerechnet bei der beanspruchten Verteidigung von Freiheit und Recht, unerheblich, was rechtlich erforderlich wäre. Denn im NATO-Vertrag wird der bewaffnete Angriff eines Staates vorausgesetzt. Daran ändert auch das von den Staats- und Regierungschefs ohne Beteiligung der Parlamente der 19 Mitgliedsstaaten zum 50. Jahrestag 1999 verabschiedete "Neue Strategische Konzept der NATO" nichts, in dessen autorisierter Übersetzung in Punkt 24 es explizit in Abgrenzung vom "Fall eines bewaffneten Angriffs" gemäß Artikel 5 und 6 vage heißt: "Sicherheitsinteressen des Bündnisses können von anderen Risiken umfassenderer Natur berührt werden, einschließlich Akte des Terrorismus." Nichts von den Voraussetzungen des Artikels 5 wird bisher aber behauptet, geschweige denn bewiesen. Statt dessen erinnert manches in diesen Tagen an die Floskel aus dem Film "Casablanca": Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen!
Sind die Flugzeugattacken überhaupt "bewaffnete Angriffe" im Sinne des Vertrags bzw. des diesem zugrunde liegenden Artikels 51 der Charta der Vereinten Nationen? Erfolgten die Angriffe auf Symbole der USA überhaupt von außen? Und falls sie außerhalb der NATO-Führungsmacht USA verortet werden könnten, welcher Staat könnte dafür verantwortlich gemacht werden? Es ist nicht abwegig, bei der beanspruchten Verteidigung von Demokratie und Recht hieran zu erinnern - ich zitiere aus dem mir 1983 vom Bundesverteidigungsministerium übersandten offiziösen, von Klaus-Dieter Schwarz herausgegebenen Handbuch "Sicherheitspolitik", in dem im Beitrag Knut Ipsens, Kriegsvölkerrechtsexperte und bekannter Grundgesetzkommentator, über "Völkerrechtliche Probleme des Nordatlantikvertrags" problematisiert ist, "ob diese Aktionen überhaupt einem Staat völkerrechtlich zurechenbar sind und ihn damit als Angreiferstaat qualifizieren". Der Völkerrechtler meinte, daß "selbst bei bewaffneten Aktionen, die offensichtlich von regulären Streitkräften durchgeführt werden, es im Falle ihrer örtlichen, zeitlichen und kräftemäßigen Begrenzung zweifelhaft sein mag, ob bereits ein bewaffneter Angriff im Sinne des Artikels" des NATO-Vertrags vorliegt; eben derartige Begrenzungen (drei Orte, wenige Minuten zwischen Entführung und Absturz) kennzeichnen aber jenen Flugzeugterrorismus. Ipsen machte "deutlich, daß das scheinbar evidente Faktum des ‚bewaffneten AngriffsÂ’ ... eine eingehende Sach- und Rechtsprüfung sowie eine entsprechende Entscheidung verlangt." Meines Erachtens haben wir derzeit wiederum, wie bereits bei den Balkaneinsätzen, eine rechtswidrige Selbstmandatierung der NATO als Ordnungsmacht festzustellen. Trotz des kaum faßbaren Terrors sollte die Reaktion hierauf nicht unbedacht erfolgen. Warum drängt es Deutsche, die Weihnachten 1979 lautstark die gegen Fundamentalisten gerichtete UdSSR-Intervention nach Afghanistan verurteilten, heutzutage als Gefolge der USA, deren Politik gegenüber der islamischen Welt honorige Kritiker hat, auf dem Kriegspfad gegen - teilweise einst mithilfe der USA erst erstarkte - "Schurkenstaaten" zu marschieren? Bei der Trauer um die derzeit rund 5000 Toten sollte nicht vergessen werden, daß diese Zahl etwa den Opfern entspricht, die seit vielen Jahren allmonatlich im Irak aufgrund der (inzwischen auch von einem deutschen Diplomaten kritisierten) USA-Sanktionen zu beklagen sind; noch zwei Tage vor den Attentaten sollen im Süden des Iraks acht Menschen bei Luftangriffen der USA und Großbritanniens auf zivile Gebiete umgekommen sein.
Mary Kaldor (London School of Economics, letztes Jahr erschien in Deutschland ihre Studie "Neue und alte Kriege: Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung") schrieb in der "Frankfurter Allgemeine" (14. September): "Die Angreifer waren keine militärischen Gegner, sondern Kriminelle und sollten als Kriminelle behandelt werden, nach internationalem Recht und nicht nach den Maßstäben eines eingebildeten Krieges. ... Es besteht die große Gefahr, daß die Vereinigten Staaten die Botschaft nicht verstehen werden. Die Versuchung, die patriotischen Gefühle anzuheizen und an den Geist von Pearl Harbor zu erinnern, könnte zu einem Krieg gegen erfundene Feinde führen, aus dem die Unternehmer der Gewalt nur neue Nahrung für ihre nächsten Gewalttaten beziehen."
In der Wochenzeitung "Die Zeit" mahnt Altbundeskanzler Helmut Schmidt, es sei "sowohl für die USA als auch ebenso für die europäischen Regierungen notwendig, nicht auf Gerüchte hereinzufallen und falsche Schuldige auszumachen. Die enorme Aufregung kann manch einen und in manchen Orten der ganzen Welt zu hysterischen Reaktionen verleiten. Deshalb gilt für alle Regierungen und für alle Politiker als erste Verhaltensregel: Kühle, abwägende Vernunft bewahren. Es ist denkbar, dass wir es mit einer privaten fanatischen Terrorbande zu tun haben. Es ist auch denkbar, dass ein Staat indirekte Beihilfe geleistet hat, so wie wir es im Falle des Terrors der RAF erlebt haben. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass es sich um eine von einem Staat ins Leben gerufene Terrororganisation handelt. In jedem dieser möglichen Fälle wird die notwendige Reaktion durch die USA und durch die von Terroristen bedrohten Staaten verschieden sein müssen. In jedem Falle werden rechtsstaatliche Regierungen ihre eigene Verfassung und die Charta der Vereinten Nationen zu wahren haben. Sofern sich aufseiten der Terroristen ein Staat oder eine Regierung als beteiligt herausstellen sollte, so kann daraus ein Krieg entstehen."