Im Innern des Protektorats

In Afghanistan haben Demokratie und Menschenrechte noch immer wenig Chancen

Anfang Januar 2004 verabschiedete die traditionelle Ratsversammlung Loya Jirga eine neue Verfassung für Afghanistan (s. Kasten). ...

... Das konfliktreiche Treffen ist Anlass, eine Zwischenbilanz der Post-Taliban-Ära zu ziehen: Wie haben sich die Weichenstellungen der internationalen Petersberger Konferenz von 2001 ausgewirkt? Wie ist der Stand in Sachen Menschenrechte, Demokratisierung und wirtschaftliche Entwicklung? Die Grundlagen für die neuere politische Entwicklung des Landes wurden Ende 2001 bei den "Talks on Afghanistan" auf dem Petersberg bei Bonn gelegt. Noch während des Krieges gegen Afghanistan waren unter der formalen Ägide der UN neben den vier afghanischen Delegationen aus Mudschaheddin-Kommandanten und Monarchisten auch Beobachter der kriegführenden Länder, der EU und der Nachbarstaaten Afghanistans zusammen gekommen. Abdul Hamed Karzai, ein Großgrundbesitzer und Mudjahed, der während des Bürgerkrieges gute Kontakte zur CIA pflegte, wurde zum Vorsitzenden der Interimsregierung der Afghan Transitional Authority (ATA) ernannt. Die Einberufung einer außerordentlichen afghanischen Ratsversammlung (Loya Jirga) sowie die Bekämpfung von Terrorismus, Drogen und organisiertem Verbrechen wurden beschlossen. Für die Sicherheit der ATA sollte die International Security Assistance Force (ISAF) sorgen. Im Abschlussdokument der Petersberger Konferenz hieß es über die Zusammenstellung der Interimsregierung: "Die Auswahl erfolgte auf der Grundlage fachlicher Kompetenz und persönlicher Integrität und unter gebührender Berücksichtigung der ethnischen, geographischen und religiösen Zusammensetzung Afghanistans sowie der Bedeutung der Beteiligung von Frauen aus Listen, die von den Teilnehmern an den Gesprächen (...) vorgelegt wurden." Zwei Jahre später ist jedoch evident, dass die ATA weder von fachlicher Kompetenz noch Integrität gekennzeichnet ist. Denn schon auf dem Petersberg wurden die Weichen zugunsten der Islamisten falsch gestellt. Die Teilnehmer der Konferenz äußerten damals ihre "Dankbarkeit gegenüber den afghanischen Mudschaheddin", die "nun zu Helden des Dschihad und zu Vorkämpfern des Friedens, der Stabilität und des Wiederaufbaus" geworden seien.

Die Macht der Warlords

Auf Grundlage der Petersberger Beschlüsse zogen handverlesene und der Interimsregierung freundlich gesinnte Mitglieder der Wahlkommission durch das Land, um Wahlmänner für die im Juni 2002 geplante Loya Jirga wählen zu lassen oder sie zu ernennen. Dass diese Emissäre besonders bei den mächtigen Stammes- und Kriegsfürsten nicht beliebt waren, zeigte die Ermordung von sieben Männern in der Provinz Kunar Ende Februar 2002, nachdem sie sich mit Mitgliedern der Kommission getroffen hatten. In Ghor und Jalalabad wurden erfolgreiche Kandidaten der ersten Wahlrunde mit Gewalt daran gehindert, an der zweiten Runde teilzunehmen. Die Warlords wollten um jeden Preis in die Loya Jirga; wer es wagte, sie daran zu hindern, wurde eliminiert. Wären die Kommission und die UN in der Lage gewesen, die aufgestellten Kriterien zur Wahl der Delegierten durchzusetzen, hätten fast alle einflussreichen Männer Afghanistans ausgeschlossen werden müssen. Denn diese hätten keine Verbindung zu terroristischen Organisationen haben, nicht am Rauschgifthandel, an Kriegsverbrechen oder an Korruption beteiligt gewesen sein, sowie im Wahlkampf weder Gewalt noch Bestechung eingesetzt haben dürfen. Es kam anders, und so gab es Proteste gegen die Teilnahme der Warlords und Mudschaheddin-Kommandanten. "Uns wurde gesagt, dass an der Loya Jirga niemand teilnehmen würde, an dessen Händen Blut klebt", kritisierte der Delegierte Safar Mohammad (FR 13.6.2002). Wegen der Teilnahme an der Loya Jirga hatte der Ex-Monarch Mohammad Saher im März 2002 seine Rückkehr aus dem römischen Exil angekündigt. Diese musste aber wegen der Intervention von US-Präsident Bush beim italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi verschoben werden. Offiziell wurde die unsichere Lage in Kabul angeführt, tatsächlich ging es jedoch darum, seine Anwesenheit im Vorfeld der Loya Jirga abzukürzen. Denn Saher wollte künftiges afghanisches Staatsoberhaupt werden. Das passte den USA jedoch nicht. Sie verziehen ihm nicht, dass er Anfang der 50er Jahre abgelehnt hatte, Afghanistan dem von der USA gelenkten Bagdadpakt anzuschließen. Die Bush-Administration nahm daher an, dass Mohammad Saher auch heute nicht immer nach der Pfeife der USA tanzen würde, zumindest nicht so wie Karzai. Als die Loya Jirga schließlich im Juni 2002 begann, waren von den 1.700 Delegierten 500 nicht gewählt, sondern von Karzai ernannt worden. Prophylaktisch wurden zusätzlich 200 Karzai-Anhänger u.a. auch aus dem Ausland eingeladen, da trotz des massiven Drucks dessen Wahl nicht sicher war. Frauen sollten ursprünglich ein Viertel der Delegierten ausmachen, tatsächlich stellten sie nur ein Achtel. Am 13. Juni 2002 wurde Karzai zum Gewinner der Wahl erklärt. Bemerkenswerterweise wurden 24 Stimmen mehr abgegeben als Delegierte anwesend waren. Danach erklärte Karzai zur Freude der USA, dass der Kampf gegen den Terrorismus auch weiterhin an der Spitze seiner Aufgaben stehen werde. Er hob hervor, dennoch "zwischen Taliban und Terroristen unterscheiden" zu müssen. Karzai berief einflussreiche Mudschaheddinfürsten wie Verteidigungsminister Qasem Fahim, Abdul Qadir, Gouverneur von Nangrahar und ein berüchtigter Heroinbaron, sowie den Warlord Karim Khalili, einen Schiitenführer, zu seinen Stellvertretern. Zum Obersten Richter wurde zum Grauen aller Menschenrechtler Fasel Hadi Schinwari ernannt. Für ihn ist die von den Taliban eingeführte Scharia unverzichtbar. Auf seine Veranlassung wurden die berüchtigten Religionswächter der Taliban-Ära reaktiviert. Auf diese Weise wurde die Loya Jirga zu einer Mogelpackung. Außer unrealistischen Versprechungen, wie "jedem Afghanen sein Haus und sein Auto" in Aussicht zu stellen (Karzai), und Lippenbekenntnissen über Sicherheit, Wiederaufbau und Freiheit hat die Loya Jirga vom Juni 2002 nichts gebracht.

NGOs ohne Kontrolle

Da Afghanistan kein funktionierender Staat ist, sondern ein NATO-Protektorat (seit August 2003 sogar offiziell), wurde das Land zum Tummelplatz für entwicklungspolitische Agenturen und NGOs. Allein in Kabul sind 800 internationale NGOs stationiert, die das Überleben der Bevölkerung zu sichern versuchen. Sollten sie abgezogen werden, würde die gesamte Versorgung zusammenbrechen. Ein Wiederaufbau im eigentlichen Sinne findet nicht statt. Die NGOs und Entwicklungshilfe-Agenturen reparieren nur hier und dort zerstörte Einrichtungen wie Schulen, Straßen und Brücken. Negativer Nebeneffekt der Anwesenheit von NGOs ist, dass sie die Mieten in Kabul in die Höhe treiben: Eine Zwei-Zimmer-Wohnung kostet bis zu 350 Dollar, aber selbst ein Distriktgouverneur verdient monatlich nur 30 Dollar. Da der Alltag der Afghanen nach wie vor von Not, Unsicherheit und Perspektivlosigkeit geprägt ist, reagieren sie verbittert, wenn Mitarbeiter ausländischer Organisationen mit ihren Jeeps die Innenstadt von Kabul verstopfen. Sie fragen sich, wo die Milliarden Dollar, die seit Anfang 2002 nach Afghanistan flossen, geblieben sind. Die Hilfsorganisationen sind niemandem unterstellt oder rechenschaftspflichtig. Die deutsche Kreditanstalt für Wiederaufbau vergibt in eigener Regie Projektaufträge an Organisationen, die "schlechte Arbeit leisten", so Wiederaufbauminister Farhang. Er bemängelte auch die Arbeit der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), weil er bei deren geplanten Vorhaben überhaupt nicht konsultiert worden sei: "Ich habe keine Ahnung, was die machen" (Die ZEIT, 17.6.2003). Die westlichen Länder haben der ATA im Jahr 2002 eine Wiederaufbauhilfe von 5,25 Mrd. US-Dollar zugesagt. Karzai beschwerte sich im November 2002, dass von den bis dahin 890 Mio. Euro Finanzhilfe für Afghanistan 800 Mio. an die Bürokratie und die der UNO angegliederten Hilfsorganisationen in Kabul flossen. Das Gros der zugesagten Mittel ist bis heute auf einem Sonderkonto der Weltbank geparkt. Dafür gibt es gute Gründe: die Geberländer haben kein Vertrauen zur ATA und befürchten, dass das Geld in dunkle Kanäle fließt. Die fast ausschließlich aus Islamisten bestehende afghanische Administration ist mangels Fachkräften nicht in der Lage, ein glaubhaftes Aufbauprogramm vorzulegen. Bei ihrer wichtigsten Wiederaufbaumaßnahme, der Räumung der ca. 30 Mio. Landminen - Afghanistan galt schon 1991 als größtes Minenfeld der Welt - ist die ATA nur minimal vorangekommen. Mit der jetzigen Kapazität an Minenräumungskräften würde die Räumung 400 Jahre dauern. Die USA nutzten ihre Macht gegenüber der ATA aus und stellten jedem Minister einen afghanisch-amerikanischen Berater zur Seite. Ein ATA-Beamter warnte daher vor einer "Bush-Regierung" in Kabul. Er kritisierte, die USA hätten seit dem Sturz der Taliban so gut wie nichts für den Wiederaufbau getan, von den Milliarden-Hilfsmitteln sei beim Volk bislang kaum etwas angekommen. Die USA verfolgten nur politische und militärische Interessen (FR, 8.8.3002). Eines der wenigen angelaufenen Projekte ist der von der US-Ölgesellschaft Unocal lang ersehnte Bau einer Gas- und Ölpipeline von Turkmenistan durch Afghanistan nach Pakistan bzw. zum Indischen Ozean (Kosten 1,9 Milliarden US-Dollar).

Der Staat ist bankrott

Der Staatshaushalt für 2001/02 betrug insgesamt 2.195 Millionen Dollar. Nur 102 Millionen davon wurden aus eigenen Staatseinnahmen erzielt, der Rest musste durch Auslandskredite finanziert werden. Der Staat ist faktisch bankrott, obwohl genug Geld im Lande ist. Nach Angaben von Karzai kassieren die Zollbehörden jährlich rund 600 Millionen Dollar, die sie aber nicht nach Kabul abführen. Allein die Warlords von Herat, Qandahar, Esmael Khan und Gul Agha Schersei streichen täglich je eine Million Dollar ein. Einer der wenigen Erfolge der ATA, besser gesagt des Internationalen Währungsfonds (IWF), war die Durchführung der Währungsreform Anfang 2003, wodurch 1.000 alte durch einen neuen Afghani ersetzt wurden. Der Währungsumtausch erleichterte allerdings nicht nur die monetären Geschäfte, sondern war auch ein gutes Geschäft für die Machthaber: Das alte Geld wurde gleich säckeweise mehrfach umgetauscht. Als weiterer Erfolg der ATA gilt das mit Unterstützung eines wirtschaftspolitischen Beraters aus Deutschland verabschiedete Investitionsgesetz. Es sichert Ausländern 100-prozentigen Firmenbesitz sowie Schutz vor Enteignung, Steuerbefreiung in den ersten acht Jahren, Zollreduzierung und vollständigen Gewinntransfer zu. Dennoch halten die Investoren Abstand zu Afghanistan. Denn es gibt kein Bankengesetz oder weitere Rechtsgrundlagen, es fehlt an Sicherheit, qualifiziertem Personal, Verkehrsverbindungen sowie an Stromversorgung. Auch aus einem anderen Grund werden wirtschaftliche Erfolge auf sich warten lassen. Im Fiskaljahr 2002/03 importierte Afghanistan Waren im Werte von 2.452 Millionen Dollar, der Export betrug aber nur 100 Millionen. Die einzig gut funktionierenden Wirtschaftszweige sind Drogenhandel und -produktion. Während 2001 ca. 185 Tonnen Opium produziert wurden, waren es 2002 ca. 3.500 Tonnen. Durch Drogengeschäfte wurden im Jahre 2002 rund 1,2 Milliarden US-Dollar erzielt, neuere UNO-Angaben sprechen sogar von zwei Milliarden. UN-Experten schätzen, dass zwei Drittel des weltweit gehandelten Heroins aus Afghanistan kommen. 2003 wurde eine Rekordernte von 3.600 Tonnen mit einem Marktwert von 2,5 Milliarden Dollar erreicht. Da es bei Drogenproduktion und -handel eine Personalunion von Warlords, Politikern und hohen Sicherheitsbeamten gibt, spricht der afghanische Finanzminister Ashraf Ghani von einem "Drogenmafia-Staat". Eine Alternative zum Mohnanbau bietet sich den Bauern nicht, sie sind meist bei Großgrundbesitzern, Geldverleihern oder Drogenbaronen verschuldet. Die seit dem Sturz der Taliban über 600.000 Tonnen US-Nahrungsmittelhilfe, die selten die Ärmsten erreicht, sondern auf lokalen Märkten verkauft wird, treibt die Preise für einheimische Produkte in den Keller. Die Bauern bauen deshalb keine Nahrungsmittel mehr an.

Dominanz der Islamisten

Ein weiteres Hindernis für die Entwicklung Afghanistans ist der große Einfluss der Islamisten. Laut dem im September 2003 verabschiedeten Parteiengesetz dürfen Parteien keine Ziele verfolgen, die im Widerspruch zu den Vorschriften des Islam stehen. Diese sind nicht genau definiert und können vom zuständigen Richter frei interpretiert werden. Dies zeigt folgender Fall: Im August 2003 konstituierte sich die Partei der Nationalen Einheit Afghanistans. Schon zwei Tage danach wurde die Partei durch den islamistisch gesinnten Obersten Richter verboten, weil sie eine kommunistische Vergangenheit hätte, gegen den Islam aktiv und an Massenvernichtungen beteiligt gewesen sei. So hat man den Bock zum Gärtner gemacht, denn Islamisten entscheiden, was unislamisch ist. Die Dominanz der Islamisten zeigt sich auch im Alltag der Frauen. Sie dürfen zwar wieder arbeiten, aber kaum eine Frau traut sich, dies ohne Schleier zu tun (wie auch kaum ein Mann ohne Bart). Frauen, die es dennoch wagen, werden belästigt oder angegriffen. Gefährdet sind Frauen vor allem, wenn sie sich politisch organisieren. In einem Frauengefängnis in Kabul werden 35 Frauen festgehalten, 28 von ihnen wegen angeblicher Verstöße gegen die Scharia. "Frauen können wegen unentwegter Lebensbedrohung und Vergewaltigung nicht am gesellschaftlichen Aufbau teilnehmen", berichtete Human Rights Watch. Die Vorsitzende von Amnesty International, Barbara Lochbihler, beklagte: "Die Strafgerichte verletzten die Rechte der Frauen mehr, als dass sie sie schützen". Selbst in der Hauptstadt Kabul und unter den Augen der ISAF wurde das Frauenzentrum der Afghanischen Frauenassoziation überfallen und zur Herausgabe ihrer Mitgliederlisten gezwungen. Als eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Wiederherstellung von Sicherheit gilt der Aufbau einer afghanischen Nationalarmee. Doch der von Karzai Anfang Dezember 2002 bei der 2. Konferenz auf dem Petersberg per Erlass verkündete Aufbau einer 75.000 Mann starken Truppe ist nicht das Papier wert, auf dem unterschrieben wurde. Trotz US- und französischer Hilfe wurden selbst laut ATA nur etwa 25.000 Soldaten aufgestellt. Da die ATA nicht in der Lage ist, den Rekruten Sold zu zahlen, gehen diese nach der Ausbildung in Kabul zu ihren Warlords zurück, die eher in der Lage sind, Söldner zu finanzieren. Damit fördern die westlichen Länder, wenn auch ungewollt, die militärische Stärkung der Warlords, die sich gegen die Karzai-Administration stellen. Die geplante Entwaffnung von über hunderttausend nichtstaatlichen Milizionären der mächtigen Warlords - eine der Hauptforderungen der "Talks on Afghanistan" - hat nur ansatzweise begonnen. Allein Verteidigungsminister Fahim verfügt über eine Privatarmee von 30.000 Mann. Die neue Koalition von Al Qaeda, Taliban und Hekmatjar kontrolliert schon weite Teile im südlichen und östlichen Afghanistan. Zahllose Taliban-Führer, die in den pakistanischen Grenzregionen ihre sicheren Rückzugsgebiete haben, nutzen die Unzufriedenheit der Bevölkerung, um ihren Einfluss zu erweitern.

Machtlos gegen Gewalt

Die afghanische Polizei wird traditionsgemäß von Deutschland ausgebildet und ausgerüstet. Die Bundesregierung hat dafür 2002 mehr als 14 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Kabuler Polizeiakademie ist reaktiviert worden, seit August 2002 werden dort Führungskräfte und ehemalige Mudschaheddin zu einer "den Menschenrechten verpflichteten Polizei" ausgebildet, wie das Auswärtige Amt behauptet. Von der Wahrung der Menschenrechte aber kann keine Rede sein. So ließ der Kabuler Polizeichef, Basir Salangi, Hütten am Stadtrand zerstören, weil deren Bewohner kein Bakschisch geben konnten. Mehrere Menschen wurden bei der Räumung unter den Trümmern begraben. Die Bewohner waren einige der 2,5 Millionen afghanischen Flüchtlinge, die meist aus Pakistan und Iran zurückgekehrt sind. Außerhalb Kabuls ist die Sicherheitslage noch prekärer. Selbst NGO-Mitarbeiter werden regelmäßig von Islamisten und Banditen überfallen. Daraufhin stellten UN-Mitarbeiter ihre Fahrten in einigen Provinzen ein. Der UN-Beauftragte für Afghanistan, Lakhdar Brahimi, resümierte nach 18 Monaten ATA-Tätigkeit, dass es ohne Sicherheit keine Wahlen 2004, keinen wirtschaftlichen Aufbau, weder Recht noch Schutz geben wird. Brahimi scheint erst jetzt einzusehen, dass die Warlordisierung Afghanistans, die auf dem Petersberg auch mit seiner tatkräftigen Unterstützung in die Wege geleitet wurde, Teil des Problems und nicht der Lösung des Afghanistan-Konfliktes ist. Wie kann eine Regierung Sicherheit im Land herstellen, wenn sie nicht einmal ihre höchsten Repräsentanten schützen kann? Karzai, der in Kabul wie ein Gefangener residiert und kaum Regierungsmacht ausübt, kann ohne seine amerikanischen Bewacher keinen einzigen Schritt tun. Die Warlordisierung Afghanistan wurde von der so genannten internationalen Gemeinschaft auf dem Petersberg vertraglich festgeschrieben. Die afghanische Zivilgesellschaft, die 2001 parallel am Fuße des Petersberg tagte, wurde von niemandem zur Kenntnis genommen. Die Teilnahme säkular orientierter Kräfte und selbst bürgerlicher Technokraten an den Verhandlungen war von fast allen Konferenzteilnehmern unerwünscht. Dies rächt sich nun. Ein afghanisches Sprichwort bringt das Dilemma so auf den Punkt: "Wenn das Wasser an der Quelle dreckig ist, wird der ganze Fluß schmutzig". Matin Baraki lehrt internationale Politik an den Universitäten Marburg und Kassel.

Eine Verfassung von US-Gnaden

Eines der wichtigsten Ergebnisse des Petersberger Friedensabkommens war die Einsetzung einer Loya Jirga, in der eine Verfassung für Afghanistan verabschiedet werden sollte. Nach einjährigen Verhandlungen legte die beauftragte Kommission Anfang November 2003 einen Entwurf vor, der Interimspräsident Karzai auf den Leib geschneidert war. Afghanistan sollte ein Präsidialsystem nach US-Muster bekommen und Karzai mehr Machtbefugnisse als Putin und Bush zusammen. Schon beim Entwurf wurde zwischen Islamisten und säkular orientierten Kräften erbittert um die Machtverteilung in der künftigen Regierung und um die Stellung des Islam in der Verfassung gerungen. Die Eröffnung der Loya Jirga musste daher mehrfach verschoben werden, bis sie im Dezember zu tagen begann. Auch die Wahl der Delegierten verlief konfliktiv: Manipulationen, Gewaltdrohungen und Stimmenkauf waren wie schon 2002 an der Tagesordnung. "Das war keine Wahl, sondern ein Wettkampf von Kommandeuren mit Geld", kommentierte ein afghanischer Journalist. Nach Angaben eines UN-Mitarbeiters waren etwa 70% der 452 direkt "gewählten" Abgeordneten ehemalige Mudschaheddinkommandanten. Frauen waren mit 90 Delegierten stark unterrepräsentiert. Dennoch lastete ein großer Erwartungsdruck auf die verfassungsgebende Loya Jirga: US-Präsident Bush hatte seinem Sonderbeauftragten für Afghanistan und jetzigem US-Botschafter in Kabul, Zalmay Khalilzad, auf den Weg gegeben: "Erfolg ist die einzige Option!" Doch der Weg dahin war steinig: Die von der Versammlung gewählten Kommissionen wurden von den Monarchisten boykottiert. Vor der Detailarbeit wollten sie grundsätzlich über das künftige politische System debattieren. Die Monarchisten standen für einen Parlamentarismus nach deutschem Vorbild. Die zweite Option, ein Präsidialsystem mit einem Zwei-Kammer-Parlament, wurde von der "amerikanischen Fraktion" um Karzai mit starker Rückendeckung des US-Botschafters Khalilzad favorisiert. Als dritte Variante schlugen die Vertreter der Nordallianz einen Präsidenten als Chef der Exekutive vor, wollten jedoch seine Machtbefugnis durch einen Ministerpräsidenten beschränkt sehen. Heftige Konflikte gab es auch um die Kompetenzen des Präsidenten, der Gouverneure und der Provinzparlamente, die Stellung der Minderheitensprachen, die doppelte Staatsangehörigkeit der Minister, die Wirtschaftsform, die Bezeichnung der Staatsangehörigen als "Afghanen" oder "Afghanistanis", die Wahl eines provisorischen oder eines regulären Parlaments sowie um die Durchführung der Wahlen des Parlamentes und des Präsidenten. Damit es nicht zum Eklat kam, wurde hinter verschlossenen Türen verhandelt, in Anwesenheit des EU-Beauftragten Francesc Vendrell, des UN-Beauftragten für Afghanistan Brahimi sowie von Khalilzad. Tadschikische Mudschaheddin, die ein starkes Präsidialsystem ablehnen, sagten Karzai mehrfach offen den Kampf an. Karzais Anhänger wiederum spielten die ethnische Karte und provozierten so die Polarisierung der Delegierten. Ihre Absicht war, die paschtunischen Abgeordneten geschlossen hinter sich zu bringen. Zunächst vergeblich: als der Versammungsleiter Modjadedi am 1.1.2004 eine Abstimmung anordnete, wurde diese von 226 Delegierten boykottiert, unter ihnen Vertreter ethnischer Minderheiten, Unabhängige und Demokraten, weil bereits geschlossene Kompromisse wie der Schutz der Minderheiten nicht berücksichtig worden waren. Die benachteiligten Opponenten Karzais kündigten an, die Ergebnisse der Loya Jirga nicht zu akzeptieren. Um ein Scheitern zu verhindern, wurde die Sitzung unterbrochen und erneut hinter verschlossenen Türen gepokert. Wegen des massiven Drucks, der seitens UNO, EU und insbesondere der USA auf die Versammlungsteilnehmer ausgeübt wurde, wird in der Bevölkerung und bei einem Teil der Delegierten ein bitterer Beigeschmack bleiben. Ein frustrierter Delegierter meinte: "Das eigentliche Spiel findet außerhalb der Loya Jirga statt." Am 4. Januar 2004 verkündete Modjadedi den Delegierten den von einem achtköpfigen Gremium erreichten Kompromiss, ohne dessen Inhalt bekanntzugeben. Eine Abstimmung wurde nicht mehr durchgeführt, Wortmeldungen aus den Reihen der Delegierten ließ er schon gar nicht mehr zu. Laut der derart verabschiedeten Verfassung wird Afghanistan nun "Islamische Republik". Reformorientierte und säkulare Kräfte hatten vergeblich dagegen opponiert. Der Delegierte Rauf Mehdi hatte zwar 146 Unterschriften gesammelt, um die Bezeichnung "Islamisch" aus dem Namen der Republik zu entfernen, es sah sich jedoch niemand in der Lage, einen solchen Antrag in der Loya Jirga zu begründen. Kein Wunder: Mehdi wurde durch Ultra-Islamisten bedroht und als Ungläubiger und Kommunist bezeichnet. Selbst Versammlungsleiter Modjadedi geißelte Mehdi und seine Leute als zu bestrafende Ketzer. Die Scharia wird in der neuen Verfassung nicht explizit festgeschrieben, kommt jedoch durch die Formulierung "Kein Gesetz kann im Widerspruch zu den Grundlagen des Islam stehen", die jeder nach seiner Vorstellung interpretieren kann, durch die Hintertür wieder zur Geltung. Dies wird den Fundamentalisten u.a. die Möglichkeit eröffnen, eine untergeordnete Rolle der Frau abzuleiten. Die Nationalhymne wird mit "Allahu Akbar" (Gott ist groß) eingeleitet. Artikel 6 verpflichtet den Staat zwar, neben dem Schutz der Persönlichkeit und der Menschenrechte auch die Realisierung der Demokratie und den Aufbau einer auf sozialen Gerechtigkeit und Wohlstand basierenden Gesellschaft zu gewähren. Unter den jetzigen Bedingungen kann dies jedoch nur als Hohn bezeichnet werden. Nirgends auf der Welt ist die Diskrepanz zwischen geschriebener Verfassung und Verfassungswirklichkeit größer als in Afghanistan. Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist in der neuen Verfassung zwar verankert, doch selbst auf der Loya Jirga wurden die Frauenrechte nicht geachtet. Das Stammesrecht (z.B. Paschtunwali) bleibt unangetastet, und die Warlords werden sich nicht an das halten, was in Kabul unter der Regie ausländischer Mächte beschlossen wurde. Sollten die unterlegenen Gegner von Karzai ihre Drohungen bezüglich Nichtanerkennung der Verfassung wahrmachen, wäre das die faktische Spaltung Afghanistans, die Bürgerkrieg und die Intervention der NATO zur Folge haben wird. Daher sind die zweckoptimistischen Stellungnahmen aus Berlin und anderen westlichen Hauptstädten zum Abschluss der Loya Jirga vollkommen unangebracht. Die Probleme des Landes werden durch die neue Verfassung nicht gelöst werden können. aus: iz3w 275 (März 2004) "Nicht vergeben, nicht vergessen - Deutscher Kolonialismus I"