Leben nach der Zukunft I

Gute Frage. Kein Zweifel, Zukunft gibt es nicht mehr. Die Geschichte hat seit 1989/90 keine (meinte Fukuyama). Der Sozialismus war Zukunft, aber so wenig Gegenwart, daß er nun Vergangenheit ist. ...

... Die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme wird gerade von der rotgrünen Bundesregierung beseitigt. Das Klima und die Ökosphäre haben natürlich eine Zukunft. Leider nicht das Klima und nicht die Ökosphäre von heute.
Deshalb ist es vielleicht auch ein wenig leichtfertig, ein "Leben nach der Zukunft" anzunehmen. In Afghanistan sterben mehr als ein Viertel aller Kinder vor Erreichen des fünften Geburtstages. Sie haben nicht einmal ein Leben in der Gegenwart. Den meisten Menschen hierzulande reichen Gegenwart und Vergangenheit; aber vielleicht hat die eine Zukunft? Zukunft? Nein! Neue Moden, die bestimmt.
Der Parlamentarismus, da sind sich viele Realisten einig, war eine kurze Episode, abgelöst von der außer- und antiparlamentarischen Entscheidungsmacht der Wirtschaft, der Börsen, der großen Banken, der Gerichte, Lobbygruppen und Kommissionen. Die soziale Marktwirtschaft ist Vergangenheit, der neoliberale Marktradikalismus hat sicherlich eine Zukunft, die er mit allen sozialen, kulturellen und ökologischen Bedingungen zerstampft, ohne die menschliche Gesellschaft und daher dummerweise auch er nicht existieren können. Ja, wenn sich Zukunft verkaufen ließe, welch eine Zukunft hätte sie!
Was noch kann eine Zukunft haben? Das sozialdemokratische Jahrhundert ist passé (meinte Dahrendorf). Die Italienische KP, einst größte kommunistische Partei im Westen, sucht ihre Zukunft in der rechten Sozialdemokratie. Die Französische KP glaubt, sie in der Zeit vor ihrem eurokommunistischen Ausflug zu finden. Die PDS in Deutschland streitet noch, ob sie keine Zukunft haben will oder eine in ihrer SED-Vergangenheit. Die Zukunft der Grünen liegt wahrscheinlich in der Vergangenheit der FDP. Die wiederum orientiert sich auf den Manchesterkapitalismus des 19. Jahrhunderts.
Die Jugend hat Null Bock auf Zukunft (meinte die Shell-Studie). Die UNO hat ihre Zukunft hinter sich. Das Rüstungskontroll- und Abrüstungssystem der sechziger, siebziger und achtziger Jahre hatte wahrscheinlich nie eine gehabt. Krieg, Terror, Unterdrückung, gegenseitiger Haß im Nahen Osten haben eine Zukunft. Fraglich also, ob der Nahe Osten eine hat. "Die Zukunft gehört dem Buch und nicht der Bombe, dem Frieden und nicht dem Krieg", meinte Victor Hugo. Zukunftsvisionen sind etwas für die Historiker. Ob das Buch eine Zukunft hat, ist unklar. Die Bombe hat eine große. Reden wir nicht über Frieden. Kriegerischer Unsicherheit gehört mit Sicherheit die Zukunft.
Der mickrigste mächtigste Mann der Weltgeschichte (Persönlichkeiten sind in der Politik sowieso nur in der Vergangenheit zu finden), also George W. Bush Jr., meinte in seinem unnachahmlich unfreiwilligen Humor zwar "Die Zukunft wird morgen besser sein", doch dann sprach er das endgültige Todesurteil über sie (konsequenterweise im Perfekt): "I have made good judgements in the past. I have made good judgements in the future." ("Ich habe in der Vergangenheit gute Entscheidungen getroffen. Ich habe in der Zukunft gute Entscheidungen getroffen.") Zukunft läßt sich abhaken, in einer Welt, in der der uralte, wenn auch immer ungleiche Konflikt zwischen Geist und Macht sich mit der Auflösung von fast allem Geist aufgelöst hat. Die Frage ist wirklich nur, ob es mit dem Verschwinden von Zukunft getan ist. Der texanische Cowboy sollte wahrlich nicht unterschätzt werden. Im Herzen die Erbanlagen der Steinzeit, in der Hand die Atombombe - dieses Bild Hoimar von Dithfurts könnte auf den gegenwärtigen Statthalter des Weißen Hauses gemünzt sein. Zu intelligenter Politik weder in der Lage noch bereit, aber mit ungeheuren Arsenalen intelligenter Waffen ausgerüstet, läßt Bush derzeit das System internationalen Rechts, multilateraler Einbindung der USA und der Rüstungskontrolle sowie die UNO und ihre Charta platt walzen: Antiraketenvertrag? Gekündigt. Abkommen über das Verbot chemischer Waffen? Kein US-Geld für die Kontrollen. Biologische Waffen? Blockade jeder Verifikation. Nuklearer Teststopp? Keine Ratifizierung. Nichtweiterverbreitungsvertrag? Die Sicherheitsgarantien für Nichtkernwaffenstaaten werden aufgehoben. Weltraumvertrag? Kündigung demnächst. Klima-Protokoll? Nicht für den größten Energieverschwender der Welt. Internationaler Strafgerichtshof? Ohne USA. Verbot der barbarischen Antipersonenminen? Nicht für die USA. Internationales Seerecht? Für alle, mit einer Ausnahme Â…
Was wird das für ein Leben nach der Zukunft? Wollen wir uns noch zweimal Bush gönnen, um die Frage zu beantworten? "Es ist nicht die Verschmutzung, die unserer Umwelt schadet. Es sind die Unreinheiten in unserer Luft und im Wasser, die das tun." Und: "Ich glaube, wir sind auf einem unumkehrbaren Weg hin zu Freiheit und Demokratie, aber das könnte sich ändern."
Mir ist längst der Spaß daran vergangen, Unumkehrbares als änderbar bezeichnet zu wissen. Der Mann und seine Mit- und Hintermänner machen es wahr, das ist das Problem. Sein "Krieg gegen den Terror" ist längst dutzendfach die offene Terrorisierung von Freiheit, Recht und Demokratie. Die Zukunft gehört den USA, der Erdball praktisch schon jetzt. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Ganz Gallien Â…? Gute Frage!

in: Des Blättchens 6. Jahrgang (VI) Berlin, 6. Januar 2003, Heft 1, S.2-3