Die totale Militarisierung des Konflikts stärkt die Hardliner auf beiden Seiten. Deshalb werden sie die Gewalt nicht beenden; und deshalb ...
... wird jeder Versuch, die andere Seite durch eine verschärfte militärische Gangart zum Einlenken zu zwingen, nur eine neue Eskalation der Gewalt hervorbringen. Soviel sollte inzwischen jeder und jedem klar geworden sein. Die Selbstmordattentate beenden die israelische Besetzung nicht, sie verlängern sie. Umgekehrt verdienen die isralischen Militärschläge den Namen Terror-Bekämpfung nicht, wie unlängst ein israelischer Terror-Forscher öffentlich erklärte; eher handelt es sich um langfristige Terror-Förderung: der überwiegende Teil der Selbstmordattentäter, unter denen sich vermehrt auch Frauen befinden, entscheidet sich für diesen Weg nachdem er oder sie einen nahen Angehörigen durch eine Aktion des israelischen Militärs verloren hat. Wer wen provoziert ist inzwischen gleichgültig geworden; die Akteure der Militarisierung des Konflikts provozieren sich gegenseitig und schotten sich gegen jede Verantwortung ab: die anderen könnten doch aufhören.
Dabei wissen alle, was allein am Ende des Konfliktes stehen kann. In Palästina existieren zwei Gesellschaften mit einer eigenen Geschichte und mit eigenen Bedürfnissen; und sie brauchen zwei Staaten. Zwei Staaten, deren Existenzrecht und Souveränität von der internationalen Gemeinschaft und von ihren Nachbarn respektiert wird. Nichts anderes wird herauskommen können.
Selbst im Falle eines vollständigen militärischen Sieges verfügt keine der beiden Seiten über eine Perspektive, die davon sinnvoll abweichen könnte. Es gibt auf beiden Seiten kein Maximalziel, das in sich konsistent wäre. Israel kann die besetzten Gebiete nicht in einen vergrößerten Staat Israel integrieren. Denn unter den Bedingungen demokratischer politischer Rechte ("one man, one vote") und effektiver gleichberechtigter Teilhabe aller Religionen und Nationalitäten in Öffentlichkeit, Verwaltung, Regierung und zivilen Institutionen würde dieser vergrößerte Staat Israel seinen Charakter als jüdischer Staat verlieren, wozu die Mehrheit der Israelis nicht bereit ist und was von ihnen auch nicht verlangt werden kann. Eine endlose Besetzung und die langfristige Etablierung einer palästinensischen Unterschicht oder Kolonie, deren Bevölkerung keine gleichen politischen und zivilen Rechte besitzt, kann die internationale Gemeinschaft jedoch nicht akzeptieren, und eine solche Entwicklung wäre gleichbedeutend mit einem endlosen Krieg gegen die Versuche der Palästinenser, diesem Zustand zu entkommen. Sicherheit entsteht so nicht, und eine Gefährdung der politischen Freiheiten und der zivilen Gesellschaft in Israel wären unvermeidlich.
Teuer und alternativlos
Die Palästinenser wiederum, was auch immer die islamistische Militanz schwadronieren mag, können die Israelis nicht ins Meer werfen und die Geschichte ungeschehen machen. Dies wäre physischer Selbstmord, denn die internationale Gemeinschaft und die militärischen Verbündeten Israels würden einen solchen Versuch bis zum Einsatz der Atombombe bekämpfen. Aber bereits vorher würde ein auf Expansion bedachtes palästinensisches Staatswesen im Bürgerkrieg untergehen, denn ein derartiges Abenteuer besitzt in der palästinensischen Bevölkerung ebensowenig eine Mehrheit, wie ein nicht-jüdisches Groß-Israel in der israelischen Bevölkerung, und die arabischen Staaten besäßen daran ebenfalls kein Interesse. Legitimität, Identität, Zivilität und Sicherheit beider Gesellschaften, der israelischen wie der palästinensischen, sind aufs Engste mit dem Bestehen von zwei unabhängigen Staatsgebilden in Palästina verknüpft. Wie viel Blut bis dahin auch fließen mag, es gibt kein anderes angebbares sinnvolles Ziel, selbst wenn man die Interessen einer von beiden Seiten komplett ignoriert.
Der Rest sind technische Fragen. Grenzverläufe, ökonomische Beziehungen, das Problem der Siedlungen und das der palästinensischen Rückkehrer, militärische Sicherheitspolitik: an allen diesen Punkten bestehen Interessenkonflikte, die es zu verhandeln gibt. Und auch hier wissen alle: es wird zu Kompromissen kommen, bei denen man mehr oder weniger für die eigene Seite herausholen kann, wo jedoch zu gierige und einseitige Ergebnisse im Endeffekt die eigene Sicherheit bedrohen und keinen Bestand haben werden. Wenn klar ist, dass es zwei souveräne, einander gegenseitig in ihrem Existenzrecht respektierende und international anerkannte Staaten gibt, sind die Fragen lösbar. Ja, es wird Unzufriedene auf beiden Seiten geben. Ja, es wird auch noch vereinzelte Selbstmord-Anschläge geben, vereinzelte Übergriffe durch israelische Siedler, selbst Grenzzwischenfälle. Aber dies wird weniger Rückhalt finden; die Spirale der Gewalt würde anfangen, sich nach unten zu bewegen.
Und es wird viel Geld kosten, und viel Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft. Geld für eine Entschädigung der palästinensischen Flüchtlinge, die nicht alle zurückkehren können, weder in einen palästinensischen Staat noch nach Israel, sondern teure Integrationsprogramme brauchen in den arabischen Staaten, wo sie seit Jahrzehnten als kaum geduldete Minderheit leben, oft bis heute in Lagern. Geld für zivile Austauschprogramme und einen gesellschaftlichen Friedensprozess zwischen beiden Seiten - Deutschland und Frankreich kennen das. Eine internationale Blauhelmtruppe, die im Übergang Sicherheitspuffer schafft (und deutsche Soldaten sollten nicht dabei sein). Internationale AktivistInnen, die sich dem Risiko unterziehen, durch ihre eigene Präsenz neue Kampfhandlungen politisch unbezahlbar zu machen. Und vieles mehr.
Aber so wird es sein. Nichts anderes wird kommen. Man kann dieses Ergebnis nur hinausschieben. Man kann sich langfristig darin einrichten, dieses Ergebnis hinauszuschieben - das tun die Hardliner beider Seiten. Aber es ändert nichts. Man kann die politische Gleichung Palästina nicht ändern. Man muss sie irgendwann lesen.
Schönwetter-Anerkennungen helfen nicht
Die ideologischen Kämpfe und widerstreitenden Sympathien in der internationalen Linken sind - es fällt einem manchmal schwer das zu schreiben - wichtig und notwendig. Auch die internationale Linke muss sich dazu durchkämpfen, dieses Ergebnis zu akzeptieren, ja zu wollen. Verständnis für die beiden Seiten muss artikuliert werden; auch in bisweilen harten, einseitigen, ausschließenden Worten. Und man muss weder Sharon noch den Islamischen Djihad mögen, ganz im Gegenteil. Nicht einmal Perez und Arafat. Aber man muss zulassen, dass es - auch und gerade im Interesse der Seite, der man stärker zuneigt, stärker persönlich verbunden ist - keine andere Lösung gibt als die, von der alle wissen, dass sie irgendwann kommt.
Der Schritt, den es zu tun gilt, ist einer, der aus der Friedensbewegung bekannt ist: an beide Seiten und alle Beteiligten die Forderung richten, das Ihre zu tun, und zwar sofort, ohne Vorbedingungen, ohne Herausreden auf die andere Seite, die "ja auch nichts tut". Einseitige, direkte, sofortige Abrüstung - beziehungsweise hier: einseitige, direkte, sofortige Anerkennung der Tatsache, dass es zwei souveräne, in ihrem Existenzrecht zu respektierende Staaten gibt.
Es war der Fehler des Friedensprozesses von Oslo, die Anerkennung eines palästinensischen Staates an das Ende eine Lösung sämtlicher offener Fragen zu rücken. Es ist der gleiche Fehler, der alle Appelle zur Mäßigung, alle einmütigen Bekundungen zum Frieden wie gerade im Deutschen Bundestag, so billig und wirkungslos macht. Wenn die arabischen Staaten die Anerkennung Israels vom Ende der Besetzung und der Sharonschen Offensive abhängig machen: heißt das, im Falle neuer Auseinandersetzungen würde man dem souveränen Staat Israel die Anerkennung wieder entziehen? Was ist das, eine Schönwetter-Anerkennung? Und umgekehrt, wenn Israel weitere Verhandlungen von einem Ende der Attentate abhängig macht und die internationale Gemeinschaft die vollständige Anerkennung eines Palästinenserstaates vom Ende der Gewalt: was heißt das, will man einem palästinensischen Staat die Anerkennung wieder entziehen, wenn es wieder zu Attentaten kommt? All das ist absurd. Die Souveränität einer Bevölkerung, für sich selbst zu sprechen und sich selbst zu regieren, beruht gerade darauf, dass sie unabhängig ist davon, ob einem die jeweiligen Inhalte und Politiken passen. Deshalb kann sie keine Verhandlungsmasse sein. Sie ist die Voraussetzung, nicht das Ergebnis.
"Gegen Gewalt" kann man sich schenken
Ich sehe keinen Grund, warum es - bei allem Streit um Antisemitismus, Imperialismus, Nationalismus, bei aller Verbundenheit mit der einen oder anderen Seite - nicht möglich sein sollte, in internationaler Solidarität von jeder beteiligten Seite den Schritt einzufordern, den sie schon längst hätte machen sollen. Es gibt zur Zeit einen entsprechenden Appell an die UN, die Anerkennung des palästinensischen Staates jetzt zu vollziehen - ohne Vorbedingungen. Ich habe ihn ebenso unterzeichnet wie ich jeden Appell an die arabischen Staaten unterzeichnen würde, die Anerkennung Israels zu vollziehen - jetzt, sofort, ohne Vorbedingungen.
Die Friedensappellierer im Bundestag sind unsere Variante Sharons oder der Djihadisten in diesem Konflikt: sie richten sich auf die Verlängerung der Besetzung ein, ohne ernsthaft etwas unternehmen zu wollen, was den Konflikt beendet. Es macht sich ja gut, wenn man gegen Gewalt auf allen Seiten ist. Ein Ende der Gewalt als Vorbedingung der gegenseitigen Anerkennung zu fordern, bedeutet jedoch nichts anderes als: weiter mit der Besetzung, weiter mit den Anschlägen.
Wer dagegen tatsächlich nicht mitschuldig sein will an den nächsten Runden von Eskalation, muss Druck auf seine Regierungen ausüben, sich für eine sofortige, einseitige, vorbedingungslose Anerkennung stark zu machen - Israels durch die arabischen Staaten, eines Palästinenserstaates durch die UN und durch Israel. Keine Seite hätte etwas zu verlieren dabei, wenn sie hier einseitig vorgeht. Wenn-dann-Szenarien sind weder glaubhaft, noch führen sie irgendwo hin. Der Prozess muss den Taktikern aus den Händen genommen werden.
alaska 240/2002