Freitag-Debatte Utopie konkret: Was tun, wenn nichts mehr geht

in (25.10.2004)

Sozialismus, Kernel 2.0 Eine der hartnäckigsten Fehlauffassungen antikapitalistischer Theorie ist es, für eine nachkapitalistische Gesellschaft müsse man sich über das Kapital keine Gedanken ...

... mehr machen. Das Gegenteil ist der Fall. Denn die Tatsache, dass gesellschaftlicher Reichtum existiert, der sich in u.a. in Produktionsanlagen konzentriert, ist ebenso wenig erledigt wie die Frage, wer diesen kollektiven, historisch gewachsenen gesellschaftlichen Reichtum kontrolliert und darüber verfügt. Die staatssozialistische Lösung, das Eigentum am gesellschaftlichen Kapital schlicht dem Staat zuzuschlagen und es von diesem kontrollieren zu lassen, verewigte die Spaltung in Arbeit und Kapital ebenso wie die zwischen "Produktion" und "Reproduktion" und legte bereits den Grund für Entfremdung, Ineffektivität und neue Machtstrukturen. Eine erfolgreiche nachkapitalistische Gesellschaft wird auf einem anderen Programm beruhen müssen. Der Kern eines solchen ökonomischen Programmcodes, sozusagen ein sozialistischer Kernel Version 2.0, wird hier im Folgenden skizziert. In seinem Mittelpunkt steht, inspiriert von den Überlegungen der Theorie der freien Kooperation, das allgemeine Recht auf Kapital bzw. auf Verfügung über Kapital; und seine wichtigsten Programmroutinen sind: non-profit, open-source, collective rule.

Kollektives Eigentum an den Produktionsmitteln, wie geht das?

Es ist wieder Bilanzsaison. Einmal im Jahr wird das kollektive Kapital der regionalen Kommune bilanziert: Anlagen, Inventar, Waren, Rücklagen, Grund und Boden, Gebäude. Manches kann man nicht bilanzieren, das wissen aber auch alle: soziales Kapital, Wissen, Fähigkeiten, eingespielte Beziehungen, Kinder. Ressourcen und Umwelt kann man bilanzieren, zumindest teilweise, aber das läuft in einem anderen Verfahren. Das Kapital, das hier bilanziert wird, steckt in den Kooperativen: den kommunalen und den freien. Kooperativen, das ist das, was früher mal Unternehmen hieß. Jetzt ist der Unterschied eingeebnet zwischen Einrichtungen der materiellen Produktion, der sozialen Organisation, der Verwaltung oder der immateriellen Produktion. Da sie alle kollektiv geführt werden, heißen sie alle Kooperativen. Und da sie alle etwas Wichtiges produzieren und alle non-profit operieren, macht eine weitere Unterscheidung auch keinen Sinn. Wenn das kollektive Kapital bilanziert ist, das in den kommunalen und freien Kooperativen steckt, wird es aufgeteilt. Die Hälfte des kollektiven Kapitals gehört der Gemeinschaft und wird von ihr verwaltet. Die andere Hälfte gehört den Individuen dieser Gemeinschaft. Allen, zu gleichen Teilen. Dieses Kapital ist zunächst eine rechnerische Größe, man kann es sich nicht auszahlen lassen. Aber es wird verwendet. Die Kommune entscheidet auf der Kommunalversammlung darüber, welche Kooperativen sie mit welchem Kapital ausstattet - in der Regel bedeutet das, sie entscheidet ob die bestehende Struktur aufrechterhalten wird oder ob neue Akzente gesetzt werden. Dasselbe tun die Individuen. Sie bringen ihren Anteil am kollektiven Kapital, ihr Kapital, in Kooperativen ein. Entweder bringen sie ihr Kapital in die kommunalen Kooperativen ein. Oder aber, sie schmeißen ihre individuellen Kapitalanteile mit anderen zusammen und begründen eigene, freie Kooperativen. Ob das ein Metzger ist, eine Software-Kooperative oder ein Kindergarten, ist ihre Sache. Für die Kooperativen gibt es zwei Strukturen. Die Eigentümerversammlung - die Versammlung derer, die Kapital einbringen - bestimmt den grundsätzlichen Zweck der Kooperative und die Art der Entscheidungsfindung und übt eine Kontrollfunktion aus. Alle konkreten Entscheidungen dagegen werden von der Betriebsversammlung gefällt, der Versammlung derer, die in der Kooperative zusammen arbeiten. Das sind nicht nur diejenigen, die dort einen Vertrag haben, sondern auch diejenigen, die von ihren Leistungen oder ihrer Arbeit unmittelbar betroffen sind. In einer Schule sind es Unterrichtende und Schüler; in einer Ärzte-Kooperative Mediziner und Patienten; bei einer Möbelfirma die dort Arbeitenden und die Kunden. Die Modelle werden unterschiedlich sein: Personenkreise, die sich permanent in der Kooperative aufhalten und dort kooperieren, werden stärker vertreten sein als Personenkreise, die - z.B. als Kunden - ein entfernteres Verhältnis dazu haben. Das Entscheidungsmodell wird von der Eigentümerversammlung festgelegt. In die konkreten Entscheidungen hat sie dagegen nicht einzugreifen. Dazu gehört alles, was den konkreten Ablauf in der Kooperative anlangt, die Einstellungen bzw. die Bestätigung von Verträgen, die Aufgabenverteilung, die Haushaltsplanung usw. Dafür gibt sich die Betriebsversammlung ein Verwaltungsmodell, d.h. eine Betriebsverfassung. Wie sie ihre Entscheidungen trifft, geht niemand was an - sie kann Personen mit weitreichenden Befugnissen wählen und ihnen arbeitsteilig einen Großteil der Planung übertragen, oder sie kann alle Entscheidungen kollektiv auf der Betriebsversammlung treffen oder in Teams und Arbeitsgruppen auslagern. Festgelegt ist nur: die Betriebsverfassung kann von der Betriebsversammlung geändert werden, in der auf jeden Fall alle dort Arbeitenden und Anwesenden jeweils 1 Stimme haben (die entfernter Betroffenen können unterschiedlich stark repräsentiert sein). Und: leitendes Personal muss sich zur Wahl stellen; sowohl die generelle Arbeitsteilung in der Kooperative, als auch die Besetzung der unterschiedlichen Aufgaben durch die Mitarbeiter, als auch die Verlängerung sämtlicher Verträge, muss von der Betriebsversammlung bestätigt werden. Wer kooperiert, soll auch gemeinsam entscheiden - das ist collective rule. Es gibt keine Kapitalrendite - jedenfalls keine individuelle, auch keine betriebliche. Nach Ablauf des Bilanzjahres wird neu bilanziert und neu aufgeteilt. Neue Entscheidungen fallen und alte werden bestätigt - in der Kommune durch die Kommunalversammlung, und von den Individuen. Es gibt ein bestimmtes System des relativen Bestandsschutzes, das dafür sorgt, dass der Abzug von Kapital aus einer Kooperative in einem bestimmten zeitlichen Rahmen geschieht, der es der Kooperative ermöglicht Alternativen zu suchen (z.B. indem sie freies Kapital, d.h. das im Besitz der Individuen befindliche Kapital, einwirbt) und negative ökonomische Folgen durch abrupte Umstellungen vermeidet. Dieser Bestandsschutz wird für verschiedene Arten von Produktion bzw. Kooperation unterschiedlich aussehen. Dies ist einerseits Gegenstand der von der Kommunalversammlung festgelegten Wirtschaftsordnung, andererseits Gegenstand von Verträgen zwischen Kooperative und Eigentümern (Kommune wie auch Individuen). Aber es gilt: Kapital kann zugewiesen und wieder abgezogen werden, von der Kommune wie von den Einzelnen, da beißt die Maus keinen Faden ab. Das ist seine Funktion: Gestaltungsmacht, nicht Verwertung.

Markt, Lohn, Geld

Produkte und Dienstleistungen werden ganz normal auf dem Markt gehandelt. Es gibt einen Einheitslohn, der zur Hälfte von der Kommune und zur Hälfte von den Kooperativen bezahlt wird, letzteres im Gegenzug zur Arbeitsleistung in der betreffenden Kooperative. Die kommunale Hälfte des Einheitslohns (wie auch den individuell zur Verfügung stehenden Kapitalanteil) erhalten alle, unabhängig von der Art ihrer Arbeit - auch Kinder z.B. Dies gewährleistet, dass sie die spezifischen Einrichtungen, die sie brauchen, finanzieren und ggf. eine solche Gründung materiell ermöglichen können. Kinder bekommen ist kein ökonomischer Nachteil, da Mütter den Ausfall ihrer kooperativen Einkommenshälfte durch das kommunale Einkommen des Kindes kompensieren, das sie bis zu einem bestimmten Alter des Kindes verwalten. Die kommunale Hälfte des Einheitslohns wird durch direkte Steuern finanziert, die präzise dafür verwendet werden müssen. Sie werden von den Kooperativen erhoben, die Produkte und Dienstleistungen auf dem Markt verkaufen (nicht alle Kooperativen tun das), sowie von den Einwohnern, die mehr als den Einheitslohn verdienen (weil sie z.B. mehr als einen Job machen oder eigenwirtschaftlich tätig sind). Es gibt weder indirekte Steuern noch Sozialversicherungssysteme, sondern ausschließlich kommunale und freie Umlagefonds mit konkret definierten Zwecken, die selbst als Kooperativen betrieben werden. Solche Umlagefonds ermöglichen es z.B., dass Menschen im Alter, bei Krankheit oder auch aus anderen Gründen, ihre Arbeitszeiten reduzieren können (im Extremfall bis zum Symbolischen), ohne dass den Kooperativen daraus ein finanzieller Nachteil entsteht. Die Bindung an eine konkrete Kooperative bleibt jedoch erhalten, solange beide Seiten dies wünschen. Auch öffentliche Aufgaben wie Infrastruktur, Kontrolle, Verwaltung werden über Umlagefonds finanziert und durch Kooperativen erledigt. Das hat den Vorteil, dass solche Einrichtungen nicht nur durch Beschluss der Kommunalversammlung, sondern auch durch Initiative und Zusammenschluss von Individuen zustande kommen können, wenn diese ein hinreichend starkes Bedürfnis nach der Erledigung einer bestimmten gemeinsamen Aufgabe empfinden. Dasselbe gilt auch für öffentliche Güter. Die Kommune verteilt nicht ihr gesamtes Kapital an Kooperativen, sondern stellt einen Teil der Allgemeinheit zur Nutzung zur Verfügung (von Park und Strand bis zu Gebäuden und Kommunikationsanlagen). Aber auch die Individuen können ihre Kapitalanteile nutzen, gemeinsam solche öffentlichen Güter zu schaffen. Information und Wissen sind open source. Das Geheimhalten von betrieblichen Informationen ist grundsätzlich verboten. Innovationen müssen der Allgemeinheit zugänglich gemacht werden und sind zur Nachahmung frei. Bodenschätze, natürliche Ressourcen wie Wasser, Luft, Wälder etc. können nicht ge- und verkauft werden, sie sind kollektives Eigentum und werden nach einem besonderen System behandelt. Grundsätzlich sind alle Kooperativen für die Umweltfolgen ihrer Tätigkeit verantwortlich und haben negative Auswirkungen zu reparieren bzw. die dafür anfallenden Folgekosten zu tragen. Nicht oder nur sehr langsam regenerierbare Ressourcen oder solche, die besonders empfindlich, bei Störung besonders folgenreich oder nicht sinnvoll einem betrieblichen Reparaturmodell zu unterstellen sind, werden von der Kommune verwaltet. Sie entscheidet auf der Kommunalversammlung, ob und in welchem Ausmaß solche Ressourcen benutzt werden sollen, und vergibt Bezugsrechte an Kooperativen. Diese Bezugsrechte werden nicht verkauft, denn solche Ressourcen gehören der Kommune nicht, und sie darf aus ihrer Ausbeutung keinen Profit ziehen. Da die jede Kooperative non-profit arbeiten mussen und nur bis zu einem gewissen Grad gerechtfertigte Rücklagen bilden kann, muss sie investieren oder Überschüsse an die Kommune abführen. Letzterem kann sie entgehen, wenn sie diese Überschüsse selbst in einen kommunalen oder freien Umlagefonds einbringt oder eine defizitäre Kooperative damit unterstützt. In ähnlicher Weise können die Individuen zwar Geldvermögen und Besitz vererben, jedoch nur bis zu einer bestimmten Obergrenze, oberhalb derer die Erbmasse der Kommune zufällt. Sie können letzterem jedoch entgehen, indem sie diesen Teil ihres Geldvermögens Umlagefonds oder Kooperativen vererben. Auch hier gilt: Wohlstand und Gestaltungsmacht als Motivation: ja, Verwertung, Profit und unbeschränkte Kapitalakkumulation: nein.

Die veränderte ökonomische Rationalität

Machen wir uns die Wirkung solcher Produktionsverhältnisse klar: welche ökonomische Logik entspringt aus ihnen? Wie werden die Kooperativen wirtschaften? Nach welcher ökonomischen Rationalität werden die Individuen agieren? Zunächst fällt auf, dass die Akkumulation von fixem Kapital gewisse Probleme mit sich bringt, zumindest unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck steht. Eine Kooperative akkumuliert Kapital, indem sie ihre Gewinnspanne dafür nutzt, in Anlagen, Inventar etc. zu investieren. Wenn die Kooperative eine höhere Akkumulationsrate hat als die Gesamtwirtschaft der Kommune, bedeutet das, dass sie im nächsten Jahr mehr Kapitalanteile braucht. Im Rechenbeispiel: die Kommune hat 100.000 Einheiten Kapital im Wert "1", die Kooperative bekommt davon 3 von der Kommune und 2 von freien Eigentümern. Wenn das Gesamtkapital der Kommune um 2% wächst, das der Kooperative aber um 10%, dann reichen die 5 Kapitalanteile (die jetzt "5,1" wert sind) nicht aus für die Kooperative (die jetzt "5,5" wert ist). Sie braucht ca. einen halben Kapitalanteil mehr, entweder von der Kommune oder von interessierten Individuen, die irgendwo anders abgezogen werden müssen. Das kann in Ordnung gehen, aber es bedarf der Rechtfertigung und Entscheidung, es ist kein Automatismus - und es bringt die Kooperative in Abhängigkeit. Innovationen, welche die Produktivität oder die Qualität der Arbeitsergebnisse erhöhen und gleichzeitig die benötigte Menge fixes Kapital reduzieren, wirken dagegen unmittelbar positiv für die Kooperative. Anstatt mehr Kapitalanteile zu brauchen, braucht sie weniger - sie wird unabhängiger und kann der nächsten kommunalen Kapitalverteilung mit Gelassenheit entgegensehen. Sie kann mehr Leute anstellen, die Mitarbeiter können ihre Arbeitszeit verkürzen, sie können sich mehr fortbilden oder mehr Zeit in andere Aspekte der Kooperative investieren. Akkumulation von sozialem Kapital, geringere Kapitalintensität, immaterielle Produktion, Arbeitsmotivation und gutes Betriesbklima, solidarische Kooperation etc. zahlen sich aus. Auch gutes Wirtschaften und innovative, attraktive Produkte zahlen sich aus. Erwirtschafteter Gewinn kann entweder in die Verbesserung der betrieblichen Struktur gesteckt werden (aber wie gesagt, immaterielle Verbesserungen wirken dabei positiver als materielle!), oder wird an die Kommune abgeführt. Beides macht die Kooperative langfristig unabhängiger - im einen Fall, weil die dort Arbeitenden im Zweifelsfall lieber ihr eigenes Kapital dort einbringen werden, als einen für sie guten Betrieb zusammenschrumpfen zu lassen; im anderen Fall, weil die Kommune ihre cash cows pflegen und erhalten wird, stellen sie doch ihre einzige Einnahmequelle dar, für die sie keine konkrete Gegenleistung erbringen muss. Ebenso besteht ein materielles Interesse an open source. Innovationen senken den Kapitalbedarf, auch der anderen Kooperativen, und entlasten daher die Verteilung des Kapitals. Es besteht keine soziale Homogenität - es kann auch gespart werden, vererbt werden, unterschiedlich in sich investiert werden; es gibt Selbständigkeit, Ich-AGs gewissermaßen; Menschen können auch mehr arbeiten oder weniger; sie können eineinhalb oder auch nur einen halben Job ausüben. Es besteht aber soziale Gleichheit, da jeder gleichen Zugang zu Kapital hat - hier wird nicht individuell akkumuliert, auch nicht kollektiv, sondern nur gemeinschaftlich. Dies entspricht der Grundüberzeugung, dass Produktivität nicht inviduell zuweisbar ist, sondern immer kollektiv hervorgebracht ist. Es existiert kein stehendes Heer aus Verwaltungsbeamten und keine Kriegskasse in Gestalt von öffentlichen Geldmitteln, über die eine Regierung frei verfügen könnte. Man weiß, was was kostet. Wer lieber mehr frische Asphaltdecken möchte als anständige Gesundheitsversorgung, der wird dafür Lobby-Arbeit betreiben müssen - aber er wird sie an die Allgemeinheit richten müssen, oder selbst für einen Umlagefonds Mittel requirieren. Die Individuen verfügen auch über privates Vermögen, aber ihre Hauptstrategie wird sich darauf richten, in ihren Kooperativen kollektiven Reichtum zu entfalten. Es macht Sinn, gemeinsam gut und effektiv zu arbeiten; aber es macht keinen Sinn, möglichst viel zu arbeiten.

Handel und Migration

Die Regionalkommunen, von denen hier die Rede ist, muss man sich als Ballungsgebiete plus Umland oder als großräumige ländliche Gebiete vorstellen, d.h. sie haben zwischen einer halben und mehreren Millionen Einwohner. Für die Kommunalversammlung bedeutet dies zum einen, dass sie gewählt werden muss; Repräsentation ist unerläßlich. Zum anderen bedeutet es, dass die direkte Einbeziehung aller in die zentralen Entscheidungen nicht über die Kommunalversammlung allein gelöst werden kann, sondern durch öffentliche, gestaffelte Verfahren, wie wir sie aus Modellen partizipativer Haushaltserstellung kennen. Wie aber gestaltet sich das wirtschaftliche Verhältnis zwischen diesen Kommunen? Auch hier gilt: Produkte und Dienstleistungen werden ganz normal gehandelt. Die Kommunen sind souverän, ihren Außenhandel zu regulieren - sie können Ein- und Ausfuhr bestimmter Güter unterbinden oder sie können Zölle erheben. Einnahmen daraus dürfen sie jedoch ebenfalls nicht frei verwenden, sondern müssen sie zweckgebunden für Aufbau oder Stützung einheimischer Produktion ausgeben. Die summenmäßigen Verhältnisse im Außenhandel werden - wie heute im internationalen Handel auch - in Handelsbilanzen erfasst. Erzielt eine Kommune mittelfristig monetäre Handelsbilanzüberschüsse, so muss sie diese an die globale Kommune abführen. Diese verwendet sie zur ökonomischen Förderung anderer Regionalkommunen. Die Kommune kann dem Abführen ihrer Überschüsse wiederum entgehen, wenn sie diese selbst in globale Umlagesysteme einbringt oder in andere Kommunen investiert. Das Kapital einer Kommune kann nicht von außen gekauft werden, weder ihr Grund und Boden noch ihre Produktionsanlagen und Einrichtungen. Geld von außen, von anderen Kommunen oder auch deren Individuen und Kooperativen, kann in lokale Kooperativen eingebracht werden, wird mit der allgemeinen durchschnittlichen Akkumulationsrate der dortigen Kommune verzinst und kann längerfristig auch wieder abgezogen werden. Auf diese Weise findet überschüssiges Geld seinen Weg in Regionen mit schwächerem Entwicklungsstand und höherer Wachstumsrate, aber es findet weder ein Ausverkauf, noch ein Abfluss des produzierten Mehrwerts, noch ein Wettlauf innerhalb der Kommune um hohe Akkumulationsraten statt. Migration ist frei. Wer seine Kommune verlassen möchte, kann seinen Kapitalanteil (abgesehen von Grund und Boden, also mit gewissen Abzügen) mitnehmen und in die Kommune einbringen, in die er zieht - wo er ab der nächsten Bilanzsaison dann dasselbe Recht aufs kollektive Kapital besitzt wie alle anderen auch. Attraktive Kommunen werden wachsen. Wer nicht möchte, dass sich die Einwohner ärmerer Kommunen ihren Anteil am globalen Reichtum mit den Füßen in den reicheren Kommunen abholen, wird ein starkes Interesse entwickeln, seine Überschüsse dort zu investieren oder an entsprechenden globalen Umlagesystemen teilzunehmen. Denn verwehrt werden darf Migration nicht. Kommunen können sich zusammenschließen. Auch das Umgekehrte ist möglich. Separation kann den Einwohnern einer Kommune nicht verwehrt werden. Dies kann auch ohne räumliche Trennung geschehen. Ein Teil der Einwohnerschaft, der ständigen Majorisierung in der Kommunalversammlung leid, kann beschließen, sich als eigene Kommune zu konstituieren - der ultimative Ausweg. In der politischen Ökonomie, von der wir hier reden, kann man nebeneinander wohnen und in unterschiedlichen Kommunen Mitglied sein, so wie man heute in unterschiedlichen Vereinen Mitglied ist. Die Entterritorialisierung von Gesellschaft und politische Ökonomie wird heute bereits von Migranten-Communities vorweggenommen, die mit den Kommunen ihrer Herkunftsländer ökonomisch eng verbunden bleiben, dort investieren usw.

Wann lohnt der Umstieg?

Wenn wir uns die politische Ökonomie, die hier beschrieben ist, als ein alternatives Betriebssystem vorstellen, dann stellen sich die üblichen Fragen: Lohnt der Umstieg? Läuft es auf allen Rechnern? Wie gut lassen sich Anwendungsprogramme dafür schreiben? Was passiert mit meinen vertrauten Windows-Applikationen? Der Umstieg lohnt sich grundsätzlich. Das System des konkreten kollektiven Eigentums am gesellschaftlichen Kapital läuft stabiler, ist weniger anfällig, verbraucht weniger Ressourcen und produziert weder soziale noch ökologische Abstürze. Es bietet weit höhere Gestaltungsmacht als das gängige System des privaten Eigentums am gesellschaftlichen Kapital, und auch als das verflossene System des staatlichen Eigentums. Damit sich ein Umstieg aber nicht nur grundsätzlich, sondern auch tatsächlich lohnt, muss Sozialismus Kernel 2.0 in verschiedensten gesellschaftlichen Teilbereichen und Teilkooperationen ausgiebig getestet sein, was heute ansatzweise ja bereits geschieht. Das Programm muss eine gewisse Reife und Stabilität haben, die von ökonomischen Garagenprogrammierern wie mir nicht gewährleistet werden kann, sondern nur durch eine breite Programmierer-Community in sozialen Bewegungen, kritischer Wissenschaft und Praktiker-Zirkeln erreicht wird. Nur wenn es brauchbare Anwendungsprogramme gibt, ist der Zeitpunkt erreicht, wo der Umstieg wirklich attraktiv wird. Sozialismus Kernel 2.0 läuft auf allen Rechnern, denn es ist sehr flexibel. Im Rahmen einer vorwiegend agrarischen Produktion mit einem schwachen monetären System z.B. werden die Einheitslöhne niedrig, der Grad an Selbstversorgung dafür hoch sein, während die Umlagesysteme weniger den Charakter von monetären Fonds, als vielmehr von direkter solidarischer Unterstützung und Mitversorgung annehmen. Das Programm zeigt jedoch auch hier unvermindert seine Zähne: jeder hat Zugang zu Land (Kapitalanteil!), und wo dieses zu größeren Produktionseinheiten vereinigt ist, sind die darauf Arbeitenden souverän, die Regeln zu bestimmen und das Management zu wählen, oder aber ihren Anteil herauszulösen, wenn es sich für sie nicht lohnt. SK2 eignet sich hervorragend, eine Vielzahl unterschiedlichster Anwendungsprogramme dafür zu programmieren. Eine Kommune, die SK2 benutzt, kann ihre politische Ökonomie "kommunistischer" oder "liberalistischer" fahren, je nach dem Anteil von öffentlichen Gütern, der Höhe des Einheitslohns, und der Art der kommunalen Umlagesysteme; sie kann die Fristen der Herauslösung der individuellen Kapitalanteile konservativer oder radikaler gestalten; sie kann größere oder kleinere soziale Differenzierung erlauben; sie kann stärkere eine maximal binnenwirtschaftliche oder eine stark außenhandelsorientierte Ausrichtung wählen. Es wird weiterhin politische Grundströmungen, Organisationen, politische Kampagnen und Auseinandersetzungen über den jeweiligen Weg geben. Das System garantiert jedoch die grundsätzliche Macht der kooperierenden Individuen, ihre Verhältnisse selbst zu gestalten, sowohl als Gesamtkollektiv wie auch als in den einzelnen Kooperativen. Viele der uns heute vertrauten Strukturen lassen sich auch auf dem alternativen Betriebssystem nachahmen. Wenn die in einem Betrieb Arbeitenden ihre Kapitalanteile dort einbringen, das bisherige Management wählen und die bisherigen Regeln weiter gelten lassen, ändert sich optisch erst mal gar nicht viel. Sie müssen es nur nicht dabei belassen. Das neue System gibt ihnen sehr viel mächtigere Tools an die Hand, die sie irgendwann, angeregt durch das Beispiel anderer, vermutlich ausprobieren werden. Umgekehrt lassen sich auch auf dem kapitalistischen System hier und da Programmumgebungen simulieren, wie sie einem alternativen sozialistischen Betriebssystem entsprechen würden. Dies bleibt allerdings immer etwas krampfig und vom Absturz bedroht, aber es geht. Ein Wechsel des Betriebssystems bleibt jedoch ein Wechsel des Betriebssystems. Auch wenn sich ein kapitalistisches System, das - durch die Anstrengung sozialer Kräfte - bereits in Teilen sozialistische Programmumgebungen simuliert, und ein sozialistisches System, das - weil man es ja so gewohnt ist - zunächst noch viele Anwendungsprogramme laufen lässt, die man eigentlich aus dem Kapitalismus gewohnt war, oberflächlich ähneln mögen - irgendwo dazwischen liegt der Punkt, wo man Windows wegschmeißt und auf eine Alternative umsteigt. Dies bleibt, bei allem demokratischen Übergang, der eigentliche revolutionäre Akt. Christoph Spehr ist freier Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitarbeiter der "alaska - Zeitschrift für Internationalismus". Er organisiert u.a. die Kongressreihe "Out of this world - Science Fiction, Politik, Utopie". aus: alaska 246