Gewaltfreier Widerstand gegen die israelische Besatzung
15 Monate nach ihrem Beginn steht die palästinensische Intifada politisch mit leeren Händen da, außer dass sie gezeigt hat, mit welch bemerkenswerter Unbeugsamkeit sich eine militärisch besetzte,
... schwach bewaffnete, weitgehend führungslose und nach wie vor enteignete Bevölkerung immer noch gegen die israelische Kriegsmaschine auflehnt. In den USA haben sowohl die Regierung als auch die Medien - mit wenigen Ausnahmen - Gewalt und Terror von Seiten der Palästinenser verurteilt, ohne auch nur ein Wort zu verlieren über die 35 Jahre andauernde militärische Besetzung durch Israel - immerhin die längste Besetzung eines Landes durch ein anderes in der zeitgenössischen Geschichte.
Die USA haben weitgehend Sharons Position unterstützt, dass Israel das Opfer ist und die Pälestinenser der Aggressor. Dieser Aggressor ist eingesperrt in 220 voneinander getrennten Ghettos, die von der israelischen Armee kontrolliert werden; Apache-Hubschrauber, Merkawa-Panzer und F-16-Flugzeuge mähen Tag für Tag seine Menschen, Häuser, Olivenbäume und Felder nieder; seine Schulen, Universitäten, Unternehmen, zivile Institutionen befinden sich in Auflösung; Hunderte von Zivilisten sind getötet worden, Tausende verletzt; seine Führer werden gezielt ermordet; über die Hälfte seiner Bevölkerung leben in Arbeitslosigkeit und Armut. Zur selben Zeit beklagt sich General Zinni über die palästinensische Gewalt - bei Arafat, der nicht einmal sein von israelischen Tanks belagertes Haus in Ramallah verlassen kann und dessen Sicherheitskräfte in ihren bombardierten Büros und Baracken um ihr Leben kämpfen.
Die palästinensischen Islamisten unterstützen die israelische Propaganda und das israelische Militär nur, mit den blindwütigen, barbarischen Selbstmord-Attentaten, die schließlich im Dezember Arafat dazu zwangen, mit seinen Sicherheitskräften gegen Hamas und Islamischen Djihat vorzugehen. Militante wurden inhaftiert, Büros geschlossen, es wurde selbst auf Demonstranten gefeuert, mitunter tödlich. Arafat beeilt sich, jedwede Forderung Sharons zu erfüllen - auch wenn Sharon immer wieder neue stellt, Zwischenfälle provoziert, oder sich einfach "unzufrieden" zeigt. Die verblüffende Antwort Arafats auf die brutalen Attacken auf die Palästinenser ist, man möge an den Verhandlungstisch zurückkehren, als ob nicht für jedermann klar wäre dass Sharon alles ablehnt was auch nur nach Verhandlungen aussieht, und als ob sich der Friedensprozess von Oslo nicht längst in Luft aufgelöst hätte. Genauso wenig kann ich verstehen, dass mit Ausnahme einiger weniger Israelis (wie etwas David Grossmann) niemand die Dinge beim Namen nennt und sagt, dass die Palästinenser für den israelischen Staat so etwas wie seine Eingeborenen darstellen, die Israel loszuwerden versucht.
Weder Arafat noch Djihad
Ein näherer Blick auf die palästinensische Realität zeigt jedoch ein etwas ermutigenderes Bild. Wie jüngste Umfragen gezeigt haben, besitzen Arafat und seine islamistischen Widersacher (die sich selbst absurderweise als "den Widerstand" bezeichnen) zusammen noch etwa 40 bis 45 Prozent Zustimmung in der palästinensischen Bevölkerung. Das heißt, es gibt eine schweigende Mehrheit von Palästinensern, die weder für die Autonomiebehörde und ihren sinnlosen Glauben an Oslo sind, noch für die Hamas und ihre Gewalttätigkeit. Und es gibt eine neue, säkulare Strömung in der Unabhängigkeitsbewegung. Es ist zu früh, von einer Partei oder einem Block zu sprechen, aber es ist eine nach außen sichtbare Gruppe entstanden, unabhängig und relativ populär. Zu dieser Gruppe gehören Dr. Haidar Abdel-Shafi und Dr. Mustafa Barghouthi, Mitglieder des Gesetzgebenden Rates wie Rawiya Al-Shawa und Kamal Shirafi, Schriftsteller wie Hassan Khadr und Mahmud Darwish und viele andere - und auch ich zähle mich zu dieser Gruppe. Mitte Dezember wurde ein gemeinsames Papier veröffentlicht, das in den arabischen und europäischen Medien viel beachtet wurde, in dem wir uns für die palästinensische Unabhängigkeit, für Widerstand und für die bedingungslose Beendigung der israelischen Besatzung aussprachen. Die Rückkehr zum Verhandlungsprozess von Oslo kam nicht darin vor. Wir glauben, dass Verhandlungen für bessere Bedingungen unter der Okkupation gleichbedeutend damit ist, diese Okkupation zu verlängern. Es gibt keinen Frieden, bevor die Okkupation beendet ist. Die kühnsten Passagen des Papiers handeln von der notwendigen Veränderung der internen Situation in Palästina: Stärkung der Demokratie; "Korrektur" der politischen Entscheidungsprozesse (die derzeit vollständig von Arafat und seinen Leuten kontrolliert werden); Wiederherstellung rechtsstaatlicher Zustände und einer unabhängigen Gerichtsbarkeit; Maßnahmen um weiteren Mißbrauch öffentlicher Gelder zu verhindern; Ausrichtung der öffentlichen Institutionen auf die Bedürfnisse ihrer Bürger. Die letzte und entschiedenste Forderung ist die nach neuen Parlamentswahlen.
Die Tatsache, dass so viele prominente Unabhängige dieses Papier gezeichnet haben - die meisten davon mit der Rückendeckung der Gesundheits-, Bildungs-, Fachvertretungs- oder Gewerkschaftsorganisationen, für die sie arbeiten -, hat seine Wirkung weder auf die Palästinenser noch auf das israelische Militär verfehlt. Im gleichen Atemzug betrat, gerade als Arafat auf Geheiß von Sharon und Bush die üblichen islamistischen Verdächtigen verhaften ließ, eine neue gewaltfreie internationale Solidaritätsbewegung die Bühne. Initiiert von Dr. Barghouthi, flogen 550 europäische Beobachter (mehrere davon Mitglieder des Europäischen Parlaments) auf eigene Kosten nach Palästina. Eine Gruppe gut organisierter, junger Palästinenser blockierte gemeinsam mit den europäischen Beobachtern das Vorrücken israelischer Truppen und Siedler, während sie gleichzeitig die palästinensische Seite daran hinderte, mit Steinen und Gewehren auf die Israelis loszugehen. Damit waren sowohl die Autonomiebehörde als auch die Islamisten faktisch kaltgestellt, so dass die israelische Besetzung an sich wieder in den Blickpunkt rückte. All dies geschah, während die USA per Veto einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates verhinderten, der eine unbewaffnete internationale Beobachtergruppe legitimieren sollte, sich genau in dieser Weise zwischen israelische Truppen und palästinensische Zivilisten zu stellen.
Die säkulare Unabhängigkeitsbewegung braucht Unterstützung
Am 3. Januar wurde Barghouthi nach einer Pressekonferenz in Ost-Jerusalem von der israelischen Polizei verhaftet, eingesperrt und zweimal verhört; sie brachen seine Kniescheibe mit dem Gewehrkolben und verletzten ihn am Kopf - unter dem Vorwand, er stifte Unruhe und habe Jerusalem widerrechtlich betreten (ungeachtet der Tatsache, dass er dort geboren ist und einen medizinischen Passierschein besitzt). Das Anwachsen eines gewaltfreien Widerstandes konnte dies freilich nicht bremsen. Ich bin sicher, dass dieser gewaltfreie Widerstand die Kontrolle über die Intifada gewinnen wird, die zu militarisiert ist, und dadurch wieder das Ende der Okkupation und der Siedlungen und die staatliche Unabhängigkeit auf die Tagesordnung setzen wird. Jemand wie Barghouthi ist weit gefährlicher für die israelische Besetzung als die bärtigen Islamisten, die Sharon gerne als die Bilderbuch-Terroristen vorführt, vor denen Israel sich schützen muss.
Wo ist nun die israelische und amerikanische Linke, die immer schnell bei der Hand ist, "Gewalt" zu verurteilen? Wäre es jetzt nicht an der Zeit, gemeinsam mit den wenigen israelischen AktivistInnen wie Jeff Halper und Louisa Morgantini auf die Barrikaden zu gehen - im übertragenen wie im wortwörtlichen Sinn? Wäre es jetzt nicht an der Zeit, mit der neuen säkularisierten palästinensischen Unabhängigkeitsbewegung zusammen zu arbeiten?
Einige haben die Zeichen der Zeit begriffen. Mehrere hundert israelische Reservisten haben sich geweigert, in den besetzten Gebieten zu kämpfen. JournalistInnen, AktivistInnen, WissenschaftlerInnen und SchriftstellerInnen (darunter Amira Hass, Gideon Levy, David Grossman, Ilan Pappe, Dani Rabinowitz und Uri Avnery) haben die Sharonsche Militäroffensive öffentlich als sinnlos und kriminell attackiert. Derartiges würde man sich aus den USA auch wünschen, wo nur vereinzelte Stimmen innerhalb der jüdischen Community sich trauen, ihrer Wut über die israelische Besatzungspolitik Ausdruck zu verleihen, und wo die arabische Community hauptsächlich mit ihren eigenen Problemen beschäftigt ist, der rassistischen Rasterfahndung und der Beschneidung ihrer politischen Freiheitsrechte.
Worauf es jetzt ankommt, ist die Zusammenarbeit zwischen den verschiedensten Gruppen, die den Impuls der neuen, säkularen Unabhängigkeitsbewegung aufnehmen. Und worauf es ankommt ist der Focus auf das Ziel: das Ende der Besetzung. Lasst uns das tun. Jetzt. Und auch die arabischen Intellektuellen sollten nicht zögern, dabei mitzutun.
Edward W. Said, geb. 1935 als Araber in Jerusalem, lehrt an der Columbia University in New York. Auf deutsch erschienen u.a.: Orientalismus (1981), Kultur und Imperialismus (1994), Götter, die keine sind (1997). Text aus: Counterpunch, 14.01.2002, www.counterpunch.org. Originaltitel: Emerging Alternatives in Palestine. Übersetzung und Bearbeitung: CS.
alaska Nr. 240