Verteidigung der Zivilisation
Die Linke, der Terror, die Zivilistation und die Barbarei.
Herr Ober, noch zwei ›Manhattan‹!", dazu zwei hochgespreizte Finger. Nur selten blitzt der Zynismus der humanistischen Humanisten so unverhohlen auf; meist bleibt es bei klammheimlicher Genugtuung. Die Ausbeutung der Dritten Welt; das Verhungern von tausenden Kindern Tag für Tag; das Elend in den Kriegsgebieten; die Bombardierung Bagdads; der Krieg gegen Restjugoslawien; der Nahost-Konflikt und die einseitige Parteinahme für Israel; die Unterstützung Pinochets; die Finanzierung von Mördern, nicht selten Massenmördern in Nikaragua, in Afghanistan und an verschiedenen Stellen Afrikas; Hiroshima und Nagasaki; die Zerstörung Dresdens; Vietnam; Korea; die Besetzung Grenadas, die Ausschaltung der UNO - lang ist die Liste, die nach dem besonders betonten "Aber" kommt; verschämt, manchmal auch auftrumpfend, um dann meist sofort wieder relativiert zu werden. Die Hilflosigkeit vor dem Terror schüttelt die Linke.
Sie leidet an der Welt, mehr noch aber leidet sie an ihren eigenen Defiziten. Vor allem ist ein permanentes Scheitern im Umgang mit dem Phänomen Zivilisation zu beobachten. Deren Doppelgesichtigkeit wird bestensfalls theoretisch akzeptiert; im konkreten Fall jedoch nehmen es viele Linke der Zivilisation übel, daß sie in der Barbarei wurzelt, daß der Grat, der beide trennt, schmal und der Firnis, den sie über die Barbarei gezogen hat, dünn ist. Vollends vergessen wird allzugern: Die Zivilisation ist das Ergebnis der Geschichte aller bisherigen Klassenkämpfe.
Und sie ist jeden Tag gefährdet. Das barbarische Gewohnheitsrecht, sich gegenseitig erschlagen, Mord mit Mord beantworten zu dürfen - dieses Auge um Auge und Zahn um Zahn, der tiefste Grund aller Barbarei -, ist bis heute nicht abgeschafft. Es ist in den letzten zehntausend Jahren lediglich aus dem unmittelbaren menschlichen Zusammenleben Stück für Stück zurückgedrängt worden. Nicht aus hehren moralischen Motiven, sondern auf Grund ganz praktischer Überlegungen: Dieses Gewohnheitsrecht verhinderte das Überleben aller.
Während die Mitwelt Kain den Mord vor allem noch deshalb verübelte, weil er ihn in der eigenen Familie begangen hatte, gilt heute das Morden innerhalb von Nationen als nicht hinnehmbar. Das ist der Ursprung aller Zivilisation. Der Mörder hat statt mit seiner Meuchelung hinter dem nächsten Busch mit Strafe zu rechnen, nach einem - zumindest leidlich - rechtsstaatlichen Verfahren, an dessen Ende ein Urteil steht; in vielen Staaten allerdings, darunter in den USA, oft immer noch das - barbarische - Todesurteil.
Zwischen den Nationen jedoch darf schon ab und an gemordet werden. Tucholskys Behauptung "Soldaten sind Mörder" findet hier ihre Legitimation. Wie sehr hochzivilisierte Gesellschaften gefährdet sind, in die Barbarei zurückzufallen, hat der Erste Weltkrieg klargemacht. Und wie nachhaltig auch ohne Krieg sich eine einzelne Gesellschaft der Barbarei ergeben kann, demonstrierte das Jahr 1933.
Zivilisation bedeutet ein Bündel von Regeln, die das Zusammenleben gegen das stets aufs Neue drohende Aufbrechen der Barbarei schützen sollen - unfertig, mitunter bis zur Dekadenz verfeinert, in jedem Fall aber die Voraussetzung von Kultur. Ob der Sozialismus wirklich den Ausweg vor immer neuem Barbarentum bietet, ist noch nicht bewiesen. Der Glauben vieler Nietzsche-geschulter Revolutionäre aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, aus den Trümmern der bürgerlichen Zivilisation werde bluttriefend und doch völlig unbefleckt eine sozial gerechte Gesellschaft erstehen - Hauptsache die kapitalistische Produktionsweise ist vernichtet -, ist vielleicht noch nachvollziehbar. Goutieren kann ich ihn nicht, nicht nur weil er mit MarxÂ’ Vorstellung über einen Sozialismus nichts, aber auch gar nichts gemein hat.
Das einzige Beispiel an Sozialismus, das wir kennen - sieht man von der viel zu kurzlebigen Pariser Kommune 1871 ab -, erwuchs aus der Barbarei, die Weltkrieg und Bürgerkrieg über das ohnehin nur bedingt zivilisierte Rußland gebracht hatten. Wohin der Versuch geführt hat, aus einem - zweifellos unverschuldeten - Rückfall in die Barbarei in den Sozialismus gelangen zu wollen, sollte dieses Beispiel hinreichend vor Augen geführt haben.
Demokratie mit allen individuellen Freiheitsrechten, Rechtsstaat mit entsprechender Rechtsprechung und Markt mit sozial-orientierten Interventionen sind Errungenschaften und Mittel, die Barbarei zu zivilisieren. Sie allein, noch dazu wenn sie gebunden sind an die kapitalistische Produktionsweise, bieten natürlich keinen hinreichenden Schutz gegen Rückfälle in Krieg und Bürgerkrieg. Aber ohne sie wird der Kapitalismus zu Barbarei pur. Die neoliberale Offensive des letzten Vierteljahrhunderts führt in diese Richtung.
Natürlich ist das Geschrei von der angegriffenen zivilisierten Welt, mit dem seit dem 11. September zum nächsten Waffengang moralisch aufgerüstet wird, verlogen. Zivilisation bedeckt heute den ganzen Erdball. Und sie wird auf dem ganzen Erdball immer wieder zurückgeworfen. Daran haben die USA-Eliten mehr als eine Aktie. Diese Eliten werden das zerstörte World Trade Center nutzen, um mit Gewalt aus der selbstverschuldeten Krise ihrer unilateralen und neoliberalen Weltordnung herauszukommen, und damit lediglich die Barbarei und das Leid in der Welt weiter vergrößern.
Die Forderung auf der Linken jedoch, die Schreibtischmörder vom 11. September mit allen Mitteln - und dazu gehören alle, auch nachrichtendienstliche und militärische - einer Bestrafung zuzuführen, als Anbiederung an die Kriegstreiber zu denunzieren, wirft absichtsvoll den Schutz vor weiterer Barbarisierung des internationalen Lebens mit dem Drang, die zutiefst ungerechte Weltordnung bis zum Jüngsten Tag zu verlängern, in einen Topf. Die Defizite der Linken - sowohl in der Analyse als auch in der Formulierung von Alternativen - sind mit solcher Denunziation nicht dauerhaft zu verdecken.
Häme oder auch nur Genugtuung ob der in Massenvernichtungswaffen verwandelten Linienflugzeuge - sei es als "Herr Ober, noch zwei ›Manhattan‹!" oder auch nur klammheimlich -, vertiefen lediglich die Kluft zwischen sozialistischem Anspruch und realexistierender Zivilisation. Bestrafung ist und bleibt ein wesentliches Mittel gegen die Ausbreitung von Barbarei.