Interview mit Moshe Zuckermann
Wenn wir über Israel und den Nahost-Konflikt reden, werden wir immer wieder auf identitätspolitische Fragen verwiesen.
Wenn wir über Israel und den Nahost-Konflikt reden, werden wir - stärker als dies in bezug auf die meisten anderen modernen Staaten der Fall ist - immer wieder auf identitätspolitische Fragen verwiesen. Der lange Schatten der Vergangenheit in Gestalt des Traumas des Holocaust und in Gestalt konfligierender religiöser und ethnischer Identitäten, aber auch die Suche nach einer modernen politischen Kultur prägen die jüdisch-israelische Gesellschaft und ihr Verhältnis zu den Palästinensern in und außerhalb Israels. Warum sind Ihrer Meinung nach die trennenden Diskurse in Israel soviel mächtiger als das pragmatische Bedürfnis nach Frieden?
Die Macht der Diskurse und die Verweigerung einer wahrhaftigen, d.h. die Probleme an ihren Wurzeln packenden Friedenspolitik mit all den sich daraus ergebenden Konsequenzen hängen für meine Begriffe ursächlich miteinander zusammen. Gerade weil die langen Schatten der Vergangenheit, mit dem Holocaust als weltgeschichtlichem Kulminationspunkt, offenbar so wirkmächtig sind, hat sich ein paranoides Moment in die israelische Realpolitik gleichsam wie von selbst eingeschlichen: Sicherheit versteht sich vor allem als Verhinderung jeglicher potentiellen Bedrohung, wobei die Verhinderung selbst - als eine Art Reaktion auf die jahrhundertealte diasporische Erfahrung - in erster Linie als (militärische) Wehrhaftigkeit begriffen wird. Unabhängig davon, daß dieses paranoide Moment einen historischen, mithin realen Wahrheitskern bergen mag, ist es im Laufe der Kristallisierung und Verfestigung der israelischen politischen Kultur, besonders seit 1967, zunehmend fetischisiert worden, mithin zum integralen Bestandteil israelischer Macht- und Herrschaftspolitik mutiert. Hinzu kommt noch ein Strukturelement, dessen innere Logik aus der sozialpsychologischen Forschung wohlbekannt ist: Um innere Konfliktpotenziale und Widersprüche entsorgend aufzuheben, ist es stets angeraten, äußere Bedrohung anzuführen und - wenn nötig - zu vitalisieren. Die israelische Gesellschaft ist in der Tat von schwersten inneren Konflikten gebeutelt, die unter gewissen Voraussetzungen kulturkampf- bzw. bürgerkriegsähnliche Auswirkungen zeitigen könnten. Um die innere Kohäsion zu wahren, wird es da nötig "Prioritäten" zu setzen: um die "Sicherheit" zu garantieren, muß die innere "Einheit" gewahrt werden. Daß dabei "Sicherheit" und "Einheit" angesichts der real fortbestehenden inneren Zerrissenheit zu Ideologiekonstrukten verkommen müssen, versteht sich von selbst. Das falsche Bewußtsein manifestiert sich eben darin, daß das, was tendenziell die Sicherheit garantieren könnte, nämlich der Frieden (wie immer schwierig er sich künftig auch gestalten dürfte), zum Objekt der Verhinderung im Namen der "Sicherheit" verkommt. Natürlich gibt es innerhalb der Gesellschaft vielerlei politische Nuancen, die aber in den historischen Momenten, in denen es darauf ankam, bislang stets einen bezeichnend konsolidierenden, mithin zionistischen Rechtsruck erfahren haben.
Was wäre Ihrer Meinung nach eine realistische Zukunftsperspektive, um diese Spirale antagonistischer Identitätspolitiken zu durchbrechen?
Die Spirale der antagonistischen Identitätspolitiken muß nicht durchbrochen, sondern durchgestanden werden. Es sind ja reale, zwar lösbare, aber als gesellschaftlich-kulturelle Manifestationen eben auch existierende Gegensätze, Widersprüche und Konflikte, um die es geht. Daß diese Widersprüche allesamt schon in der klassischen Ideologie des Zionismus angelegt waren, ändert ja nichts daran, daß sie in ihren nunmehr erfolgten, späten Objektivationen eine reale Wirklichkeit ausmachen. Wenn z.B. das religiöse Moment im säkularen politischen Zionismus von Anbeginn eingebettet war (etwa in der territorialen Bestimmung des Staates Israel oder im postulierten Kriterium der Staatsangehörigkeit), so bildet der Machtkampf zwischen religiös-orthodoxen und säkularen Juden ein objektives Strukturelement der israelischen Gesellschaft. Daß dabei die Religion in der zivilen Demokratie, nicht aber die zivile Demokratie in der Religion aufgehoben werden könnte, verweist auf eine mögliche Lösung dieses Identitätskonflikts. Aber das muß eben ausgefochten werden. Ähnlich sieht es mit den ethnischen Konflikten zwischen aschkenasischen und orientalischen Juden aus, welche zumindest im Bewußtsein derer, die darin ein Problem der Identität erblicken, ein wichtiges Moment der sozialen Positionierung darstellen. Daß sich dabei der Klassen- und der ethnische Faktor im israelischen Fall mehr oder minder überlappen, hängt mit der spezifischen zionistischen Immigrationsgeschichte nach Palästina und späterhin nach Israel zusammen. Auch dieses Problem läßt sich meistern, aber eben nur, wenn es tatsächlich offen ausgestanden wird. Unabdingbar für die Konfrontation all dieser inneren Identitätspolitiken ist freilich der äußere Friedenszustand.
Sie sind auch in Deutschland für Ihre These bekannt geworden, daß interne Konfliktlinien innerhalb der jüdisch-israelischen Gesellschaft in der Vergangenheit durch Bedrohungsszenarien unterdrückt wurden. Zivile Konfliktlinien wie z.B. Generationenkonflikte oder die Geschlechterfrage wurden dadurch marginalisiert. Seit den neunziger Jahren funktioniere dies allerdings nicht mehr. Wie ist dieser Befund der Pluralisierung mit dem Phänomen der Wiederbelebung des Sicherheitsdiskurses und einer Eskalation der Konflikte zwischen jüdischen Israelis und Palästinensern vereinbar?
Wie ich schon in der Beantwortung der ersten Frage sagte, könnte gerade das eine das andere kausal erklären. Über Jahrzehnte wurden die heterogenen inneren Konflikte unter den tagespolitischen Teppich gekehrt, nicht zum geringen Teil eben vermittels des zum Primat erhobenen Problems der äußeren Sicherheitsbedrohung. Die Kittfunktion, welche die zionistische Ideologie dabei erfüllte, erfuhr seit dem 1982er Libanonkrieg eine allmähliche Schwächung. Durch die erste Intifada und den Golfkrieg verstärkt, erweiterten sich die Risse im Konsens, eben weil man im Falle Libanons über den Ausbruch eines "nicht notwendigen" Krieges, im Fall der Intifada über den brutalen Umgang des israelischen Militärs mit den Palästinensern, im Fall des Golfkrieges über die Einsicht, daß Territorien im Zeitalter von Langstreckenraketen keine Sicherheit mehr zu garantieren vermögen, ziemlich schockiert war. Nicht von ungefähr setzte kurze Zeit nach dem Golfkrieg der Friedensprozeß ein, was mutatis mutandis die Entsorgung der fetischisierten Sicherheitsfrage zur Folge hatte. Es sind denn auch in diesem Jahrzehnt die inneren Konfliktachsen deutlicher an die Oberfläche gelangt und brachen z.T. vehement durch. Nicht auszuschließen, daß Rabin gerade als "Zerstörer" besagter Kittfunktion (mithin als "Verräter" am zionistischen Zusammenhalt) ermordet wurde. Das müßte mal genauer untersucht werden. Klar ist aber, daß jetzt, wo es mit den Palästinensern endgültig ans Eingemachte geht, die Konfliktpotentiale dabei aber nicht mehr wegdiskutiert werden können, die "Besinnung" auf die mythische äußere Bedrohung (mithin auf die Ideologie der nationalen Konsolidierung und der kollektiven "Einheit") wieder eine prägnantere Rolle spielt. Ich will dabei keinesfalls die realen Ängste vieler jüdischer Israelis in Abrede stellen, weise indes darauf hin, daß auch Ängste für fremdbestimmte Zwecke instrumentalisiert, mithin zur Ideologie verkommen können.
Auch die Gegner Ehud Baraks sind ja von der Pluralisierung des politischen Spektrums nicht ausgenommen. Inwiefern bestimmen hier religiöse und/oder ethnische Spannungen die verschiedenen Optionen für den Frieden? Welche Positionsverschiebungen im religiösen Lager sind auszumachen?
Man kann davon ausgehen, daß sich fast das gesamte religiöse politische Lager gegen Barak stellen wird - die Nationalreligiösen aus religiös durchsetzten, letztlich aber auf territoriale und siedlungspolitische Fragen zielenden Gründen, die Orthodoxen (vor allem die Shas-Partei) eher aus religiös begründeten "kulturkämpferischen" Gründen, die sich gleichwohl auf Fragen der Finanzierung ihrer Parteiinstitutionen und der realpolitisch damit einhergehenden Koalitionsbedingungen ausrichten. Bemerkenswert ist dabei, daß sich im letzten Jahrzehnt eine zunehmende Angleichung beider Zentralflügel des religiösen Lagers vollzogen hat: Während sich die im Zionismus fußenden Nationalreligiösen immer mehr "orthodoxierten", nationalisierten sich die Orthodoxen, die sich ja über Jahrzehnte vom zionistischen Projekt mehr oder minder ferngehalten haben. Das ethnische Wahlverhalten ist differenzierter, kann aber in seinen Grundmustern wie folgt charakterisiert werden: Während sich die tendenzielle Rechtslastigkeit der "russischen" Parteien mit dem Ausspielen ihrer konkreten sektoralen Interessen erklären läßt (wobei die persönliche Freundschaftsbeziehung zwischen Scharanski und Netanjahu, zumindest in der Vergangenheit, eine nicht unwesentliche Rolle spielte), rührt die rechte Wahl bei vielen orientalischen Juden von einem tief verwurzelten Ressentiment gegenüber der Arbeitspartei her. Der paternalistisch-überhebliche Umgang der historischen Mapai-Partei mit den orientalischen Einwanderungswellen der 50er Jahre wird noch heute als "aschkenasischer Rassismus" ausgelegt, der parteihistorisch auf die damals herrschende, von einer tatsächlichen aschkenasischen Hegemonie getragenen Arbeitspartei projiziert wird. Dies wußte sich in den 70er Jahren der rechtskonservative Menachem Begin sehr geschickt zunutze zu machen, was späterhin die "traditionell" rechtsgerichteten Wahlmuster der meisten orientalischen Juden zur Folge hatte.
Bis zur Ermordung von Premierminister Yitzhak Rabin im Jahre 1995 schien die Friedensbewegung in Israel breite öffentliche Unterstützung zu genießen. Wie läßt sich das häufig konstatierte Umkippen der öffentlichen Meinung erklären? Wo finden sich heute die tatkräftigsten Unterstützer der Friedensbewegung? Welchen Herausforderungen - z.B. identitätspolitischer Art - muß sich die jüdische Öffentlichkeit Israels Ihrer Meinung nach stellen, damit der Friedensprozeß eine dauerhafte Chance hat?
Das Zentralproblem der israelischen Friedensbewegung liegt m.E. darin, daß sie mit der Wahl Rabins zum Premierminister, mithin der Durchbrechung des seit 1977 anhaltenden Machtmonopols des rechten politischen Blocks, meinte, sich zur Ruhe setzen zu können. "Ihre" Vertreter waren sozusagen - zumindest, was die Peace-Now-Bewegung anbelangt - an die Macht gelangt, und sie ist seit dieser Zeit nie wieder recht aus ihrem Dauerschlaf erwacht. Die friedenswillige öffentliche Meinung war, so besehen, nie umgekippt, sondern erlahmte einfach, weil sie sich staatsoffiziell in und von der Macht vertreten wähnte. In den letzten Monaten ist nun dieser zionistischen Linken plastisch vor Augen geführt worden, worum es beim jahrelang als Lippenbekenntnis postulierten Frieden eigentlich geht, und es stellte sich dabei heraus, auf welch wackligen Hühnerbeinen diese Linke letztlich steht. Die breite Masse der israelischen Friedensbewegung hat den zionistischen Diskurs ja nie überschritten; entsprechend war sie immer schon von jenen zionistischen Ideologemen geprägt, von denen es nun aber gilt, sich historisch zu verabschieden bzw. sie eingehend zu hinterfragen. Darin sehe ich freilich nicht nur das Problem der Linken, sondern das des allergrößten Teils der jüdisch-israelischen Gesellschaft. Wenn es aber schon in der friedensbewegten Linken so aussieht, kann man sich ausmalen, wie es um das sogenannte "nationale Lager" bestellt ist. Damit der Frieden eine Chance hat, muß er gewollt werden. Damit er aber gewollt wird, muß man sich über seinen "Preis" klar geworden sein. Proklamierte Friedenswilligkeit bedeutet ja noch lange nicht reale Friedensbereitschaft, und ich fürchte, daß große Teile der israelischen Gesellschaft sich über diesen Zusammenhang noch nicht klar geworden sind.
Der Vorwurf, daß die Palästinenser noch nicht für die Demokratie bereit wären, ist von seiten der Kritiker des Friedensprozesses eines der entscheidenden Argumente gegen eine gleichberechtigte Integration innerhalb Israels. Und auch die Option der Gründung eines souveränen Palästinenserstaates wird von Zweifeln an der Demokratiefähigkeit der Palästinenser überschattet. Wie schätzen Sie die Fähigkeit der Palästinenser zu Zivilgesellschaft, Demokratie und friedlichem Zusammenleben ein? Welchen Herausforderungen - z.B. identitätspolitischer Art - müßten sich die palästinensischen Staatsbürger Israels und die Palästinenser außerhalb Israels Ihrer Ansicht nach stellen, damit der Friedensprozeß eine Chance hat?
Die von Israelis erhobene Kritik gegen die Demokratiefähigkeit der Palästinenser ist, gelinde gesagt, ein Witz, denn sie geht davon aus, Israel selbst sei demokratisch. Davon kann aber keine Rede sein: Ein Land, das seit über 30 Jahren ein brutales Okkupationsregime betreibt, die große in ihm lebende arabische Minorität systematisch unterprivilegiert und diskriminiert, von nicht wenigen Alltagsrassismen und ethnischen Vorurteilen durchsetzt ist, kann schlechterdings nicht beanspruchen, demokratisch zu sein. Es sei denn, man meint damit jene formale Demokratie, die es immer schon ermöglicht hat, den äußeren demokratischen Schein bei einer perennierenden undemokratischen Praxis zu wahren. Wenn aber diese Art der Demokratie gemeint ist, sind die Palästinenser nicht minder demokratiefähig als die Israelis. Den Palästinensern dürfte man dabei noch zumindest eines zugute halten: Man kann von einem unter schwerster Unterdrückung lebenden Kollektiv nicht erwarten, daß es sich "demokratisch" bzw. "zivilgesellschaftlich" entfalte. Deutschland, meine ich, wüßte darüber ein zweihundertjähriges Lied zu singen. Die Frage ist also nicht, ob die Palästinenser in oder außerhalb Israels demokratiefähig sind, sondern ob sie aus ihrer Repression in die Demokratie in einem eigenen Land bzw. in die Freiheit der bürgerlichen Gleichstellung in Israel entlassen werden. Vielleicht könnte bei dieser Gelegenheit Israel auch endlich demokratisch werden.
Wie schätzen Sie die Aussichten für den Frieden in Israel nach den Wahlen zur Knesset am 6. Februar 2001 ein? Halten Sie eine Trennung der beiden ethnischen Gruppen für eine dauerhafte Lösung? Was dürfen wir Ihnen und Ihrem Land für die Zukunft wünschen?
Wie es im Moment aussieht, wird wohl Ariel Sharon die Wahl gewinnen. Sharons Biographie ist von einer nahezu durchlaufenden Gewaltgeschichte gezeichnet. Ich erwarte von ihm nichts im Hinblick auf einen wahrhaftig dauerhaften Frieden. So katastrophal sich aber die mögliche Wahl Sharons ausnehmen mag, meine ich, daß er, wie alle seine Vorgänger in den 90er Jahren, lediglich das Symptom eines größeren Strukturproblems darstellt. Rabin wurde ermordet, Netanjahu kam und ging, Barak kam und wird möglicherweise noch schneller gehen, und auch Sharon wird nicht ewig bleiben. Erwiesen hat sich dabei gleichwohl, daß das Land mehr oder minder unregierbar geworden ist: zu sektoral zersplittert ist seine politische Landschaft, zu parzelliert seine soziale Struktur, zu gravierend durchwirken es die historisch entstandenen, strukturell angelegten Konfliktachsen und Aporien. Die Frage nach dem Frieden ist für Israel, so besehen, keine Luxus-, sondern eine Existenzfrage. Der Frieden wird kommen, weil er kommen muß - nichts führt an ihm vorbei; zu fragen bleibt lediglich, wie viele Gewaltetappen man dabei wird durchqueren müssen und wie viele (überflüssige) Opfer den beschwerlichen Weg zum ersehnten Frieden pflastern werden. Im Friedenszustand selbst halte ich die Trennung von Israel und Palästina, mithin die Gründung eines souveränen palästinensischen Staates für eine geschichtlich notwendige Zwischenlösung, und sei's, weil die Palästinenser selbst diese Phase nationaler Selbstbestimmung offenbar herbeisehnen. Längerfristig - allerdings in durchaus sichtbarer Zukunft - sehe ich freilich die dauerhafte Lösung des Nahostkonflikts in der Errichtung einer konföderativen Struktur (unter möglicher Einbeziehung Jordaniens), bei der gerade wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell offene Grenzen den wirklichen Frieden zu garantieren vermöchten. Ich meine, daß bei aller Düsternis der letzten Zeit dieser auf wahrhaftige Koexistenz ausgerichtete Gedanke als regulative Idee erhalten werden muß.
Herr Dr. Zuckermann, herzlichen Dank für dieses Interview!
Das Interview führte Cathleen Kantner
Prof. Dr. Moshe Zuckermann, Historiker, Universität Tel Aviv