DIE VIER TRICKS AUS RIESTERS KISTE

Auf dem Weg zur Abkehr vom Solidarprinzip

in (25.01.2001)

Wie viele Prinzipiengewerkschaftlicher Solidarität kann Walter Riester noch abwerfen, um denBefähigungsnachweis für sein Ministeramt zu erbringen

Sollte die ganze Mühe umsonst gewesen sein? Wie viele Prinzipien
gewerkschaftlicher Solidarität kann Walter Riester noch abwerfen, um den
Befähigungsnachweis für sein Ministeramt zu erbringen? Scheinbar
unbeeindruckt von alledem, was Riester den Arbeitslosen,
Sozialhilfeempfängern, Rentnern schon gestrichen hat, fordert
Industrieverbandspräsident Olaf Henkel die Eingliederung des Arbeits-
und Sozialministeriums in das Wirtschaftsministerium, damit der
parteilose Werner Müller als Lobbyist der Unternehmerverbände
rücksichts- und reibungsloser die im Interesse des Wirtschaftsstandortes
erforderlichen sozialen Grausamkeiten durchzieht. Riester hat jetzt sein
größtes "Reformvorhaben" präsentiert: den Umbau des Rentensystems. Die
Eckpunkte sind: Abkehr vom Solidarprinzip der Umlagefinanzierung,
Einstieg in private Kapitalrentenfonds, Reduzierung des
Arbeitgeberanteils, Senkung des Rentenniveaus. Im Jahre 2002 soll der
Um- und Abbau beginnen, zunächst mit einem Prozent vom Bruttolohn für
die Kapitalrente, später vier Prozent.
Parteien und Verbände diskutieren eifrig, verlangen noch Nachbesserungen
für die jeweilige Klientel. Grundsätzlich zufrieden äußert sich die
private Versicherungswirtschaft, die ein großes Geschäft erwartet. Die
Unternehmerseite insgesamt darf sich darauf freuen, daß ihre
Lohnnebenkosten gesenkt werden, wenn auch nicht in dem von ihr
gewünschten Ausmaß. Von den Gewerkschaften hört man Unmut, sie sprechen
sogar von möglichen Massenprotesten. Ob sie allerdings zu einem heißen
Herbst gegen die Regierungspläne mobilisieren, muß wegen der Nähe vieler
Gewerkschaftsfunktionäre zur SPD bezweifelt werden.
Verdächtig ruhig bleiben bisher die jetzigen und baldigen Alten. Mit
Hilfe mehrerer Tricks scheint Riester und seinen Leuten zu gelingen, was
Norbert Blüm immer so schwer fiel: Renten-Klau, ohne daß es die
Betroffenen so recht merken und mit Abstrafung bei der nächsten Wahl
drohen können. Der erste Trick gelang schon 1999/2000: Zunächst
verkündete die neue Regierung stolz in Großanzeigen, daß sie die von der
Vorgängerregierung beschlossenen "unzumutbaren Rentenkürzungen"
rückgängig gemacht habe ­ um wenige Monate später zu beschließen, die
Renten im Jahre 2000 nur um die Preissteigerungsrate des Vorjahres von
0,8 Prozent und nicht gemäß dem um drei Prozent gestiegenen Nettolohn zu
erhöhen. Da in den Jahren zuvor die Rentenanpassungen entsprechend den
damals sehr niedrigen Lohnabschlüssen fast immer hinter dem Preisanstieg
zurückgeblieben waren, bekam niemand genau mit, wie da in den Jahren
eins und zwei der Regierung Schröder die Rentnerinnen und Rentner im
Schnitt um ungefähr 40 Mark im Monat bestohlen wurden. Eine
vergleichbare Absenkung hätte der Blümsche "Demographie-Faktor" erst
nach mehreren Jahren geschafft. Das niedrigere Rentenniveau des Jahres
1999/2000 ist zugleich die niedrigere Berechnungsbasis für alle
kommenden Jahre.
Auch die Anpassung des Jahres 2001 sollte sich, wie Riester zunächst
geplant hatte, nach der Preissteigerung des Vorjahres richten. Angeblich
bewogen die Proteste der Gewerkschaften die Regierung, zur
Nettolohnanpassung zurückzukehren ­ was nicht schwer fiel, wird doch die
Nettolohnrate dieses Jahres infolge der gebremsten Lohnabschlüsse und
einer geänderten Berechnungsgrundlage unter der zu erwartenden
Preissteigerung von etwa zwei Prozent liegen. In der geänderten
Berechnungsmethode steckt der Trick Nr. 2: Mit dem 630-Mark-Gesetz
werden von diesem Jahre an die gering Beschäftigten erstmalig in die
Nettolohnstatistik aufgenommen ­ wodurch der fiktive Durchschnittslohn
sinkt. Die genaue Berechnung liegt noch nicht vor, auch werden wohl
nicht alle Beschäftigten schon im ersten Jahr von der Statistik erfaßt,
aber nach Schätzung von Fachleuten wird sich die Einbeziehung der drei
bis vier Millionen prekären Jobs so auswirken, daß der Durchschnittslohn
um fünf bis sechs Prozent geringer ausfällt. Die Rentnerinnen und
Rentner sollten in den kommenden Jahren ihre Kontoauszüge genau ansehen
und nicht der von fast allen Zeitungen verbreiteten Propaganda glauben.
Der jetzigen Rentnergeneration sowie den über Fünzigjährigen wird
beruhigend versichert, daß an ihren erworbenen Rentenansprüchen nicht
gerüttelt werden solle. Der vom Hause Riester neu kreierte
"Ausgleichsfaktor" komme für sie gar nicht mehr zur Anwendung. Nur für
die Jüngeren gelte, daß sie vom Jahre 2010 an mit etwas weniger Rente
aus der Sozialversicherung zu rechnen hätten. Im Jahre 2030 würden sie
vom staatlichen System immerhin noch mit 64 Prozent gegenüber den
jetzigen 70 Prozent bedient werden. Dafür hätten sie ja private
Versicherungsansprüche aufbauen können, so daß die fehlenden sechs
Prozent mindestens aufgewogen würden... In Wahrheit müssen alle, sowohl
die jetzigen wie auch die zukünftigen Rentnerinnen und Rentner, sich auf
wesentlich höhere Abschläge bei der gesetzlichen Rente einstellen, wenn
Riesters jetzt vorliegender Entwurf Gesetzeskraft erlangt.
Der dritte Trick besteht in den noch unter Blüm beschlossenen und unter
Rot-Grün nicht rückgängig gemachten, sogar noch weiter vorangetriebenen
Verminderung der Anrechnungszeiten: So werden höchstens noch drei
Ausbildungsjahre anerkannt, Zeiten der Arbeitslosigkeit werden nur noch
mit einem ständig verminderten Prozentsatz berechnet, Behinderte und
Frauen müssen länger arbeiten, damit sie die erforderliche Anzahl
anrechenbarer Jahre erreichen, in der Regel werden sie also Einbußen in
Kauf nehmen müssen. Witwenrenten sollen generell auf 55 Prozent gesenkt
werden, ohne daß ein eigenständiger Rentenanspruch gewährleistet wäre.
Und so weiter.
Der vierte Trick ist ebenfalls geschickt angelegt: Die statistische
Größe "durchschnittliche Nettolohnhöhe" soll von 2002 an weiter
verringert werden um jenen Betrag, den die Arbeitenden in die private
Vorsorge zahlen sollen ­ ob sie es nun wirklich tun oder nicht. Ein
Prozent vom Bruttolohn bedeutet aber ca. zwei Prozent vom Nettolohn; ab
2008 mit den dann vier Prozent für private Vorsorge ergäbe das eine um
acht Prozent abgesenkte Rente. Hinzu kommt, daß in Zukunft all jene
Erhöhungen des Nettoeinkommens eines durchschnittlichen
Arbeitnehmerhaushalts, die durch Anhebungen staatlicher
Transferleistungen wie Kindergeld, Wohngeld etc. oder aus
Steuerermäßigungen entstehen, nicht mehr angerechnet werden. Wenn zudem
die Lohnsteuersätze den Inflationsraten angepaßt werden, kann die
Rentenbezugsgröße "durchschnittlicher Nettolohn" weiter abrutschen und
zur bloßen Fiktion werden.
Fazit: Die Aussagen des Hauses Riester über die Höhe der gegenwärtigen
und der zukünftigen Renten entsprechen nicht der Wahrheit. Keineswegs
bleibt durch die geplante "Reform" die Versorgung der heutigen
Rentnerinnen und Rentner unangetastet. Sie wurde schon in den letzten
Jahren Zug um Zug abgesenkt. Und im Jahre nach 2002, also ab 2003 (das
ist der Grund für die jüngste Verschiebung: keine verärgerten Rentner im
Wahljahr!) wird sie spürbar weiter sinken, innerhalb von zehn Jahren um
mindestens 15 Prozent.
Den jungen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wird im Jahre 2030 viel
mehr fehlen, als die versprochenen sechs bis sieben Prozent aus den
schönen Kapitalfonds aufwiegen könnten ­ wenn diese dann überhaupt noch
Wert besitzen. Nicht nur, daß dann nur noch eine Minderheit 45
anrechnungsfähige Jahre Erwerbstätigkeit erreicht haben wird, auch die
erheblich abgesenkte fiktive Bezugsgröße "durchschnittlicher Nettolohn"
wird zu viel höheren Ausfällen in der gesetzlichen Rente führen, als die
heute vom Arbeitsministerium zugesicherten 64 Prozent vorgaukeln.
Die Gewerkschaften scheinen schon etwas gemerkt zu haben. Sie rechnen
dem Kollegen Riester immerhin die versteckten vier Minus-Prozente vor
und kommen auf nur noch 60 Prozent. Doch scheinen sie den Unterschied
zwischen brutto und netto noch nicht gesehen zu haben; auch nicht das
Senkungspotential durch die Einbeziehung der Geringverdienenden,
desgleichen nicht das geplante Herausrechnen der staatlichen
Transferleistungen. Tatsächlich müßten sich die abhängig Beschäftigten
auf eine gesetzliche Rente von weniger als der Hälfte ihres letzten
Nettolohnes einstellen, wenn Riester mit seinen Um- und Abbau-Plänen
durchkommt. Auch ein Durchschnittsrentner mit 45 anrechenbaren
Versicherungsjahren wäre auf Sozialhilfe angewiesen ­ falls diese in
dreißig Jahren überhaupt noch gewährt wird.
Ein "heißer Herbst" bleibt vermutlich aus, aber für einen unruhigen
Winter zu sorgen, ist es noch nicht zu spät!