Aufschwung Ost?

Bemerkungen nach 10 Jahren deutscher Einheit

Eine erste Bilanz aus 10 Jahren Marktwirtschaft und warum diese nicht in erster Linie für den Fortschritt im Osten veranwtortlich ist.

1. Gegenwärtige Stagnation

Der wirtschaftliche Fortschritt, den Ostdeutschland in den zehn Jahren seit der Wiedervereinigung erlebt hat, kann am besten abgelesen werden an der Breite und Qualität des Warenangebots und an der stark verbesserten Infrastruktur (Telekom, Straßen, Stadterneuerung usw.). So wichtig dies alles für das tägliche Leben ist, es belegt aber leider noch keinen eigenständigen Aufschwung. Schaut man nämlich genauer hin, so stellt sich heraus, dass ein Großteil der Waren aus Westdeutschland kommt und die Verbesserung der Infrastruktur nicht von der ostdeutschen privaten Wirtschaft, sondern vom gesamtdeutschen Staat finanziert worden ist. Obwohl also die Marktwirtschaft seit 10 Jahren (oder jedenfalls seit dem Abschluss der Privatisierung 1994) in Ostdeutschland etabliert ist, ist das, was hier als Fortschritt ins Auge sticht, keineswegs allein auf sie zurück zu führen, sondern in hohem Grade auf einen anderen Markt und letztlich auf den Staat.

Untrüglicher Beleg für diese Tatsache sind die seit 1992 permanent gegenüber den selbst erzeugten Einkommen um rund 200 Mrd. DM höheren Konsum- und Investitionsausgaben in Ostdeutschland (sog. Produktionslücke). Das ist ein Drittel der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage! Es wird zum kleineren Teil durch Kapitalimport und zum größeren Teil durch Transferleistungen des Staats finanziert. Das entsprechende Güterangebot wird aber hauptsächlich von der westdeutschen Wirtschaft bereitgestellt. Die in beträchtlichem Umfang kreditfinanzierten staatlichen Finanztransfers wirken daher wie ein großangelegtes keynesianisches Konjunkturprogramm für Westdeutschland. Eben deshalb sind sie aber nicht zuerst eines für Ostdeutschland!

Gewiss hat die ostdeutsche Marktwirtschaft als solche auch Fortschritte gemacht. So ist das BIP pro Einwohner bis 1996 auf 56,8 % des westdeutschen Niveaus angestiegen, die Arbeitsproduktivität bis 1997 auf 60,4 % und das Bruttoeinkommen der abhängig Beschäftigten bis 1996 auf 74,4 % der Werte in den alten Bundesländern angewachsen. Aber seitdem stagnieren alle diese Größen und bleiben die Wachstumsraten hinter denen Westdeutschlands zurück! Von einem Aufholen kann demnach keine Rede mehr sein.

Dagegen verweist man nun seit 1998 gern auf das außerordentliche Wachstum speziell der Industrie und des Exports. In der Tat lag die Zuwachsrate des verarbeitenden Gewerbes 1999 als Folge der Mitte der 90er Jahre getätigten hohen Investitionen bei 10,5 % und die des Exports gar bei 18,4 %. Aber: Die betreffenden Investitionen pro Kopf sind seit 1997 wieder zurückgegangen! Und sie sind seit 1998 sogar hinter die der alten Bundesländer zurückgefallen. Trotz der gestiegenen Exporte hat sich außerdem nichts daran geändert, dass die nicht FuE-intensiven (und d. h. nicht exportträchtigen) Zweige in der ostdeutschen Industrie überwiegen. Zudem handelt es sich ganz überwiegend um kleine und mittlere Unternehmen. Die für Innovation, Produktivität und Vernetzung so wichtigen großen Unternehmen fehlen weitgehend. Dass die Unternehmen, die nicht in ostdeutschem Besitz sind, meist nur verlängerte Werkbänke sind, ist ein weiteres Defizit, das geblieben ist. Schließlich muss man sich daran erinnern, dass bei einem Anteil der neuen Bundesländer von 19 % an der Bevölkerung Deutschlands der Anteil des ostdeutschen Industrieumsatzes am gesamtdeutschen 1997/98 gerade mal 7% betrug, und der der Aufwendungen für FuE im verarbeitenden Gewerbe nur 5%!

2. Ursachen

Der Verlust von zwei Dritteln der Industrie und 80 % des industriellen Forschungs- und Entwicklungspotentials in wenigen Jahren stellt die schwerste Katastrophe in der ostdeutschen Wirtschaftsgeschichte dar. Weder der 1. Weltkrieg noch die Weltwirtschaftskrise noch der 2. Weltkrieg haben zu Potenzialverlusten derartigen Ausmaßes geführt. Worin liegen die Ursachen?

Erstens in den hinlänglich bekannten Schwächen der zentralistischen Planwirtschaft, die nur durch die Abschottung gegenüber dem Weltmarkt versteckt bleiben konnten, aber nun, in der unmittelbaren Konfrontation mit ihm, natürlich offenbar werden mussten. Es ist jedoch ein billiger ideologischer Trick, diese Schwächen als die Hauptursache oder gar die einzige Ursache des Zusammenbruchs hinzustellen. Denn die DDR war weder "bankrott" noch war das Produktivkapital, das sie hinterließ, "alles Schrott". Zudem zeigt der Vergleich mit anderen, ähnlich entwickelten Ländern des ehemaligen Ostblocks (Tschechien, Ungarn, Polen), dass es in keinem von ihnen zu einer solchen Deindustrialisierung gekommen ist.

Eine zweite Ursache lag in der vor einer wenigstens annähernden wirtschaftlichen Angleichung vollzogenen Währungsunion. Das widersprach nicht nur der ökonomischen Vernunft allgemein, sondern auch speziell der Logik nachholender Entwicklung: Es gibt (jedenfalls auf Dauer) keine starke Währung ohne eine starke Wirtschaft, und es gibt keine nachholende Entwicklung ohne Schutz und Förderung durch den Staat. Die schlagartige Aufwertung der Währung um 400 % führte so zum Verlust der Exportmärkte und damit der Exportindustrie. Und dabei fehlten weitgehend Schutz und Förderung durch den Staat in Gestalt einer gegensteuernden Industrie- und Strukturpolitik.

Die "Schocktherapie" wurde - drittens - fortgesetzt in der vierjährigen Privatisierungspolitik der Treuhandanstalt. Die Einwände der Opposition dagegen waren:

    1. Eine überstürzte Privatisierung werde schon aufgrund des riesigen Angebots und der gewaltigen Nachfrageproblemedie Preise gegen Null gehen lassen, also zur Verschleuderung des Produktivkapitals führen, und außerdem zu Kapitalvernichtung in großem Maßstab. Es müsse daher zunächst mit staatlicher Hilfe saniert werden, was sanierungsfähig ist.

    2. Die Orientierung auf die großen Westinvestoren werde die Ostdeutschen ihres ohnehin nicht üppigen Vermögens berauben und ihnen die Initiative zum Aufbau der eigenen Wirtschaft aus der Hand nehmen. Es müsse daher statt des direkten, objektweisen Verkaufs (der eben sowieso keiner ist) eine Privatisierung durch Vergabe von Anteilsrechten erfolgen.

Da sich jedoch die neoliberale Ideologie durchsetzte, ist genau das eingetreten, was die Opposition befürchtet hatte: Die Privatisierung hat nicht nur zur Verschleuderung des Produktivkapitals geführt, sie hat dem öffentlichen Sektor sogar soviel gekostet, dass dafür eine ordentliche Sanierung möglich gewesen wäre. Zweitens sind die Ostdeutschen nicht nur weitgehend vom Produktivkapital ausgeschlossen worden. Es hat darüber hinaus auch die erhoffte Offensive westlicher Investoren nicht (oder höchstens 1994 - 1996) stattgefunden.

Mit der Industrie wurde auch deren Forschung und Entwicklung privatisiert bzw. abgewickelt. Der Rückzug des Staats bedeutete in diesem Fall aber die sträfliche Vernachlässigung einer seiner originären Aufgaben! Denn FuE sind zwar privat verwertbar, darüber hinaus aber auch ein öffentliches Gut für das der Staat die Verantwortung trägt.

Der ganz überwiegende Teil des Treuhandvermögens ging in westliche Hände. Hinzu kamen die Rückgaberegelung für Alteigentümer in Westdeutschland und die Gewinne aus dem Konjunkturprogramm für die westdeutsche Wirtschaft. Nimmt man das alles zusammen, so erweist sich der sogenannte Aufbau Ost als "das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutsche, das es je gegeben hat." (H. Voscherau) Damit schließt sich der Teufelskreis, in dem sich die deutsche Einheit ökonomisch bewegt. Denn dem Einkommenstransfer von West nach Ost, der die Gemüter immer wieder beschäftigt und der den Aufschwung Ost tatsächlich in gewissem Sinne behindert, liegt ein Vermögenstransfer von Ost nach West zugrunde, der die Gemüter zwar kaum beschäftigt, aber jenen erst notwendig und möglich macht!

3. Forderungen

3.1 Industriepolitische Offensive statt neoliberalem Rückzug des Staates

Mit der Treuhandprivatisierung wurde der neoliberale Rückzug des Staates aus der Wirtschaft ins Extrem getrieben, und im Extrem führt er offenbar nicht zur Belebung, sondern zur Zerstörung der Wirtschaft. Die Lehre aus diesem Privatisierungsprozess ist daher eine Rückkehr zur Industriepolitik. Sie muss massive Anreize geben für eine zweite Investitionsoffensive Ost und zumal für die Ansiedlung von Großunternehmen.

3.2 Alternative statt nachahmende Entwicklung

Erst wenn wir in Deutschland die wirtschaftliche Entwicklung auf diese Weise nicht sich selbst überlassen, sondern politisch gestalten wollen, stellt sich die an sich naheliegende Frage, ob der Osten die westdeutsche Wirtschaft eigentlich kopieren oder nicht vielmehr einen komplementären Entwicklungsweg einschlagen sollte. Wir sollten aus der Not sozusagen eine Tugend machen und z. B. viel entschiedener auf ökologische Modernisierung setzen. Das Leitbild für die ostdeutsche Wirtschaft darf jedenfalls nicht mehr das Einholen, die Angleichung an Westdeutschland sein. Das Leitbild muss die eigenständige Partnerschaft und Ergänzung sein. Nur so kommt Ostdeutschland aus seiner Rolle als Filialökonomie heraus.

3.3 Vermögenspolitische Aktivierung statt Transferleistungen für den Konsum

Am effizientesten wäre es, wenn die Politik sozusagen gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und sich auf die Stärkung der Eigenkapitalbasis der Unternehmen und auf die Weckung der Initiative, Aktivität und Kreativität der Menschen zugleich konzentrieren würde. Soll diesen Kriterien zusammengenommen entsprochen werden, so folgt:

    · Arbeitgeber und Gewerkschaften sollten sich in Ostdeutschland zusammentun und der alten Forderung nach einer Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen endlich zum Durchbruch verhelfen;

    · Mit der Beteiligung am Produktivvermögen erhalten die Beschäftigten zugleich die Möglichkeit einer ergänzenden Altersversorgung;

    · Einzelbetriebliche Arbeitnehmerbeteiligungen werden durch staatliche Bürgschaften abgesichert (wie es in einzelnen Bundesländern schon - unzulänglich - geschieht);

    · Überbetriebliche Arbeitnehmerbeteiligungen werden von Landesfonds verwaltet und zur Entwicklung des jeweiligen Landes gewinnbringend angelegt;

    · Die Arbeitnehmer erhalten für den Teil ihres Einkommenszuwachses, den sie in das Betriebskapital bzw. einen regionalen Fonds einbringen, einen staatlichen Zuschuß in relevanter Höhe;

    · Die öffentliche Förderung privater Investitionen wird an die Bedingung geknüpft, dass die Arbeitgeber die Arbeitnehmer am Erfolg des Unternehmens beteiligen;

3.4 Förderung von Netzwerken statt von "Einzelkämpfern"

Die ökonomische Forschung hat seit den 80er Jahren neben Markt und innerbetrieblicher Organisation die Bedeutung von Kooperationsbeziehungen der Unternehmen untereinander und mit öffentlichen Institutionen als dritte Säule einer lebendigen Wirtschaft herausgearbeitet. Der Erfolg einer Wirtschaft beruht nicht nur auf dem Wettbewerb von Einzelkämpfern, sondern auch auf diesen gewachsenen Netzwerken (Synergieeffekte). Diese Kooperationsbeziehungen sind in Ostdeutschland immer noch unterentwickelt.

Die neuen Förderprogramme des Bundes wie "Innonet" und zumal "Innoregio" sind eine wichtige Hilfe bei der Bewältigung dieser Probleme. Wie aber gerade der Ansturm auf Innoregio gezeigt hat, kann und muss dieser Ansatz umfassender ausgebaut werden (z. B. im Sinne des japanischen Technopolis-Konzepts).

3.5 Förderung des Marktzugangs statt Marktgläubigkeit

Alle Fortschritte in der Produktion nützen nichts, wenn die Produkte keinen Absatz finden. Selbst wenn wir uns einmal vorstellen, die Schwächen der ostdeutschen Industrie seien durchweg behoben, so blieben die Absatzschwierigkeiten immer noch bestehen. Denn das Marketing für neue Produkte kostet in einigen Branchen weit mehr als ihre Entwicklung und selbst ihre Produktion! An eine Liefertradition kann Ostdeutschland jedoch kaum noch anknüpfen.

Eine öffentliche Förderung speziell des Exports ist daher nicht nur gerechtfertigt, sondern sogar geboten. Über die bisherigen Maßnahmen hinaus gibt es dazu folgende Ansatzpunkte:

    1. Umorientierung der Beschaffungspolitik von Bund und alten Bundesländern. Bisher vergeben die westdeutschen Länder und Kommunen nur ein Prozent ihres Auftragsvolumens nach Ostdeutschland.

    2. Stärkere Förderung von Marketing, Marktforschung und Beratung im Auslandsgeschäft

    3. Obwohl die traditionell engen Außenhandelsbeziehungen Ostdeutschlands zu Mittel-Ost-Europa weitgehend abgebrochen wurden, ist ihr Anteil am Gesamtexport Ostdeutschlands mit mehr als 20 % immer noch höher als der entsprechende Anteil am westdeutschen Gesamtexport (unter 10 %). Daher sollte die politisch-strategische Unterstützung des ostdeutschen Exports vorrangig auf Mittel-Ost-Europa orientieren.

Marginalien:

Die in beträchtlichem staatlichen Finanztransfers wirken wie ein Konjunkturprogramm für Westdeutschland!

Der Aufbau Ost erweist sich als "das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutsche, das es je gegeben hat." (H. Voscherau)

Das Leitbild darf nicht mehr das Einholen, die Angleichung an Westdeutschland sein, sondern die eigenständige Partnerschaft und Ergänzung.