Halbzeit! Zwei Jahre Rot-Grün Eine friedenspolitische Zwischenbilanz

Nachdenken über Militär in Deutschland

Die Wiedervereinigung, das Ende des Kalten Krieges, aber auch innergesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland wie die Kostenentwicklung der Sozialdienste für Kranke und Alte erzwingen die Konzip

Es geht nicht lediglich um eine sektorale Reform, um eine Neubestimmung der Aufgaben der Bundeswehr und hernach um die angemessene Umstrukturierung der Truppe. Die Reform der Bundeswehr erweist sich vielmehr als verknüpft mit einer Vielzahl von allgemeinen Problemen dieser Gesellschaft. Über den Kriegsdienst ist der Zivildienst und damit ein großer Bereich der Sozialpolitik involviert. Standortentscheidungen der Streitkräfte greifen tief ins Wirtschaftsleben betroffener Kommunen ein. Soll die Bundeswehr künftig vermehrt bei der Katastrophenhilfe im Ausland sowie zu humanitären Aktionen eingesetzt werden, ist die Abstimmung mit zivilen Trägern von Nothilfe und humanitären Hilfsmaßnahmen erforderlich.
Notwendig ist eigentlich ein übergreifendes Konzept, damit die Bundeswehr nicht einfach zivilen Organisationen Konkurrenz macht.
Diskurs ist aber nicht nur nötig über die Anpassung des Militärwesens an neue Zeiten und neue Probleme. Es steht auch eine Neuorientierung darüber an, von wem und wie solche Grundsatzentscheidungen wie die über die künftige Bundeswehr getroffen werden. Das nur der Exekutive oder - wie dies derzeit abläuft - einen einzelnen Ressortchef zu überlassen, verrät obrigkeitsstaatliches Denken vergangener Zeiten. Von einer rot-grünen Bundesregierung wäre so etwas eigentlich nicht zu erwarten.
In den alten angelsächsischen Demokratien untersteht das Militär seit Jahrhunderten zumindest dem Konzept nach der Legislative. In Großbritannien hat Cromwell die Herrschaft des Parlamentes über die Streitkräfte durchgesetzt, seit das Parlamentsheer 1644 mit seinen "Ironsides" (Eisenseiten) das königliche Heer bei York entscheidend besiegte. Es folgt eine wechselhafte Geschichte, aber nie hat seither die Krone und ihre Regierung formal die Oberhoheit über die Streitkräfte wiedererlangt. In den Vereinigten Staaten knüpfte man zumindest mit der Namensgebung eines der ersten Kriegsschiffe, "Old Ironsides", an die republikanische englische Tradition an. Der Verfassung nach ist auch in den Vereinigten Staaten das Militär dem Kongress untergeordnet:
Gemäß Section 8.1 des Artikels I steht es dem Kongress zu, "[to] provide for the common Defence", "to raise and to support Armies" und "to provide and maintain a Navy" (Section 8.12 u. 13). Gemäß Section 8.11 liegt ferner beim Kongress das Recht, Krieg zu erklären. Der Präsident ist zwar Oberbefehlshaber (Article II, Section 2.1), das gilt aber für die Streitkräfte nur, "when called into the actual Service of the United States".
Man mag über die faktische Kontrolle der Legislative in den USA und Großbritannien über den Gewaltapparat geteilter Meinung sein. Hervorzuheben bleibt aber das Leitprinzip, dass die Legislative, und eben nicht die Exekutive, beim Militär in der Vorhand sein soll.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Grundsatzentscheidung von 1994 zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr eine ähnliche Spur zu legen versucht und die Bundeswehr als Parlamentsheer eingestuft. Deswegen müsse der Bundestag, so die wenig beachtete Begründung dieser Entscheidung, über jeden Einsatz der Streitkräfte einzeln entscheiden. Wenn nach Auffassung des Verfassungsgerichts die Verwendung der Bundeswehr Sache des Parlamentes und nicht etwa der Regierung ist, dann liegt die Schlussfolgerung nahe, dass nach Meinung der Verfassungshüter, würden sie angerufen, die Entscheidung über die künftige Bundeswehr im Parlament und eben nicht im Kabinett zu treffen ist. Das Parlament symbolisiert den Raum von Öffentlichkeit der Politik, während das Kabinett für das Arkanum (wörtlich: Geheimnis), die Nichtöffentlichkeit von Politik steht. Mit anderen Worten, geht die von Verteidigungsminister Scharping betriebene exekutive Neugestaltung der Bundeswehr klaglos durch, dann fällt ein Stück Demokratieentwicklung aus,welcher das Verfassungsgericht den Weg zu bereiten bestrebt war. Es geht mithin um weitaus mehr als um Fragen eines Politikfeldes, hier der Verteidigungspolitik, auch um mehr als die Lösung eines Streites um Kompetenzen zwischen Exekutive und Legislative. Mit der Militärfrage geht es zugleich um ein Stück Demokratie der Berliner Republik.
Die Vorlage des Berichtes der sogenannten Zukunftskommission der Bundeswehr, verbunden mit dem Namen des vormaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, sollte eigentlich für eine breite und offene Debatte über die Zukunft des Militärs im neuen, dem vereinigten Deutschland führen. Dem wird regierungsseitig in vielfacher Hinsicht entgegen gearbeitet. Es handelte sich um eine Kommission des Verteidigungsministers. Versuche des Koalitionspartners, der Bündnis-Grünen, wenige eigene Kandidaten in die Kommission zu bringen (genannt wurden Otfried Nassauer und Peter Lock), wurden abgewiesen. Wie das Minderheitenvotum im Bericht der Weizsäcker-Kommission sowie Interviewäußerungen des couragierten Kommissionsmitgliedes Harald Müller von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung anzeigen, behandelte der Verteidigungsminister die Kommission nach Gutsherrenart. Die Exekutive hat es in dieser Bundesrepublik nicht einmal nötig, die Unabhängigkeit einer sogenannten "Unabhängigen Kommission" sonderlich zu achten. Von einem Bezug auf das Parlament war schon gar nicht die Rede.

Die Hardthöhe, so das alte Synonym für das Bundesverteidigungsministerium aus Bonner Tagen, will offenbar Diskussionen über die Zukunft der Bundeswehr auf den Zeitraum dieses Jahres beschränken. Mit der Veröffentlichung eines finalen regierungsamtlichen "Weißbuches" in diesem Herbst soll Schluss der Debatte sein.
Dabei steht eine gründliche Debatte an, wie es die Deutschen nach dem Ende des Kalten Krieges und ihrer Vereinigung mit dem Militär halten. Im vergangenen Jahrzehnt hat eine solche Debatte nicht stattgefunden. In dieser Sicht bildet sich derzeit eine Regenbogen-Koalition von Bundeswehr-Kritikern, die dem unwilligen Verteidigungsministerium und der in Regierungsloyalität verstrickten rot-grünen Bundestagsfraktion die Alternative vorhalten will, worum es eigentlich geht.
Vielleicht hilft eine persönliche Reminiszenz. Vor 25 Jahren fand ich mich selber in einer hochgradig vergleichbaren Situation. Die sozialliberale Koalition des Kanzlers Willy Brandt betrieb ab 1969 erkennbar Reformpolitik, innenpolitisch, gegenüber dem Osten. Nur in der Militärpolitik des Verteidigungsministers Helmut Schmidt war keine Innovation erkennbar. Ich regte damals an, neben das offizielle Weißbuch des Verteidigungsministers frech ein "Anti-Weißbuch" zu stellen, welches artikulieren sollte, worum es in der deutschen Militärpolitik eigentlich gehen sollte. Der Erfolg der Schrift (1) war immens, gerade in der beginnenden Friedensbewegung.
Heute steht augenscheinlich eine Wiederholung an, ein zweites "Anti-Weißbuch" zu den etatistisch orientierten Planungen eines sozialdemokratischen Verteidigungsministers. Im Folgenden werden einige Grundlinien dieses Anti-Projektes skizziert. Die technischen Bedingungen haben sich im vergangenen Vierteljahrhundert freilich entscheidend verändert. Heute ist es das Netzwerk von friedenspolitisch engagierten Gruppierungen, nicht lediglich eine von einem Professor angeführte Arbeitsgruppe, welches an dem "Anti-Weißbuch-Projekt" arbeitet. Auch die Publikationsformen haben sich ausgeweitet: neben dem herkömmlichen Buch, welches es gewiss auch geben soll, bietet das Internet vielfältige Möglichkeiten zur Verbreitung von kritischen Argumenten.

Kommunale Wirtschaft und Streitkräfte

Der politische Versuch, die Debatte abzukürzen, hat vielfältige Gründe. Viele Bürgermeister von Gemeinden, in denen die Bundeswehr Garnisonen unterhält, machen sich über künftige Verkleinerungen der Streitkräfte ihre eigenen Gedanken. Militärstandorte sind, wirtschaftlich gesehen, zumeist Einödstandorte. Die Gemeindeoberhäupter haben kaum Alternativen, um die Kommunen ökonomisch auf andere Standbeine zu stellen. Diese Kommunalpolitiker sind eine angestammte Klientel der Sozialdemokratie, die die Parteiführung nicht verprellen möchte. Der Rückzug einer Großzahl von ausländischen Soldaten aus dem Gebiet der alten Bundesrepublik hat vielen Garnisonsstädten in den vergangenen zehn Jahren erhebliche Probleme eingetragen, die nicht vergessen sind. Vor zehn Jahren waren etwas mehr als 400 000 Soldaten aus anderen NATO-Ländern in der Bundesrepublik stationiert. Heute sind es weniger als ein Viertel, die genaue Zahl liegt bei 98 020. Mit anderen Worten, die lokalen wirtschaftlichen Multiplikatorwirkungen einer Armee in der Größenordnung der heutigen Bundeswehr entfielen. Hinzuzurechnen sind weitere 165 000 deutsche Soldaten, um die die Bundeswehr im gleichen Zeitraum verschlankt wurde: Im 2+4-Vertrag über die deutsche Vereinigung wurde festgehalten, dass die Stärke der Streitkräfte des neuen Deutschland eine Obergrenze von 370 000 Mann haben solle. Aus Haushaltsgründen ist diese Zahl mittlerweile auf rund 332 000 zurückgegangen. Mit anderen Worten: in den wirtschaftlichen Randzonen der alten Bundesrepublik sind im vergangenen Jahrzehnt mehr als eine halbe Million Soldaten abgezogen worden, und die Verantwortlichen in den verbliebenen Militärstandorten wissen aus neuer Erfahrung, was ihnen blüht, wenn die Bundeswehr weiter verkleinert wird. Die Entwicklung lässt sich auch an der Zahl der offiziellen Standorte der Bundeswehr ablesen. Die ging in den neunziger Jahren um ziemlich genau ein Drittel zurück, von 994 im Jahre 1990 auf 640 im Jahr 2000. In den neuen Bundesländern wird das Verschwinden der Nationalen Volksarmee
(173 000 Mann, andere bewaffnete "Organe" nicht mitgerechnet), vor allem aber der Abzug von 330 000 russischen Soldaten zum wirtschaftlichen Niedergang beigetragen haben, der durch den Einzug der Bundeswehr bei weitem nicht kompensiert wurde. Die Kommunalpolitiker in den neuen Bundesländern dürften um den Erhalt von Bundeswehrstandorten zumindest ebenso heftig kämpfen wie ihre Kollegen im alten Bundesgebiet.

Eine zweiter Bereich, in dem es um womöglich größere öffentliche Kosten geht, und in dem die Bundesregierung keine Debatte wünschen kann, ist der Zivildienst. Entfiele die Wehrpflicht, gäbe es auch keine rechtliche Grundlage mehr dafür, junge Männer zu dem länger dauernden Zivildienst einzuziehen. Die Zahl der den Wehrdienst verweigernden Zivis und der wehrpflichtig dienenden jungen Männer hält sich nunmehr in etwa die Waage, je etwa 150 000. Die Wohlfahrtsverbände müssten beim Wegfall der Wehrpflicht in der Altenpflege, bei der Versorgung von langfristig Pflegebedürftigen, bei der Betreuung Behinderter womöglich auf voll bezahlte Kräfte zurückgreifen. Die Standards in der Sorge um diese Mitmenschen haben sich dankenswerterweise erhöht. Auch steigt mit zunehmender Lebenserwartung die Zahl der Versorgungsbedürftigen.
Eigentlich stünde eine grundlegende Neukonzeption der Art und Weise an, wie die deutschte Gesellschaft sich dem Problem ihres steigenden Durchschnittalters und der Folgeprobleme annimmt. Angesichts der Kostenexplosion im Gesundheitswesen und den Problemen der Finanzierung der Altenpflege ist nachvollziehbar, dass die Bundesregierung einer öffentlichen Debatte darüber ausweicht, wie ohne Zivis bei der Betreuung von Alten und Bedürftigen auszukommen wäre. Aber eben eine solche Debatte steht an. Zahlen müssen auf den Tisch: Was würde es kosten, Alten, Behinderten, langfristig Pflegebedürftigen zumindest das gleiche Maß an Betreuung zukommen zu lassen, welches sie bisher erfahren haben?
Und wie wäre dieser Aufwand zu finanzieren? Anders gefasst: Verbunden mit der Entscheidung über die Zukunft der Bundeswehr sind große Entscheidungen über die Gestaltung der Sozialpolitik nötig, vergleichbar der Herausforderung, vor der einst Reichskanzler Bismarck vor der Einführung der modernen Sozialgesetzgebung in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts stand. Aber in der derzeitigen Bundesregierung ist kein Bismarck sichtbar.
Die Weizsäcker-Kommission hat diesen Komplex nicht thematisiert. Das war nicht ihr Mandat. Aber man wird die reputierlichen Mitglieder der Kommission fragen dürfen, warum sie nicht Fragen gestellt haben, wie etwa die nach den Folgen eines Endes der Wehrpflicht für den Sozialbereich. Fragen zu stellen ist die wichtigste Aufgabe solcher Kommissionen. Auf diese antworten dann die Regierungsapparate. Das Scharpingsche Verteidigungsministerium hat darauf geachtet, dass mit der Auswahl der in die Kommission zu berufenden Persönlichkeiten Trouble vermieden wurde. Das ist nicht als Kritik an den honorigen Mitgliedern dieses Gremiums gemeint. Der Minister hat aber nicht darauf Wert gelegt, in die Kommission Zeitgenossen zu holen, die etwa wie Bürgermeister in Bundeswehrstandorten Fragen nach der ökonomischen Zukunft ihrer Kommunen stellen würden, wenn die Bundeswehr weiter verkleinert werden muss, oder die für die Wohlfahrtsverbände Fragen aufwerfen würden, wie sie ohne Zivis auskommen sollen.
Die Beantwortung von Fragen kurzer Reichweite, Beschwichtigung, nicht die prinzipielle Lösung von Problemen, für die eigentlich die Allgemeinheit ihre Politiker bezahlt, steht auf der Tagesordnung. Die Zukunft der Bundeswehr wird viel mehr und gewichtigere Probleme aufwerfen, als gemeinhin in den Blick genommen werden.
Stefan Gose hat in einem Kommentar angesprochen, welches Forum angemessener Weise die Frage nach dem weiteren Zweck der Bundeswehr und ihrer künftigen Gestaltung erörtern sollte: "Das ist eine zutiefst politische Frage, die nicht von einer Kommission des Verteidigungsministers beantwortet werden kann. Hier sind Öffentlichkeit und Parlament gefragt." Und Gose verweist auf die bisherige Haltung der Sozialdemokraten: "Zu Oppositionszeiten forderte die SPD lautstark eine parlamentarische Enquète-Kommission mit öffentlicher ExpertInnenanhörung zur Bundeswehrstruktur." In der Tat wäre der Bundestag das angemessene Forum. Auch Soldaten wünschen seit einiger Zeit einmal eine Anhörung etwa über die Erfahrungen bei Auslandseinsätzen der Streitkräfte. Zu befürchten bleibt allerdings, dass die Regierung aus Opportunitätsgründen die Militärfrage weiterhin niedrig hängen will.
Bildungspolitiker beklagen, dass nunmehr die Finanzminister die tatsächliche Bildungspolitik bestimmen. Angesichts des Streites um Zahlen zur Mannschaftsstärke der künftigen Bundeswehr oder über die Rüstungskosten entsteht mehr und mehr der Eindruck, dass der Bundesfinanzminister auch auf dem Felde der Sicherheitspolitik das eigentliche Sagen bekommt. Das wäre die am wenigsten wünschenswerte Entwicklung. Dem muss entgegen gewirkt werden - am besten durch eine breite politische Neubestimmung der gesellschaftlich gewünschten künftigen Rolle der Bundeswehr.

Worum es eigentlich geht

Die angekündigte Privatisierung eines Teiles der Bundeswehrverwaltung wird weitaus mehr als eine Ökonomisierung des Verteidigungsaufwandes bedeuten. "Privatisierung bleibt ein wichtiger Ansatzpunkt für mehr Effizienz", heißt es auf der Homepage der Bundeswehr. Eine Vielzahl von Ausbildungsaufgaben ist mittlerweile an gewerbliche Träger übergeben worden, so etwa die Grundausbildung der Transportflieger. Der Verteidigungsminister will diesen Weg fortsetzen.
Die Privatisierung wirft vielfältige Fragen auf, etwa nach den künftigen Möglichkeiten parlamentarischer Kontrolle eines solchen Privatbetriebes. Die Anbindung der Streitkräfte an die Logik des Marktes stellt einen ersten Schritt dar in einem sehr viel grundsätzlicheren Wandel. Das Informationszeitalter überformt die künftige Tätigkeit des Militärs schon heute in einem Ausmaß, welches wenig wahrgenommen wird. In den USA spricht man begeistert von einer "Revolution in Military Affairs", welche herkömmliche Vorstellungen vom Soldatenberuf über den Haufen wirft. Diese Revolution sei umfassend, sie könnte zum Ende der bisherigen Leitbilder von Streitkräften und allem, was wir als ihre Besonderheiten kennen, führen. Den "Cyborg, eine Schimäre aus Mensch und Machine" (Hans Magnus Enzensberger) haben die Militärs mit dem "Information Warrior" schon fest im Blick. Das Gewehr, dem Jargon zufolge "die Braut des Soldaten", wird vom Laptop abgelöst.
Die Computertechnologien berauben alte Handlungsmuster und Rollenverständnissen in den Streitkräften ihrer Selbstverständlichkeit. Gar das Urelement militärischer Organisation, die Befehlshierarchie, steht zur Disposition - Hierarchien werden wie in der privaten Wirtschaft abgeflacht. Auf derartige Herausforderungen an ein modernes Militär antwortet vorerst offiziell niemand. Stattdessen werden alte Zöpfe weitergeflochten. Es ist nicht nur auf die Frage zu antworten, wofür die Bundeswehr künftig gebraucht wird - es ist auch festzulegen, welche Art Streitkräfte die Bundesrepublik haben soll. Informatisierung und Privatisierung sind augenscheinlich die grundsätzlichen Wegmarken für solche Entscheidungen. Offen ist, ob diese Entwicklungen unvermeidlich sind, und ob sie politisch wirklich mitgetragen werden.
Einer der Altbestände, welche absehbar auf der Strecke bleiben werden, ist die Wehrpflicht. Die Deutschen hatten mit der in ihrer Geschichte, entgegen offiziösen Darstellungen, noch immer ihre Schwierigkeiten. In Frankreich entstand die allgemeine Dienstpflicht mit der Revolution von 1789, sie blieb eng verbunden mit dem Mythos der Revolution. 1793 verordnete der Revolutionäre Konvent in mehreren Gesetzen für die Dauer des Krieges - mithin keineswegs permanent für Friedenszeiten - die allgemeine Dienstpflicht unverheirateter Männer vom 18. Bis zum 25. Lebensjahre. In den napoleonischen Kriegen kam es in Deutschland wie in anderen Monarchien zu ersten Aushebungen von Soldaten gegen die französische "levée en masse".
Mit dem "Gesetz über die Verpflichtung zum Kriegsdienst" vom 3. September 1814 wurde in Preußen die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Diese Regelung wurde im Norddeutschen Bund mit dem "Gesetz, betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienst" vom 9. November 1867 auf die anderen Bundesstaaten ausgedehnt, und selbst das Grundgesetz spricht in dieser Tradition zuerst vom Kriegsdienst und nicht von der Wehrpflicht. Mit dem Versailler Friedensvertrag wurde 1919 die allgemeine Wehrpflicht im Deutschen Reich verboten. Nach dieser Zwangspause proklamierte Adolf Hitler am 16. März 1935 zwecks "Wiederwehrhaftmachung" des deutschen Volkes die allgemeine Wehrpflicht erneut. Die im Potsdamer Abkommen von 1945 von den Siegermächten verfügte "Völlige Abrüstung und Entmilitarisierung Deutschlands" erbrachte nur zehn Jahre später wieder das Ende der allgemeinen Wehrpflicht.
Nach dieser neuerlichen Zwangspause rekrutierte das Adenauer-Deutschland im Kalten Krieg auf der Grundlage des Wehrpflichtgesetzes vom 21. Juli 1956 über die Wehrpflicht ein Massenheer zur Abwehr der Gefahr aus dem Osten. Mit anderen Worten, die allgemeine Wehrpflicht hat in Deutschland eine vielfach gebrochene und unterbrochene Tradition. Statt sie von Siegern verbieten zu lassen, könnten die Deutschen sich nunmehr selber die Freiheit nehmen, über die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht zu befinden.
Das gern zitierte Diktum des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuß, die Wehrpflicht sei das legitime Kind der Demokratie, bleibt ein dünner Versuch der Rechtfertigung (in Hitlers Drittem Reich war dann halt die Wehrpflicht ein illegitimes Kind, wie andere Maßnahmen dieses Unrechtsstaates auch). Nüchtern betrachtet, handelt es sich beim Wehrdienst (auch dem Zivildienst) um unterbezahlte Zwangsarbeit, die in aristokratischen Zeiten den Untertanen abverlangt werden konnte, die aber in der Moderne keine Statt hat. Oberstleutnant Jürgen Rose spricht von "einer in höchstem Maße ungerechten Verteilung der wahren Verteidigungslasten zu Ungunsten der wehrpflichtigen Generation junger Männer, die vermittels der von ihnen erzwungenen Dienstleistung de facto eine Naturalsteuer entrichten - die Gesamtheit der Staatsbürger beutet sozusagen einen jungen Jahrgang zu seinem Vorteil aus" (Frankfurter Rundschau vom 22. Mai).
Besonders mit Blick auf den Zivildienst ist womöglich zu reden über ein soziales Dienstjahr, welches die junge Generation, Frauen und Männer, künftig für die Gemeinschaft absolvieren. Ein solcher Dienst könnte im Bereich derjenigen Tätigkeiten erfolgen, die heute die Zivildienstler erbringen. Er könnte auch beim Technischen Hilfswerk, im Umweltschutz, in der Entwicklungszusammenarbeit, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder eben auch bei der Bundeswehr geleistet werden. Der Bochumer Theologe und Praktiker Hans-Ekkehard Bahr hat schon vor Jahren unter Betonung des Umweltschutzes auf die Möglichkeiten eines solchen "sozialen Jahres" hingewiesen.

Sicherheitspolitische Probleme

Bleiben die im engeren Sinne militärischen Fragen. Auch hier ist leider der rot-grünen Bundesregierung bislang ein Nullum an Antworten anzukreiden. Besonders die Kernfrage, der "Auftrag" der Streitkräfte, bleibt offen. Wozu wird die Bundeswehr heute benötigt?
Die Weizsäcker-Kommission stellt in ihrer "Risikoanalyse" heraus, dass Deutschland auf absehbare Zeit militärisch nicht direkt bedroht wird. Auch die NATO steht ohne Gegner da, der Bündnisfall wird nicht demnächst ausgerufen werden können. Wenn weiter "Abschreckung" erfolgen soll - gegen wen, warum mit den bisherigen Streitkräften und ihrer aus den Tagen des Kalten Krieges stammenden Rüstung?
Das verschärft die Frage nach der künftigen Aufgabe der Streitkräfte. Der erweiterte Begriff von Sicherheit, welchen die Kommission ihrem Bericht zugrunde legt, erscheint vor allem geeignet, die Bedeutung der Truppe zu relativieren. Entwicklungszusammenarbeit und Menschenrechtspolitik erfordern andere Akteure als Soldaten.
Das Militär in aller Welt rüstet sich nunmehr für internationale Hilfseinsätze, bevorzugt unter dem Banner der Vereinten Nationen. Fachleute sind sich einig darüber, dass das Personal für solche Operationen vielfältigen Anforderungen genügen muss. Die künftigen "Gewaltspezialisten" müssen im Training Techniken der Konfliktbewältigung lernen, sie benötigen rechtliche Kenntnisse und psychologisches Gespür. Die von der neuen Bundesregierung ins Leben gerufene Kurzausbildung von Friedensfachkräften gibt die Richtung an, wie künftig Qualifizierungen für Aufgaben der Friedenswahrung in Krisenregionen erfolgen sollten. Diese Qualifikationsprofile entsprechen eher denjenigen der Polizei, zumindest denen des Bundesgrenzschutzes, als denen der Bundeswehr. Der "Arbeitskreis Darmstädter Signal", ein Zusammenschluss aktiver und ehemaliger Offiziere und Unteroffiziere der Bundeswehr, befand jüngst:
"Für Entwicklungshilfe oder polizeiliche Arbeit - wie im Kosovo - sind Streitkräfte wenig geeignet ...Der Einsatz militärischer Mittel (stellt) die teuerste, gefährlichste und schlechteste Form der Konfliktlösung dar." Die Streitkräfte mit Vorrang in eine Art übergroßen Bundesgrenzschutz umzumodeln, hat aber niemand vorgeschlagen.
Für die Aufgaben der "Krisenbewältigung" (im Deutsch der Hardthöhe) werden nicht nur anders ausgebildete Kräfte gebraucht, sondern auch anderes Material. Die schweren Kampfpanzer der Bundeswehr sind nicht das wichtigste Mittel, um Konvois von Hilfslieferungen zu schützen oder miteinander streitende Ethnien zu trennen. Im Kosovo müssen die Panzerbesatzungen der Leopard II ausklügeln, welche Brücken ihre 60-Tonner noch nutzen können und erfahren so erhebliche Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit.

Idealerweise sollte die Ausrüstung von Heerestruppen für Einsätze "out of area" (des Vertragsgebiets der NATO) lufttransportfähig sein, womöglich gar aus der Luft abwerfbar. In Marinekreisen wird hervorgehoben, dass Schiffe bei internationalen Operationen eine in der Öffentlichkeit zu wenig wahrgenommene Rolle spielen. Darf die Bundesmarine nunmehr den hoffen, vom Küstenschutz loszukommen, und wieder wie zu Tirpitz Zeiten mit hochseetüchtigen Dickschiffen ausgestattet zu werden? Für die Luftwaffe liegt die Option auf der Hand: für dringliche Frachtaufgaben muss endlich das "Future Large Aircraft", ein Schwertransporter, her. Mit anderen Worten: Mitten im Frieden zeichnet sich eine weitere Nachrüstung ab, die dem murrenden Steuerzahler mit Verweis auf die neuen Anforderungen an die Bundeswehr nahegebracht werden wird.
Der neue militärische Interventionismus bedarf einer deutschen Antwort, besonders aus dem rot-grünen Lager. Die "humanitäre Intervention" ist keine Neuheit dieser Tage. Die europäischen Großmächte nutzen exakt diese Figur vor rund zweihundert Jahren, um dem niedergehenden osmanischen Reich zwecks Schutz von christlichen Minderheiten interessante Gebietsteile abzuzwacken. Ein Abgleich der Regionen, in denen humanitär interveniert wird, mit Wirtschaftsinteressen bleibt auch heute lehrreich, besonders im Vergleich mit jenen Regionen, in denen schreiende Verletzungen von Menschenrechten eben nicht mit Gewaltinterventionen geahndet werden.
Von französischer Seite heißt es herablassend, die Deutschen verfügten nicht über "eine Kultur der Intervention" (ergänze: welche es in Frankreich gibt). Kann daraus folgen: die Bundesrepublik sollte nicht anstreben, zu den Traditionsmächten von militärischer Intervention, klassischen Kolonialmächten, aufzuschließen, sondern sie müsse, wie andere kleine europäische Mächte auch, eine andere, womöglich zivilistischere Antwort finden auf die Frage, wie mit massiven Menschenrechtsverletzungen umzugehen ist? Eine solche Antwort der Mittelmacht Bundesrepublik auf die Frage, wie Nothilfe erfolgen kann, sollte nicht von dem Tatbestand ausgehen, dass die Bundeswehr wie die Streitkräfte anderer Staaten nach neuen Aufgaben sucht. Sie sollte umgekehrt von der zu lösenden Aufgabe ausgehen, dem Schutz von Menschenrechten, und hierauf organisatorisch integrierte Antworten bestimmen. Das Militär würde in solchen Konzepten eine geringe Rolle einnehmen, an einem der Pole des Eskalationsspektrums.
Neue Antworten stehen besonders aus für die Nuklearpolitik, der Kernfrage moderner Verteidigungspolitik. Meint die Bundesregierung, Kernwaffen seien fürderhin zur Verteidigung, und gegen wen, nötig, oder meint sie dieses nicht? Sendepause. Hat sie eine Auffassung dazu, ob auch künftig amerikanische atomare Fliegerbomben auf den beiden deutschen Stationierungsorten in der Eifel verbleiben sollen? Die Briten haben, ohne irgendeinen NATO-Partner oder gar die gastgebenden Deutschen zu fragen, ihre atomaren Fliegerbomben auf eigene Faust abgezogen. Die letzte britische Atomwaffe verließ im Herbst 1998 das Bundesgebiet. Diese Entscheidung war schon von der konservativen Regierung getroffen worden. Warum sollte, was für englische Atombomben gilt, nicht auch gleichermaßen für amerikanische Kernwaffen Geltung haben?
Die Weizsäcker-Kommission hat immerhin diese Bomben zur Disposition gestellt und vorgeschlagen, sie in Abrüstungsverhandlungen einzubeziehen. Harald Müller von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Mitglied der Weizsäcker-Kommission, spricht das Verhandlungsziel aus: Diese Bomben aus der Bundesrepublik zu entfernen (Frankfurter Rundschau vom 25. Mai 2000). Aber warum soll wegen der Entfernung dieser Restbomben auf deutschem Boden überhaupt verhandelt werden, und mit wem? Die Russen haben nunmehr alle Atomwaffen im eigenen Lande, und sie würden nur zu gern ihre immensen Vorräte weiter reduzieren, vor allem wenn es dafür Devisen gibt. Ein "bargaining chip" in Form der Preisgabe amerikanischer Kernwaffen in der Bundesrepublik ist für sie alles andere als interessant.
Das Detail der in der Bundesrepublik verbliebenen amerikanischen Atombomben illustriert exemplarisch das alte Denken der Sicherheitspolitiker. Sie meinen, hier über Verhandlungstrümpfe zu verfügen, die längst keine mehr sind. Unverdrossen schieben sie weiterhin auf ihren Schachbrettern ihre Figuren hin und her und merken nicht, dass ihre Handlungen überholt sind.

Eine breite, europäische Debatte steht an

Der Verteidigungsminister wird mit seinem Vorhaben nicht durchkommen, den Bericht der Weizsäcker-Kommission von der Tagesordnung abzusetzen und ihn durch ein finales Verteidigungs-Weißbuch abzulösen. Die Neubestimmung der Rolle des Militärs ausgerechnet in Deutschland bleibt ein gesellschaftliches Großmanöver, welches ein Minister oder auch ein Kabinett nicht einfach nach Gutdünken handhaben kann. Es sind vielfältigeInteressen berührt, die der Soldaten und ihrer Familienangehörigen, auch dieder Rüstungsindustrie (um nur zwei anzuführen). Der Bundeswehrverband, die Interessenvertretung der Soldaten, meldet sich zu Wort. Ebenso die Friedensforschung, etwa das Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik. Die Oppositionsparteien, besonders die CDU, wollen der rot-grünen Regierung die Wende in der Bundeswehrpolitik nicht einfach durchgehen lassen. Auch die FDP meldet eigene Vorstellungen an.
Es geht um mehr als Partialinteressen und Profilierungsbemühungen von Parteien. Die Schlüsselmomente in der Entwicklung der Militärfrage im Nachkriegsdeutschland, die Wiederaufrüstung in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, die Auseinandersetzung um die atomare Bewaffnung der neuen Bundeswehr kurz danach, der Streit um die sogenannte "Nachrüstung" mit Mittelstreckenraketen bleiben Höhepunkte des innenpolitischen Disputes der Republik, sie entfalteten sich besonders in den ersten beiden Schritten zu Sternstunden des Parlamentes.
Das vereinigte Deutschland ist weiterhin damit beschäftigt, zu Klarheit zu gelangen, was die überraschend errungene Einheit politisch für sich selber und die europäischen Nachbarn bedeutet. Besonders die drängen nach mehr als zehn Jahren auf Antworten, nachgerade in der Militärpolitik des nunmehr so mächtigen Deutschland. Die Kohl-Regierung vermochte mit ihrem Angebot des "weiter so" wie vor der weltpolitischen Wende nicht zu überzeugen. Die neue Bundesregierung wird nicht damit durchkommen, lediglich ihrem Fachminister die Entscheidung darüber zu überlassen, wie es mit dem Militär in Deutschland weitergeht. Sie ist von Nachbarn umgeben, die von den Deu