Es gibt keinen „Anarchokapitalismus“ oder Rechts„libertarismus“
Es kann keinen „Anarchokapitalismus“ geben, weil dies ein Widerspruch in sich wäre. „Anarchismus“, An-Archos, heißt Herrschaftslosigkeit oder Herrschaftsfreiheit und Kapitalismus kann nicht herrschaftsfrei sein.
Herrschaftslosigkeit/-freiheit ist die Abwesenheit von Herrschaft. Und Herrschaft bedeutet ungleiche und institutionalisierte Machtverteilung. Im Ton, Steine, Scherben-Song „Keine Macht für niemand“ zielt diese doppelte Verneinung von Macht (niemand solle keine Macht haben) auf Herrschaftsfreiheit in dem Sinne, dass alle Macht haben sollten. Der Kapitalismus zeichnet sich aber dadurch aus, dass es Privateigentum an Produktionsmitteln gibt und Privateigentum bedeutet die weitgehend alleinige (private) Macht, über die Produktionsmittel zu bestimmen. Diese Macht zirkuliert nicht zwischen den Produzierenden in dem Sinne, dass jede*r mal bestimmen kann, jede*r mal Chef*in sein kann; es gibt auch keine wirklichen Betriebsräte, die bestimmen, wie und was produziert wird, sondern in der Regel ist es eine einzelne Person oder eine Familie oder eine kleine Gruppe, die sagt, wo es lang geht. Das ist institutionalisierte Macht, also Herrschaft. Hinzu kommt noch, dass es hier nicht um einzelne Unternehmen geht. Die kapitalistische Produktionsform bestimmt nämlich die gesamte Gesellschaft, durchdringt alles wie ein Äther. Mit zahlreichen Unternehmer*innenverbänden haben sie enorme Macht und bestimmen die Richtung der Politik.
Eine Studie im Auftrag des Ministeriums für Arbeit und Soziales hat herausgearbeitet, dass Regierungsentscheidungen deutlich stärker von den Interessen der Reichen als von den Armen geleitet sind. Es gab sogar einen negativen Zusammenhang: wenn Arme Interessen artikuliert haben, wurden diese erst recht nicht umgesetzt.
Auch das Justizsystem ist ein Klassensystem zugunsten des Kapitals und der Reichen. Hier sind die Recherchen von Ronen Steinke interessant. Das Bildungssystem ist sozial selektiv, Arbeiter*innenkinder werden bereits mit zehn Jahren durch institutionalisierten Klassismus von Gymnasien ferngehalten, welche wiederum entscheidend sind als Sprungbrett für spätere Macht- und Herrschaftspositionen. Und wenn wir ein wenig vereinfacht sagen, dass Geld und Macht miteinander konvertierbar, austauschbar sind, dann bedeutet allein das Erbschaftssystem im aktuellen Kapitalismus, dass die Kinder in der ärmeren Hälfte der Bevölkerung machtloser sind, weil sie nichts erben, bei einem jährlichen Gesamterbe in Deutschland von 400 Milliarden Euro, worunter auch die intergenerationale Übergabe der Herrschaftspositionen in Familienbetrieben zählt.
Kapitalismus und Herrschaftsfreiheit schließen sich also aus. Der Begriff „Anarchokapitalismus“ bezeichnet somit etwas, was es nicht geben kann. Ein Oximoron – ein Widerspruch in sich.
Zumindest für die Demokratie scheint ein Vertreter des sogenannten Rechts“Libertarismus“ / „Anarchokapitalismus“, nämlich Peter Thiel, dieses Oximoron anzuerkennen: „The 1920s were the last decade in American history during which one could be genuinely optimistic about politics. Since 1920, the vast increase in welfare beneficiaries and the extension of the franchise to women — two constituencies that are notoriously tough for libertarians — have rendered the notion of ‚capitalist democracy’ into an oxymoron.“
Mit dieser Passage aus einem im April 2009 verfassten Text begründete der Paypal-Gründer Peter Thiel, warum er mit mehreren Millionen US-Dollar das Sea Steading Institute von Patri Friedman finanziell unterstütze. Friedman versucht seit 2008 Privatstädte zu gründen, auch sein Unternehmen Pronomos Capital wurde von Thiel und anderen Tech-Investoren wie Balaji Srinivasan (der Ende Oktober eine Tagung in Amsterdam zum „Network State“ zusammen mit Vitalik Buterin, dem Erfinder von Etherum organisiert) mitfinanziert. Patri Friedman ist der Enkel des neoliberalen Vordenkers Milton Friedman. Patri Friedmans Vater ist David Friedman, der 1973 mit „The Machinery of Freedom“ eines der ersten und einflussreichsten Bücher des sogenannten „Anarchokapitalismus“ verfasste. Patri Friedman sagte zu seiner Familiengeschichte in etwa: Sein Großvater habe den Kapitalismus neoliberal radikalisiert und für einen schlanken Staat mit wenig Steuern und wenig Sozialhilfe gesorgt, sein Vater habe das noch weiter radikalisiert und wollte den Staat komplett durch Privatunternehmen ersetzen und er, Patri Friedman, will das nun mit Privatstädten umsetzen.
Zurück zu Peter Thiel, der sich als „Libertarian“ bezeichnet und im Namen des „Libertarismus“ das Wahlrecht von Armen und von Frauen angreift. Eine Demokratie, in der diese beiden Gruppen etwas zu sagen haben, sieht er als Widerspruch zum Kapitalismus. Er verkehrt damit den Begriff „Libertarismus“ in sein komplettes Gegenteil. Erstmals wurde „Libertarismus“ als Strömungsbegriff in einem Artikel verwendet, der sich gegen die Frauenfeindlichkeit von Pierre Joseph Proudhon wandte. „Le l'être-humain mâle et femelle Lettre à P.J. Proudhon“ von Joseph Déjacque aus dem Jahr 1857 ist somit das Gegenteil von dem, was Thiel unter „Libertarismus“ zu verstehen scheint.
Während Anarchismus ein negativer Begriff ist in dem Sinne, dass etwas abgelehnt wird (Herrschaft), ist Libertarismus ein positiver Begriff, da mit ihm für Freiheit eingetreten wird. Vermeintlich sind auch die sogenannten Rechts“libertären“ oder Wirtschafts“libertären“ für Freiheit und zwar für die Freiheit, mit seinem Eigentum machen zu können, was man will. Allerdings ist Eigentum ein zweischneidiges Schwert. Ich erinnere an den Beginn von Ursula K. LeGuins „The Dispossed“. Ist der Weltraumhafen mit der Mauer drumherum eingeschlossen oder der Planet jenseits der Mauer? Eigentum ist Verfügungsgewalt, aber gleichzeitig ein Ausschluss aller anderen über die Verfügung dieses Dings. Eigentümer*innen sind frei, das Eigentum zu benutzen, alle anderen sind unfrei. Besitzt jemand einen Wald und zieht einen Zaun drumherum, ist die Person frei, im Wald herumzulaufen oder Holz zu hacken, alle anderen aber sind unfrei. Würde niemand den Wald für sich alleine beanspruchen, könnten alle darin herumlaufen. Eigentum steht also eher für Unfreiheit. Dies um so mehr in einer Gesellschaft, in der fast alles und immer mehr irgendwelchen Personen gehört und Zugänge und Verfügungen gekauft oder gemietet werden können. Das System von Geld und Eigentum schafft also Unfreiheit. Auch die zumindest teilweise sarkastische Bezeichnung „doppeltfreier Arbeiter“ von Karl Marx zielt auf diese Unfreiheit. Zwar seien die Arbeiter*innen von den Zwängen der feudalen Wirtschaft befreit, allerdings nur, um „frei“ für die Ausbeutung im Kapitalismus zu sein. Denn da sie über keine eigenen Subsistenzmittel verfügen, müssen sie das Geld verdienen, welches ihnen erst die Türen für eine Unterkunft öffnet. Im Prinzip ist in einer kapitalistischen Gesellschaft zunächst ALLES verschlossen und öffnet sich nur mit Schlüssel Geld. Nur vor dem Hintergrund des total verriegelten Kapitalismus macht es Sinn, Freiheit und Geld gleichzusetzen. Mit Freiheit hat dieses System nichts zu tun. Daher verbietet sich auch der Begriff „Libertarismus“ für diese Ideologie bzw. Bewegung.
Der Anarchist Murray Bookchin nannte daher die sogenannten „Libertarians“ treffend „Propertarians“. Und der französische Vermögenshistoriker Thomas Piketty bezeichnete die Ideologie, die im Manchesterkapitalismus Anfang des 19. Jahrhunderts vorherrschend war, als „sakralen Proprietarismus“. Das sind ungefähr die selben Begriffe und sie leiten sich ab vom lateinischen „proprium“, „Eigentum“. Piketty nannte diese Gesellschaft, die nach dem Feudalismus mit der Industrialisierung entstand, auch „Eigentümergesellschaft“, da das große Privateigentum der dominierende Faktor war. Arbeiter*innen hatten kaum Rechte, u.a. kein Wahlrecht, es gab keine Schulpflicht, stattdessen Kinderarbeit, keine soziale Absicherung, kein Gesundheits- oder Rentensystem für Arbeiter*innen usw..
In diesem System, in der Kapital sehr „frei“ war, zeigt sich die Unfreiheit der Arbeiter*innen. Jeden Tag zwölf Stunden zu arbeiten, ohne Urlaub, ist das komplette Gegenteil von Freiheit. Auch Kinderarbeit ist für die Kinder Unfreiheit.
Dieses System der Eigentümergesellschaft entspricht ungefähr den Vorstellungen der sogenannten Rechts“libertären“ bzw. „Anarchokapitalist*innen“. Zumindest Tomasz Froelich, einstimmig von der Jungen Alternative, dem Jugendverband der AfD, als Kandidat der JA für die Europawahlen nominiert, verteidigte den Manchesterkapitalismus und Kinderarbeit („Verbot von Kinderarbeit macht Kinder unfrei“). Er will die Schulpflicht andererseits abschaffen und das gesamte Bildungssystem privatisieren: Es müssen nicht alle Kinder zur Schule gehen, Lesen könne man sich auch an der Playstation beibringen. Auch Markus Krall, wie Tomasz Froelich Roland-Baader-Preisträger, der mit einer neuen rechten Partei in den Bundestag einziehen will, fordert die Abschaffung des öffentlichen Schulsystems. Schulen sollten ausschließlich von Eltern finanziert werden. Zugleich sollten sie dann keine Einkommenssteuern mehr zahlen müssen. Auch Krall hat eine interessant-skurrile Freiheits-Einstellung. Er fordert eine zusätzliche Wahlfreiheit für Menschen, die Geld vom Staat erhalten: Zukünftig sollten diese Menschen die Freiheit haben zu entscheiden, ob sie weiterhin Geld vom Staat oder Wahlrecht erhalten: Beides zusammen ginge nicht mehr, wenn Krall etwas zu sagen hätte. Dass Krall davon ausgeht, mit seiner neuen Partei bei der Bundestagswahl 2025 nicht nur in den Bundestag einzuziehen, sondern auf Anhieb über 20% und mit der AfD zusammen die absolute Mehrheit zu bekommen, ist nicht nur eine schlichte Wahnvorstellung. In Argentinien erreichte der Proprietarist Javier Milei bei den Präsidentschaftsvorwahlen 2023 auf Anhieb 30% und hängte damit die beiden größten etablierten Parteien ab. Milei will das Sozialsystem abschaffen und weitgehend auch die Steuern und er tritt für den „freien“ Organhandel ein. Was es bedeuten würde, wenn es überhaupt kein Sozialsystem mehr gibt, es dafür aber erlaubt sein sollte, für seine Familie innere Organe zu verkaufen, kann man sich ausmalen.
Leider übernehmen diese Proprietarist*innen immer stärker den Anarchismus- und Libertarismus-Begriff. HBO hatte vor kurzem eine Sendung über „The Anarchists“ gebracht. Es ging um Vorgänge im mexikanischen „Anarchopulco“ mit Drogenexzessen und einen Mord – dies alles hatte nichts mit dem Anarchismus eines Bakunin, Erich Mühsam oder einer Emma Goldman zu tun. Daher halte ich es für relevant, dass die anarchistische Bewegung sich kritisch mit diesem Proprietarismus – der für mich eher eine neue Form von Faschismus als irgendeine Spielart des Anarchismus ist – auseinanderzusetzen. Ich würde mich über eine Diskussion in der Graswurzelrevolution sehr freuen.
Andreas Kemper
Anmerkung:
* Der Begriff Proprietarismus bezeichnet ein politisch-ökonomisches System, das die Ungleichheit der Vermögen vergrößert, sowie eine Ideologie, die auf Eigentumsrechte fixiert ist, diese Ungleichheit fördert und ethisch-moralisch rechtfertigt.
Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 483, November 2023, www.graswurzel.net